2. Kapitel
Mit Friedhöfen kenne ich mich nicht so aus, schließlich gehöre ich nicht zur Schwarzen Szene. Doch als ich von Beas Beerdigungstermin erfuhr, ging ich selbstverständlich hin. Dabei lag mir nichts an der Zeremonie; ich hoffte, einen Hinweis auf Beas Mörder zu finden. Vielleicht ließ er sich ja sogar unter den Trauernden sehen, um sich am Endergebnis seiner Bluttat zu ergötzen?
Natürlich war der grausame Mord auch ein gefundenes Fressen für die Medien. Einige Pressegeier waren sogar bis zu unserer WG vorgedrungen. Zum Glück hatte die Journaille nicht mitgekriegt, dass ein weiterer Mitbewohner aufgrund von Brandanschlägen auf Autos im Hospital lag. Arnes Kumpels waren natürlich nicht so dämlich gewesen, der Polizei davon zu erzählen. Und die Kosovo-Albaner erstatteten offenbar auch keine Anzeige wegen der kaputten Nobelkarre. Sie hatten ja bewiesen, dass sie die Sache lieber auf ihre Art regelten.
Jedenfalls gab es ein paar Pressefotografen, die um die Trauergemeinde herumschwirrten. Ich konnte mich noch nicht dazu aufraffen, in die Kapelle zu gehen. Außerdem graute mir vor dem Anblick des Sargs. Was der Pfarrer wohl von sich geben würde? Ich hatte jedenfalls meine eigene Trauerrede, die ich in meinem Kopf formulierte und ständig überarbeitete. Nervös paffte ich eine Zigarette. Das Nikotin war Balsam für meine flatternden Nerven.
Es gab ein paar rüstig wirkende Rentner in schwarzen Anzügen, die als Sargträger fungieren sollten. Einer von ihnen gesellte sich an einem Marmor-Aschenbecher neben der Kapelle zu mir und steckte sich eine Kippe an. Sein Schädel sah aus wie von Ernst Barlach geschnitzt. Und sein Dialekt verriet ihn als einen Ur-Hamburger. „Ohlsdorf ist Europas größter und ältester Parkfriedhof, junger Mann. Wussten Sie das?“
„Nein.“
„Ist aber Tatsache. Hier haben viele Berühmtheiten ihre letzte Ruhestätte gefunden. Hans Albers, Gustav Gründgens, Wolfgang Borchert ...“
„Wer war denn Wolfgang Borchert?“ Das interessierte mich nicht wirklich. Aber ich stellte die Frage, weil dieser Typ zufällig denselben Nachnamen hatte wie ich.
Der betagte Sargträger hob seine buschigen Augenbrauen. Er schien mein Nichtwissen als persönliche Beleidigung aufzufassen. „Das war einer der größten Dichter Hamburgs, er hat Draußen vor der Tür geschrieben. Sie sind wohl nicht von hier?“
Ich schüttelte den Kopf. Plötzlich wurde mir klar, dass ich mir alles viel zu einfach vorgestellt hatte. Ich hatte geglaubt, nach ein paar Wochen im Schanzenviertel und einigen Partys auf St. Pauli ein waschechter Hamburger zu sein. In Wirklichkeit war diese Stadt ein Moloch, der die süße Bea einfach verschlungen hatte. Und ich wusste überhaupt nicht, wo ich dieses Metropolenmonster packen sollte.
Der Rentner stupste mich an. „Es geht gleich los, junger Mann.“
Ich drückte meine Zigarette aus. Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Die Friedhofskapelle war nur mäßig besucht. Ich kannte keinen einzigen Anwesenden. Vanessa hatte ihren Job vorgeschoben, um nicht an der Beerdigung teilnehmen zu müssen. Außerdem behauptete sie, derartige Totenfeiern nicht ertragen zu können. Das glaubte ich ihr aufs Wort. Und Arne lag immer noch im Koma. Ich wollte ihn im Krankenhaus besuchen, wenn ich mein Leben wieder auf die Reihe kriegte. Momentan musste ich erst mal diese Zeremonie überstehen. Der Sarg war zum Glück bereits geschlossen. Der Anblick von Beas zerstörtem Gesicht hatte sich jedoch in meine Seele gefressen. Zwar würden diese Beerdigungsfritzen sie wieder aufgehübscht haben; aber das änderte nichts daran, was dieser Dreckskerl mit ihr angestellt hatte.
