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Ultimo hieß so, weil er das erste Kind war.
»Das ist der Letzte«, hatte seine Mutter sofort erklärt, als sie nach der Entbindung wieder zu sich gekommen war.
So wurde er Ultimo.
Anfangs schien er nichts davon wissen zu wollen. In seinen ersten vier Lebensjahren machte er alle erdenklichen Krankheiten durch. Man ließ ihn dreimal taufen: Der Priester brachte es nicht über sich, einem so kleinen Wesen mit solchen Augen die Letzte Ölung zu spenden. Darum entschied er sich jedes Mal für die Taufe, nur um nicht wegzugehen, ohne ein Sakrament ausgeteilt zu haben.
»Schaden kann es nicht.«
Tatsächlich kam Ultimo jedes Mal mit dem Leben davon: klein, mager, bleich wie ein Bettlaken, aber lebendig. Er hat ein starkes Herz, sagte der Vater. Er hat Schwein, sagte die Mutter.
Darum lebte er, als er im Alter von sieben Jahren und vier Monaten im November 1904 vom Vater in den Stall geführt wurde. Hier zeigte der Vater ihm die sechsundzwanzig Fassone Rinder, die sein ganzer Reichtum waren, und teilte ihm mit, dass er es Mama noch nicht sagen dürfe, aber sie stünden kurz davor, sich ein für alle Mal von diesem Riesenhaufen Mist zu befreien.
Er machte eine weit ausholende, ziemlich feierliche Gebärde, die den ganzen dunklen, stinkenden Raum umfasste. Dann skandierte er sehr langsam: »Garage Libero Parri.«
Libero Parri war sein Name. Garage war ein französisches Wort, das Ultimo noch nie gehört hatte. Im ersten Augenblick dachte er, es müsse so etwas bedeuten wie »Viehzucht« oder allenfalls »Molkerei«. Aber worin die Neuigkeit bestand, begriff er nicht.
»Wir werden Automobile reparieren«, erklärte ihm der Vater lapidar.
Das war wirklich eine Neuigkeit.
»Es gibt noch keine Automobile«, bemerkte die Mutter, als sie schließlich eines Abends im Bett, bei gelöschtem Licht, über die Sache informiert wurde.
»Das ist nur noch eine Frage von ein paar Monaten. Dann wird es sie geben«, belehrte sie Libero Parri, ihr Mann, und schob die Hand unter ihr Nachthemd.
»Das Kind.«
»Kein Problem, auch für ihn wird es Arbeit geben, er wird es lernen.«
»Das Kind ist hier, nimm die Hand weg.«
»Ach ja«, sagte Libero Parri, denn nun erinnerte er sich, dass sie im Winter alle im selben Zimmer schliefen, um bei den Öfen zu sparen.
Sie blieben eine Weile so liegen, in einer leichten kommunikativen Flaute.
Dann fing er wieder an. »Ich habe mit Ultimo darüber gesprochen. Er ist einverstanden.«
»Mit Ultimo?«
»Ja.«
»Ultimo ist ein Kind, er ist sieben Jahre alt, wiegt einundzwanzig Kilo und hat Asthma.«
»Was hat das damit zu tun, er ist ein besonderes Kind.«
In der Familie gab es diese Vorstellung, dass er ein besonderes Kind war. Wegen all der Krankheiten und anderer Geschichten, die schwer zu erklären waren.
»Solltest du nicht eher mit Tarin darüber sprechen?«
»Er würde es nicht verstehen. Er ist wie die anderen, hat nur den Boden im Kopf, Boden und Tiere, er würde mich für verrückt erklären.«
»Vielleicht hätte er recht.«
»Nein, er hätte nicht recht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Er ist aus Trezzate.«
In dieser Gegend war das ein unanfechtbares Argument.
»Dann sprich mit dem Priester.«
Dass Libero Parri kein Atheist und Sozialist war, lag nur am Zeitmangel. Er hätte ein paar Stunden Zeit finden müssen, um sich ein wenig zu informieren, dann wäre er einer geworden. Einstweilen hasste er die Priester.
»Andere Ratschläge?«, fragte er.
»Ich habe nur Spaß gemacht.«
»Nein, hast du nicht.«
»Ich schwöre dir, es war nur Spaß«, und sie steckte eine Hand in die Hose ihres Mannes. Das war etwas, was sie gern tat.
»Das Kind«, murmelte Libero Parri.
»Tu so, als ob nichts wäre«, schlug sie vor.
Sie hieß Florence. Ihr Vater, ein Franzose, war jahrelang durch Italien gereist und hatte einen von ihm erfundenen Damenschuh verkauft. Im Grunde war es ein normaler Schuh, an dem man jedoch bei Bedarf einen Absatz befestigen konnte. Mit Hilfe eines sehr praktischen Systems von Spannstangen ließ sich der Absatz anbringen und abnehmen. Der Vorteil bestand darin, dass man mit einem einzigen Paar Schuhe eigentlich zwei Paar hatte, eines für die Arbeit und eines für den Abend. Nachteile gab es seiner Meinung nach nicht. Einmal war er in Florenz gewesen, und es hatte ihn geradezu verhext. Darum hatte er seiner ersten Tochter diesen Namen gegeben. Übrigens hatte er sich auch in Rom eine ganze Weile vergnügt, und so nannte er den Sohn, der ein Jahr später kam, Romeo. Dann driftete er in shakespearesche Gefilde ab, und von da an gab es nur noch Namen wie Giuliette, Riccardi und dergleichen mehr. Man sollte immer genau darauf achten, wie die Leute Namen aussuchen. Sterben und Namen geben - wahrscheinlich tut man sein ganzes Leben lang nichts, was ehrlicher wäre.
