Kapitel 1
»Und dann hat er angefangen zu schreien.«
Claire stocherte mit ihrer Plastikgabel konzentriert auf ihrem Pappteller herum, auf der Suche nach eßbaren Stücken in ihrem verkohlten Burrito. »Zu schreien?« fragte sie nach, ohne übermäßig interessiert zu klingen. »Wer?«
»Roderick Usher«, wiederholte Lorna mit einem verzweifelten Blick gen Himmel. »Mein Freund Worm.«
»Ach so, Worm. Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Hab ich doch!« stellte Lorna mit anklagendem Blick richtig. »Hast du mir überhaupt zugehört?«
»Aber natürlich«, verteidigte sich Claire. »Ich höre immer zu. Aber nach der Stelle, als der Regieassistent seinen Fuß durch das Diorama gesteckt hat, habe ich den Faden verloren.«
Claire schob ihren Teller mit einem dezenten Rülpser von sich weg und fragte sich zum x-tenmal, warum ein Abend mit Lorna eigentlich immer mit einem Essen in der Cotswold Cantina enden mußte. Zumal nicht wenige der Ansicht waren, daß Les, der Besitzer, sich besser auf die Herstellung von Mitteln gegen Verdauungsstörungen verlegen sollte. Damit würde er ein Vermögen machen.
Es war schon nach Mitternacht, und Claire und Lorna waren die letzten Gäste im Café. Wahrscheinlich hätten sie schon eine halbe Stunde zuvor den Heimweg angetreten, wäre nicht ein heulender Märzwind durch die Albion Street gefegt, der nasse Chipstüten aufwirbelte und an die Schaufenster klatschte. In Les' Cantina war es wenigstens warm.
Lorna wirkte beleidigt. »Wenn dich nicht interessiert, wie mein Stück gelaufen ist, warum sagst du das dann nicht?«
»Klar interessiert es mich.«
»Den Eindruck machst du nicht gerade.«
»Jetzt spiel nicht die Mimose und red endlich weiter!«
Es war wie eine Abmachung, die sie seit ihrer Schulzeit einhielten. Lorna gab zustimmende Geräusche von sich, während Claire sich darüber ausließ, wie sehr ihr neuester Job sie doch unterforderte, und im Gegenzug ließ Claire mitfühlend Lornas endloses Repertoire von Theater-Mißgeschicken über sich ergehen.
Trotz aller gegenteiliger Anzeichen war Lorna auf dem besten Weg, ein ganz großer Star zu werden. Auch wenn es ein langer, steiniger Weg war. Zehn Jahre war sie nun schon im Geschäft und noch immer am Lokaltheater von Cheltenham, wo sie Rollen als Ersatz für Schauspielerinnen einstudierte, von denen noch nie jemand etwas gehört hatte, und zwischendurch mal eine Fernsehrolle als Mordopfer bekam. Doch das alles tat ihrer Entschlossenheit keinen Abbruch.
Claire war da ein ganz anderer Typ. Sie hatte es noch in keinem Job länger ausgehalten als in ihrem gegenwärtigen - ganze fünfzehn Monate, und manchmal kam es ihr vor, als seien es bereits vierzehn zuviel. Nicht, daß sie keine gute Arbeit geleistet oder ihre Arbeit nicht gemocht hätte; sie trug einfach eine schreckliche innere Unruhe mit sich herum. In den sechs Jahren, seit sie von der Schule abgegangen war, hatte sie nie eine Aufgabe gefunden, die für sie eine echte Herausforderung dargestellt hätte.
Sie unterdrückte ein Gähnen und versuchte, Les' vielsagende Blicke auf die mit Fliegendreck verschmutzte Uhr einfach zu ignorieren. Normalerweise war sie um diese Zeit längst im Bett, und morgen hatte sie eine Tagung von Vertretern deutscher Biermarken zu organisieren, aber Lorna erwachte wie Draculas Braut erst nach Einbruch der Dunkelheit zum Leben.
»Also, wie war das noch mal«, nahm sie den Faden wieder auf, »Worm hat geschrien?«
»Klar hat er geschrien!« Lorna holte mit dem Arm aus, und sechzehn indische Armreifen klingelten im Chor. »Also, es ist Samstagnacht, und die eigentliche Darstellerin sitzt mit Durchfall auf dem Klo. Ich natürlich total aus dem Häuschen, ist doch klar; endlich kriege ich meine Chance, die Madeleine zu spielen. Alles läuft bestens, das Publikum frißt mir aus der Hand, und dann hat Worm, dieser Idiot ...« Sie schnaubte. »Das glaubst du mir nie.«
»Versuch's einfach.«
»Der Schwachkopf nimmt alles wortwörtlich. Wenn im Skript steht, er soll jemanden erschießen, verlangt er nach echten Patronen. Und was macht er diesmal? Nagelt sich doch glatt versehentlich an die Tür der Krypta, ob du's glaubst oder nicht.«
»Das gibt's doch nicht!«
»So wahr ich hier sitze. Hat natürlich geschrien wie am Spieß, überall Blut, massenweise Sanitäter ...«
»O Lorna ...«
»Natürlich mußte die ganze Vorstellung abgebrochen werden, und - hör sofort auf zu lachen, das ist gar nicht witzig!«
»Ich lache doch gar nicht.« Claire versuchte so krampfhaft, nicht zu lachen, daß ihr eine halbe Tasse Kakao in die Nase schoß. »Und mit diesem Verrückten lebst du im selben Haus?« Sie nahm Zuflucht zu einer Papierserviette. »Ich hoffe bloß, du bewahrst deine scharfen Messer sicher auf.«
Lorna räusperte sich. »Warte nur, bis du selber ein größeres Trauma hast und dich an meiner Schulter ausweinen möchtest.«
»Ich habe aber keine Traumata«, erinnerte Claire sie. »So was ist reine Zeitverschwendung.«
»Immerhin hast du Kieran«, schoß Lorna zurück.