In der ersten Kirchenbank saß eine geschlossene Gruppe von sieben oder acht Leuten. Das waren offenbar Beas Eltern sowie irgendwelche weiteren Verwandten. Für einen Moment blieb mir fast das Herz stehen, als ein Mädchen in der ersten Reihe sich halb umdrehte. Ich glaubte, Bea vor mir zu sehen. Aber dann begriff ich, dass es ihre jüngere Schwester sein musste. Sie trug im Gegensatz zu Bea keine Rastalocken und war höchstens sechzehn Jahre alt. Trotzdem, die Ähnlichkeit war schockierend. Am liebsten hätte ich schon wieder eine Zigarette gequalmt, aber dann würde ich garantiert den Anfang verpassen. Orgelmusik brauste auf. Da ich keine Ahnung von Klassik habe, kannte ich das Stück nicht. Ich ließ die Klänge über mich ergehen und konzentrierte mich auf die übrigen Anwesenden. Einige junge Frauen saßen schräg vor mir. Ihre schwarzen Klamotten sahen stark nach Second-Hand-Laden aus. Die Mädels waren gewiss Freundinnen von Bea. Ich glaubte, eine oder zwei von ihnen schon mal kurz in unserer WG gesehen zu haben. Aber die Namen waren nicht in meinem Gedächtnis haften geblieben. Dann gab es noch ein paar ältere Leute, die ich überhaupt nicht zuordnen konnte. Waren es entfernte Verwandte? Oder Angestellte von der Universitäts-Verwaltung? Dozenten von Bea? Ich wusste nicht, wie ernst sie ihr Studium genommen hatte. Zwei Personen fielen völlig aus dem Rahmen. Eine Frau und ein Mann, die in der letzten Reihe ganz links saßen. Ich selbst hatte mich rechts in die Kirchenbank fallen gelassen, zwischen uns war also der Mittelgang. Beide waren für eine Beerdigung völlig korrekt angezogen. Doch die Frau wirkte so, als würde sie stets und ständig in schwarzen Klamotten herumlaufen. Doch zur Gothic-Szene gehörte sie nicht, dafür war sie einfach zu alt. Älter als ich, soviel stand fest. Aber ob sie dreißig oder fünfzig war, hätte ich unmöglich sagen können. Das Haar war schwarz, aber es konnte natürlich auch gefärbt sein. Ihr Gesicht wurde durch die hohe Stirn und die karmesinroten Lippen geprägt. Das Kinn hatte sie nach vorne geschoben, als ob sie auf Ärger aus wäre. Aber vielleicht sah das auch nur so aus; ich konnte sie ja nur von der Seite betrachten. Ihre Figur war unter einem fast bodenlangen schwarzen Mantel verborgen.
Der Mann wirkte auf mich wie ein St. Pauli-Türsteher. Solche Typen gibt es in Nordhorn nicht, ich hatte sie erstmals in Hamburg gesehen. Sein Schädel war kahlrasiert. Obwohl er saß, ahnte man, dass er riesig und breitschultrig sein musste. Seine Augen waren sehr hell. Als er meinen Blick erwiderte, schlug ich schnell die Augen nieder. Er flüsterte der Frau etwas ins Ohr. Sie machte eine Geste mit ihrer schwarz behandschuhten Rechten. Leider hatte ich keine Ahnung, was diese Gebärde bedeuten sollte. Ich zermarterte mir das Gehirn. Aber mir fiel nichts ein, was dieses seltsame Paar mit Bea verbinden konnte.
Außer ihrem Tod!
Diesen Glatzenbrutalo konnte ich mir problemlos als Mörder vorstellen. Und die Frau sah auch nicht so aus, als ob sie ihre Freizeit in der evangelischen Familienbildungsstätte bei einem Batik-Kursus verbringen würde. Das Duo kam mir verdammt verdächtig vor. Doch bevor ich diesen Gedanken weiterspinnen konnte, trat der Pfarrer an die Kanzel. Im ersten Moment glaubte ich, es wäre der Kripobulle in einer Soutane. Aber dann sah ich, dass der Geistliche doch etwas anders aussah als Hauptkommissar Hoffmann. Trotzdem, die beiden hätten in ihrer nichtssagenden Austauschbarkeit Zwillinge sein können.
Das Blut rauschte in meinen Ohren wie die Kaskaden der Wasserspiele auf der Außenalster. Daher drangen nur Teile der Predigt in mein Bewusstsein. „Es hat dem Herrn nicht gefallen, ein junges Leben aus unserer Mitte zu reißen.“
Dem Herrn? Ich nehme an, dass der Schwarzrock damit seinen Gott meinte. Ich bin nicht religiös, war seit meiner Konfirmation nicht mehr in der Kirche. Ich wusste auch nicht wirklich, ob es Gott gab. Das war eine Frage, die mir kein Kopfzerbrechen bereitete. Aber der Satan existierte. Daran hatte ich seit den grässlichen Minuten im gerichtsmedizinischen Institut keinen Zweifel mehr. Allerdings stellte ich mir den Dämon nicht als bocksfüßigen Kinderschreck mit Hörnern und einem Dreizack vor. Und ich glaubte auch nicht, dass er in den Schwefelklüften der Hölle hauste, sondern irgendwo in Hamburg. Vielleicht saß er ja wenige Meter von mir entfernt in der Friedhofskapelle.
Ob dieser kahlrasierte Schlägertyp Bea so zugerichtet hatte? Wenn ja, dann würde ich ihn töten. Er war gewiss viel stärker als ich. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und: Des Menschen Wille, das ist sein Glück. Dieses Schiller-Zitat gehörte zu den wenigen Sätzen, die mir aus dem Deutsch-Leistungskurs im Gedächtnis geblieben waren. Ich wollte Bea um jeden Preis rächen. Ein größeres Glück konnte ich mir momentan nicht vorstellen.
„Der Schmerz Ihres Verlustes wird Ihnen die Erinnerung an die schönen Zeiten mit Beate nicht nehmen können.“ Mit diesen Worten wandte sich der Pfaffe nun an die Familie. Ich stellte meine Ohren auf Durchzug, was mir nicht weiter schwerfiel. Was sollten Beas Eltern mit diesem salbungsvollen Gewäsch anfangen? Am liebsten hätte ich den Popen niedergebrüllt, aber zum Glück konnte ich mich in diesem Moment beherrschen. Wenn ich jetzt ausrastete, würden sich alle Blicke auf mich richten. Und dann hatte ich verloren. Dann war es vorbei mit meiner Unauffälligkeit. Ich hatte vor, das verdächtige Paar nach der Beerdigung zu verfolgen. Und das konnte mir nur gelingen, wenn ich mich im Hintergrund hielt.
Es kam mir so vor, als wenn die Predigt niemals enden würde. Ich sehnte mich nach einer Zigarette. Einige...