Florence vervollständigte das Werk, indem sie unter die Decke schlüpfte und es mit dem Mund zum Abschluss brachte. Diese Praxis galt eigentlich als nicht schicklich für eine Ehefrau, doch in dieser Gegend sagte man dazu »auf Französisch Liebe machen«, und darum fühlte sie sich dazu berechtigt.
»Hab ich Lärm gemacht?«, fragte Libero Parri hinterher.
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht.«
»Hoffentlich.«
Ultimo hätte ohnehin nichts gehört, denn physisch lag er zwar in seinem Bett dort hinten im Zimmer, aber mit dem Kopf war er auf der Straße zum Fluss geblieben, in einem Tag vor zwei Wintern. Er stand an der Seite seines Vaters, und sie warteten. Frühmorgens. Die Felder noch knisternd vom nächtlichen Raureif im Licht einer gutwilligen Sonne. Er hatte sich einen Apfel von zu Hause mitgenommen, als Proviant, und jetzt polierte er ihn am Ärmel seines Mantels. Sein Vater rauchte und sang vor sich hin. Sie waren zu Fuß bis zur Abzweigung nach Rabello gegangen, und dort warteten sie jetzt.
»Wohin bringst du ihn?«, hatte seine Mama gefragt.
»Das sind Männersachen«, hatte Libero Parri geantwortet, und von dem Zeitpunkt an hatte Ultimo nichts mehr wissen wollen, denn wenn man fünf Jahre alt ist und der Vater einen mitnimmt, auf diese Weise, ist man einfach nur glücklich. Darum war er bis zur Abzweigung nach Rabello hinter ihm hergetrabt. Er hatte es getan, ohne zu wissen, dass ihm als Erwachsener dieses Bild unzählige Male vor Augen stehen würde, genau dieses: der wuchtige Umriss des Vaters, der mit langen Schritten vor ihm herging, gegen die aufsteigenden Morgennebel, ohne sich je umzudrehen, weder um auf ihn zu warten, noch um zu kontrollieren, ob er noch da war. In diesem Ernst, in dieser völligen Abwesenheit von Zweifeln lag alles, was sein Vater ihn über das Vatersein gelehrt hatte. Es bedeutet, vorausgehen zu können, ohne sich je umzudrehen. Mit dem schnellen Schritt der Erwachsenen gehen, ohne Mitleid, aber mit einem klaren, regelmäßigen Schritt, damit ein Sohn diesen Gang erkennen und mithalten kann, trotz seiner Kinderbeine. Und sich dabei niemals umdrehen, wenn man die Kraft dazu hat. Damit das Kind weiß, dass es sich nicht verirren wird und dass zusammen gehen ein Schicksal ist, an dem man niemals zweifeln darf, denn es ist der Erde eingeschrieben.
Dann sah Ultimo, wie sich in der Ferne eine Staubwolke erhob. Sein Vater sagte nichts, aber er warf die Zigarette weg und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Die Wolke kam von Rabello herunter, sie folgte den Kurven der Straße. Mit ihr näherte sich ein Geräusch, das Ultimo noch nie gehört hatte, wie das Brummen eines Dämons aus Metall. Als erstes sah er die großen Räder und das Grinsen eines gewaltigen Kühlergrills. Dann einen Mann, der in unglaublicher Höhe saß, aufrecht im Staub, mit gigantischen Insektenaugen. Unter dem anschwellenden Lärm seiner Innereien steuerte das sonderbare Ding mit einer unfassbaren Geschwindigkeit geradewegs auf sie zu. Es war ein furchterregender Anblick, und Ultimo ahnte vielleicht etwas von seinem Schicksal, als ihm bewusst wurde, dass es in diesem Moment in seinen Gedanken, in seinem Herzen, in seinen Nerven keine Angst gab, an keiner Stelle, nicht mal einen Hauch von Angst, nur den bedingungslosen Wunsch und die ungeduldige Erwartung, sich aufsaugen zu lassen von dieser Staubwolke, die jetzt donnernd auf sie zukam, den Hügel hinunter auf die Abzweigung zustürzend: Dort oben thront unbeirrt der Insektenmann, die Räder reagieren mit einem weichen Schlingern auf die Löcher am Boden, das Gebilde gleicht einem im Meer umhertreibenden Floß, freilich einem sehr selbstbewussten Floß, das nun mit dem kreischenden Eisen seiner Eingeweide auf die Abzweigung zielt und sie ohne zu zögern entziffert, sie in gewisser Weise seziert, indem es die beiden Vorderräder mit den Gummireifen nach rechts dreht. Ultimo spürte, wie die Hand des Vaters sich auf seiner Schulter zusammenpresste, und sah, wie sich der Mann dort oben, mit den Händen am Steuer hängend, zur Seite warf, als bewegte er das ganze große, tobende Tier allein mit der Kraft dieser kühnen Geste, um die Ultimo ihn sofort beneidete, weil er sie fast am eigenen Körper spürte, als wäre sie ihm seit jeher vertraut: die Kraftanstrengung der Arme, das schiefe Bild der Straße, die unsichtbare Gewalt, die dich fortträgt, der vorgebliche Flug gegen den Wind. Als das große Tier schließlich feierlich in den notwendigen Richtungswechsel glitt, bot es ihren Blicken seine Flanke dar und enthüllte auf sehr elegante Weise die zuvor unsichtbare Silhouette einer Frau, in ein verborgenes Refugium zwischen den metallenen Rippen gesetzt, auf einen niedrigeren Platz, der in Ultimos Augen jedoch königlich wie ein...
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