Claire lachte. Sie war erst seit ein paar Wochen mit Lornas Mitbewohner zusammen. Sie hatten eine so lose Beziehung, daß es ihr schwerfiel, ihn als ihren Freund zu betrachten - besonders nach dem dummen Streit an diesem Abend. »Kieran? Der ist kein Trauma, der ist ein ... ein ...«
»Auch so eine Zeitverschwendung?«
Claire dachte nach. »Einfach nur ein Kerl. Und du weißt ja, wie das ist mit mir und den Männern. Früher oder später gehen sie mir auf den Keks oder langweilen mich.«
»Und in welche Kategorie fällt Kieran?« fragte Lorna.
»Ich halte dich auf dem laufenden.« Claire hielt die Tasse mit dem Rest ihrer heißen Schokolade in beiden Händen. »Jedenfalls mag ich mein Leben so, wie es ist. Männer sind ja ganz süß, aber...«
Lorna blinzelte zweideutig. »Aber warum soll man sich mit einem Mars-Riegel zufriedengeben, wenn man den ganzen Süßwarenladen haben kann?«
»Lorna Walsh, du bist wirklich unmöglich.«
»Und du bist ein echter Glückspilz. Du hast einfach alles: Jede Menge Geld, eine kostenlose Wohnung in einer riesigen Villa, und dann lernst du auch noch all die geilen Rockstars kennen.«
»Stimmt schon«, gab Claire zu. »Aber vergiß nicht die Vertreter und die pickligen Azubis, die dir an den Hintern grapschen wollen. Ich organisiere schließlich nicht nur Open-Air-Rockkonzerte - und außerdem würde es dir furchtbar auf den Geist gehen, ständig irgendwelche Leute bauchpinseln zu müssen.« Sie kicherte. »Andererseits würde es dir natürlich Spaß machen, wenn mal was so richtig in die Hose geht.«
»Was soll denn das jetzt wieder heißen?«
»Daß es dir erst gutgeht, wenn du mitten in der Krise steckst.«
Lorna warf sich ihren Seidenschal über die Schulter. »Das ist eine gemeine Lüge.«
»Ähem«, tönte es dezent vom Tresen herüber. Claire drehte sich um. Les Lynch unternahm erbärmliche Versuche, mit einem Geschirrtuch eine Fliege zu erschlagen, die irgendwie der Insektenlampe entkommen war. »Wollt ihr zwei heute noch nach Hause, oder soll ich euch Kissen und Decken besorgen?«
Die Uhr an der Wand zeigte null Uhr fünfundzwanzig.
»Oho.« Claire fischte in ihrer Tasche nach einer Zehn-Pfund-Note. »Ich glaube, wir werden gleich rausgeschmissen.«
»Ich bin mit dem Zahlen dran«, verkündete Lorna prompt und begann, in ihrer Webpelztasche zu wühlen.
»Du hast doch gesagt, du hättest nur noch fünf Pfund, die bis nächsten Dienstag reichen müssen.«
»Ja, schon, aber vielleicht hab ich hier drin ja noch ein bißchen Kleingeld.«
»Also gut, du kannst es mir ja wiedergeben.« Sie führten diese Unterhaltung jede Woche aufs neue, sinnierte Claire; sie hätte sie Wort für Wort wiederholen können. Mittlerweile schuldete Lorna ihr wahrscheinlich um die drei Millionen, aber so waren die Schauspieler eben. Sie ging zum Tresen und knallte Les den Schein hin.
»Hat's geschmeckt, die Damen?«
»Nein«, antwortete Claire fröhlich. »War das eigentlich Spülmittel in den Chimichangas?«
»Schon möglich«, räumte Les ein. »Entweder das oder die original mexikanische Kräuter- und Gewürzmischung.«
»Eher Spülmittel«, meinte Lorna, nahm Claires Wechselgeld und steckte es in die Tasche. Dann folgte sie Claire auf die Straße. Riesige Regentropfen platschten auf den Gehsteig, und die beiden Freundinnen blieben einige Minuten unter der Markise stehen. »Kommst du noch kurz mit zu mir?« fragte Lorna. »Oder bist du noch immer wütend auf Kieran?«
Claire überlegte. Es war schwer, auf Kieran wütend zu sein, zumal er es ohnehin kaum zu bemerken schien. Aber das war eben das Problem mit den Männern: Waren sie intelligent genug, um zu kapieren, womit sie dich verärgert hatten, glaubten sie meistens, sie hätten das Recht, dein ganzes Leben in die Hand zu nehmen. Deshalb hatte der Spaß so oder so bald ein Ende.
»Also gut«, sagte Claire. »Ich fahr dich nach Hause. Aber ich setze mich nicht in diesen Sessel mit der kaputten Sprungfeder.«
»Du bist verdammt hart im Verhandeln, Claire Snow.«
Obwohl Claire so nah wie möglich am Jardine Crescent parkte, waren sie und Lorna völlig durchnäßt, als sie endlich das kaputte Tor, das holprige Pflaster und die stachligen Brombeerranken, die zwischen den lange nicht mehr zurückgeschnittenen Sträuchern herausragten, hinter sich gelassen hatten.
Das Haus Nummer sechzehn wirkte, als wolle es sich für seine Existenz entschuldigen. Obwohl von der Bauweise her identisch mit all den anderen Häusern im viktorianischen Stil, zog es sofort alle...