Schweitzer Fachinformationen
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Kurz bevor er Selbstmord beging, verwandelte Jorge Barón Biza die Katastrophe im Zentrum seines Lebens in ein literarisches Meisterwerk. In Die Wüste und ihr Samen beschwört er einen radikalen Formverlust, findet einen einzigartigen Ausdruck, eine Sprache zwischen Ruin und Sehnsucht. Dieser Roman führt in eine Sphäre, in der Linien, Konturen, Grenzen keinen Halt mehr geben und vom Menschsein nichts bleibt als ein Schwindel.
Beim Unterschreiben der Scheidungspapiere schüttet der Vater der Mutter Säure ins Gesicht. Der gemeinsame Sohn ist anwesend, es ist der Sommer 1964, Argentinien steht politisch kurz vor dem Kollaps, und er beginnt zu erzählen. Von den hilflosen Versuchen der ersten Minuten, den Schaden zu begrenzen, von der seltsamen Erleichterung, als er erfährt, dass sich der Vater eine Kugel in den Kopf geschossen hat, von der Reise an der Seite der Mutter nach Mailand zu einem Spezialisten, von seiner ganz persönlichen Höllenfahrt durch Bars und Bordelle. Und eben immer, immer, immer wieder vom Gesicht der Mutter, dieser sonderbaren Masse Fleisch, die auseinander, ineinander, übereinander läuft und in den sonderbarsten Farben leuchtet.
Noch unmittelbar nach der Attacke bot Eligias Gesicht einen rosigen und ebenmäßigen Anblick, dann aber begann sich zusehends das Muskelgewebe zu kräuseln, das trotz ihrer siebenundvierzig Jahre und einer früheren Schönheitsoperation, mit der ihre jugendliche Nase zur Stupsnasigkeit verkürzt worden war, ausgesprochen sanfte Konturen gezeigt hatte. Dieser gezielte kleine Eingriff damals, der ihrer Starrköpfigkeit mehr als drei Jahrzehnte lang den aufgesetzten Ausdruck von Verwegenheit verliehen hatte, wurde zu einem Symbol des Widerstandes gegen die großen Veränderungen, die jetzt die Säure bewirkte. Ihre Lippen, die Fältchen um die Augen und das Profil der Wangen verwandelten sich in einer funktionswidrigen Kadenz: Rundungen entstanden, wo es früher keine gegeben hatte, und sie korrespondierten mit dem Verschwinden einer Kontur, die bislang ein unverwechselbares Merkmal ihrer Identität gewesen war.
Eligias arglos sinnliches Gesicht nahm Abschied von seinen Formen und Farben. Unter ihren ursprünglichen Zügen entstand ein neues Gebilde: nicht ein geschlechtsloses Gesicht, wie Arón es gewollt hatte, sondern eine neue Wirklichkeit, von der Verpflichtung entbunden, einem Gesicht zu ähneln. Eine andere Schöpfung trat in Kraft, ein System, das unbekannten Gesetzen gehorchte.
Wer sie im August, September, Oktober und November des Jahres 1964 täglich sah, musste den Eindruck gewinnen, dass sich die Materie ihres Gesichts vom Willen seiner Trägerin vollständig emanzipiert hatte, dass es sich in beliebig neue Formen verwandeln, in die vielen Schattierungen dramatischer Sonnenuntergänge verfärben und in alle Richtungen davontanzen konnte, während im Zentrum ihre kokette Nase als der einzige künstliche Bestandteil des ursprünglichen Gesichts die Stellung hielt.
Es war eine bewegte und buntscheckige Phase des Fleisches, eine Zeit der Eigenmächtigkeiten, in der die von jeder Form gelösten Farben an die verschwommenen Passagen erinnerten, die Filmemacher einschieben, um das Unbewusste seinem stupidesten und naivsten Verständnis entsprechend zu veranschaulichen. Diese Farben ließen alle Kultur hinter sich und verhöhnten jeden medizinischen Versuch, der sie auf ein wie auch immer geartetes Ordnungsprinzip hätte zurückführen wollen.
Während der Fahrt von Aróns Wohnung in die Klinik - im Wagen des Anwalts, der uns vor dem Treffen versichert hatte, es könne nichts Schlimmes passieren - riss Eligia sich die durchnässte, brennende Kleidung vom Leib. Die Reflexionen der Neonlichter huschten über ihren Körper. In der Straße mit den Kinos mussten wir an einer Ampel halten, wo eine Menschenmenge trotz unseres Hupens in aller Ruhe die Fahrbahn überquerte. Vereinzelt glotzten Leute in den Wagen, unsicher, ob bei uns erotische oder sinistre Dinge im Gange waren. Das flackernde, flirrende Licht fiel in kalten Akkorden auf das Blech des Wagens und auf Eligias Körper. Im Kino an der Ecke lief Irma la Douce, das riesige Porträt Shirley MacLaines umrahmt von roten und violetten Blumengirlanden: Shirley im knappen Röckchen - wie sie damals nur die Prostituierten trugen -, mit baumelndem Handtäschchen am Arm.
Eligia schrie nicht. Sie riss sich die Kleidung herunter und stöhnte leise. Es wäre mir lieber gewesen, sie hätte gebrüllt, vielleicht hätten dann einige Fußgänger aufgehört, so dumm oder lüstern zu grinsen, und uns durchgelassen. Aber Eligia stöhnte bloß mit geschlossenem Mund, riss sich die säuregetränkte Kleidung vom Leib und verätzte sich dabei auch die Handflächen, die zu den wenigen von der tückischen Flüssigkeit verschont gebliebenen Körperpartien gehörten. Mit den Handrücken hatte sie einiges von der Säure abwehren können, die Arón ihr in die Augen zu kippen versuchte - er wollte, dass sie erblindete und sein Bild sich ihr als letzter Eindruck einprägte -, eine blitzschnelle Verteidigungsgeste, in der sich die argwöhnische Unruhe verriet, mit der sie an dem Termin teilgenommen hatte; doch unterwegs in die Notaufnahme verätzte sie sich mit ihrem feurigen Striptease auch die anfangs nicht betroffenen Handflächen.
Ich kannte sie damals nicht besonders gut, empfand aber immer eine eigenartige Zärtlichkeit, für sie, die so engagiert war, so fleißig, mit ihrer schlichten Kleidung, ihrer ganzen Pädagogik. Sie trug schon immer kurze Haare, zum Zeichen, dass sie eine moderne Frau war, und um ihr kräftiges Kinn und die vollen Lippen zur Geltung zu bringen. Stets hatte sie einen Hauch Rouge aufgetragen, der die Sinnlichkeit ihres Mundes vertuschte. In ihrem ursprünglichen Gesicht gingen schwere Lider über ihren Augen nieder, ihr Blick aber war wach und voller Lebendigkeit. Sie war immer stolz auf ihre hohe Stirn gewesen und versuchte, sie durch ihre Frisur noch mehr zu betonen.
Ihr Gesicht war der Ort, wo sich ihre Geschichte, das Blut der Presotto - arme italienische Einwanderer -, ihr hartnäckiger Glaube an die Vernunft und ihre Wissbegierde am deutlichsten abzeichneten. Doch diese Konstanten ihres Gesichts waren eben dabei sich aufzulösen.
Wir waren beide wortkarg. Meine Kindheit hindurch stand alltags die polnische Hauslehrerin zwischen uns. Eligia war anderweitig beschäftigt, mit ihrer Forschung und der Politik. Aber in meiner Jugend wurde mir klar, dass nicht alle Versäumnisse der Hauslehrerin angelastet werden konnten. Als wir im Exil in Montevideo lebten und ich auf ein deutsches Internat ging, war Eligia ja schon nicht mehr bei uns. An den Wochenenden kam sie mich gelegentlich besuchen, und die Fragen, die ich ihr dann stellte, blieben in der Schwebe. Sie hörte mir zwar zu, lächelte schwach oder wandte mir sogar den Kopf zu, aber sie antwortete nicht oder nur das Nötigste oder mit einer Gegenfrage: »Warum magst du denn keine Geisteswissenschaften?«, »Lernst du hier Latein?« oder »Ich weiß nicht«. Ich empfing diese Antworten wie unfertige Figuren, als würde etwas zwischen uns unvollständig bleiben.
Mit vierzehn Jahren kehrte ich aus Montevideo nach Argentinien zurück. Mit achtzehn, als Eligia und Arón sich ein weiteres Mal trennten, beschloss ich, bei Arón in der Hauptstadt zu bleiben. Sie dagegen folgte einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Geschichte der Pädagogik in Córdoba, der Provinz, aus der sie stammte, und von da an sahen wir uns nur noch in großen Abständen.
Sie saß auf dem Beifahrersitz, stöhnte, ohne zu schreien, und das war nicht meine Schuld: Ich hatte sie gewarnt, dass Arón sich in den letzten Jahren, in denen er mit mir zusammenlebte und länger von ihr getrennt war als während ihrer früheren Trennungen, in ein gefährliches Wesen verwandelt hatte.
Ich beugte mich über ihre linke Schulter und tupfte ihr mit meinem Taschentuch ein paar Tropfen Schweiß oder Säure ab, und der Stoff färbte sich gelb, als sei die Baumwolle zu Seide geworden. Die Schatten der Nacht verbargen diese Hälfte ihres Gesichts mit einem dunkelvioletten Schleier, in dem das Weiß ihres Auges glomm, das durch die Windschutzscheibe nach einem Ziel dieser schmerzvollen Reise Ausschau hielt. Als ich mich in meinen Sitz zurückfallen ließ, konnte ich im Rückspiegel von ihrem Gesicht nur das dunkel umschattete, auf einen fernen Punkt gerichtete Weiß ihres Auges sehen, auf dessen unterem Lid eine leuchtend purpurfarbene Quaste blühte, wie in einem Trickfilm, wo auf groteske Weise ein übernächtigtes Tierchen dargestellt werden soll. Die übrigen Regionen ihres Gesichts waren ein Geheimnis, das in der Dunkelheit schwelte.
Nach einigen angespannten Momenten beugte ich mich wieder zu ihr vor, diesmal über ihre rechte Schulter. So konnte ich die andere, vom Kinovordach herab beschienene Hälfte ihres Gesichts betrachten, die sich wegen der Lichtwechsel deutlich von der im Schatten liegenden Hälfte abhob. Auch das dem Neonlicht ausgesetzte Auge wirkte starr und auf ein fernes Ziel gerichtet. Ich flüsterte ihr zu: »Wir sind gleich da!«, obwohl weder sie noch ich den Anwalt am Steuer gefragt hatten, wohin wir eigentlich fuhren. Auf ihrer Wange bemerkte ich ein pastoses Gelb und einen zweiten Fleck derselben Farbe zwischen ihren Augenbrauen, der bis an den Rand der Dunkelheit reichte und sich vermutlich auf der anderen Gesichtshälfte weiter ausbreitete. Die übrige vom Licht beschienene Gesichtshälfte bestand aus scharf gegeneinander abgesetzten Purpurtönen.
Ich stieg aus, um die Menge zu vertreiben. Was mir nicht gelang. Als ich durch...
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