Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Am Samstagmorgen war Wyss kaum im Büro, um sich auf die Einvernahme von Frau Tschudi vorzubereiten, die kurz vor elf in Basel eintreffen würde, als ein Anruf von der Pforte kam. »Eine Frau Widmer möchte dich sprechen.«
»Was macht die an einem Samstag hier?!«
»Kai Ahnig! Holst du sie ab?«
Verena Widmer trug heute ein luftiges Leinenkleid und eine große Basttasche, als wolle sie ins Strandbad, doch Wyss wusste genau, dass sie shoppen ging. Wyss führte sie in den Besprechungsraum und stellte eine Flasche Mineralwasser hin. »Frau Widmer, was kann ich für Sie tun? Ist Ihnen noch etwas eingefallen?«
»Ich bin hier, weil ich sicherstellen will, dass Sie eine ordentliche Mordermittlung führen!«
»Frau Widmer, ich kann Ihnen versichern, dass .«
»Ich weiß, wie schnell so etwas ad acta gelegt wird und ein Mörder ungeschoren davonkommt, das können Sie mir glauben!«
Wyss betrachtete die selbstgewisse alte Dame und verkniff sich jede Regung. »Ich versichere Ihnen, dass nichts ad acta gelegt wird, bevor nicht alle Spuren ausgewertet und alle Umstände geklärt sind, die zu Roger Tschudis Tod geführt haben.«
»Das will ich hoffen, junge Frau, das will ich hoffen! Sind Sie überhaupt befugt, eine solche Ermittlung zu führen? Wo ist denn Ihr Kollege?« Frau Widmer bemerkte ihren Lapsus und fügte an: »Sie sind sehr jung!«
Wyss hatte das Bedürfnis, mal etwas klarzustellen. »Kommissär Leuenberger ist mir unterstellt und befasst sich im Augenblick mit den Finanzen von Herrn Tschudi. Wir tun alles, um die Umstände von Herrn Tschudis Tod aufzuklären, machen Sie sich keine Sorgen. Aber jetzt sollte ich an meine Arbeit zurückkehren. Sie erlauben, dass ich Sie nach unten begleite?« Dann schob sie ihren Stuhl zurück, und Verena Widmer hob mahnend den Zeigefinger: »Finden Sie seinen Mörder, junge Frau, finden Sie seinen Mörder!«
Zurück im Büro traf sie Leuenberger an, der die Dokumente durcharbeitete, die die Forensik in Roger Tschudis Haus sichergestellt hatte. Kontoauszüge, Rechnungen und diverse andere Unterlagen, aber kein Testament und keine Patientenverfügung. Dafür die Anschrift eines Notars in seinem Adressbüchlein.
»Irgendetwas Interessantes?«
»Nein. Nicht wirklich«, antwortete Leuenberger. »Du hattest recht. Tschudis Finanzen waren nicht so rosig, wie seine Bekannte glaubte. Es reichte gerade so für einen bescheidenen Lebenswandel. Das Häuschen in der Lage dürfte allerdings einiges wert sein. Ein Testament habe ich noch nicht, aber ich habe den Notar aus Tschudis Adressbuch angeschrieben. Roger Tschudi stammt ursprünglich aus dem Toggenburg und hatte keine Kinder. Keine legitimen zumindest. Was allfällige Verwandtschaft angeht, ist ein Kollege noch dran. Was wollte eigentlich Frau Widmer?«
»Sie musste noch einmal betonen, dass ihr Bekannter ermordet wurde. Und sie wollte dich sprechen. Ich fahre gleich noch mal ins Haus. Vielleicht kennt ihn jemand aus der Nachbarschaft näher.«
»Mach das. Ich bleibe so lange an dem hier dran. Wenn Frau Tschudi kommt, rufe ich dich an.«
Die Hitze war jetzt schon wieder unerträglich. Die Sonne brannte heiß auf den dürstenden Rasen, den keiner mehr sprengte. Wyss betrat das Haus und schloss behutsam die Tür hinter sich. Drinnen war es extrem stickig, es roch ungelüftet und staubig. Ein Hauch Rasierwasser? Mit allen Sinnen spürte sie den Schwingungen der kleinen Villa nach, zog dann ein Paar Handschuhe über und begann das Haus zu durchsuchen, obwohl die Spurensicherung das gestern schon getan hatte. Büro, Schlafzimmer, Badezimmer. Raum für Raum. Langsam und gründlich. Roger Tschudi war zweifellos ein Mann mit gutem Geschmack und nicht unerheblichem Wohlstand gewesen, davon zeugten seine zwei Dutzend Maßanzüge, die feinen Hemden von van Laak, seine Seidenkrawatten, die massiven Manschettenknöpfe, die teuren Armbanduhren, die genagelten italienischen Schuhe und die Unterwäsche von Zimmerli. Reinigungsbelege sowie die Abwesenheit von Wäscheständern und Bügeleisen sprachen dafür, dass er seine Wäsche nicht selbst erledigte. Im Bad reihten sich teure Pflegeprodukte aneinander, allesamt klassisch altmodisch. Nassrasierer. Nichts, was auf eine weibliche Hand schließen ließ. Kein überflüssiger Gegenstand, keine Blumen, keine Frauenzeitschriften, nur die NZZ im Abo, wie sie dem Adressaufdruck entnehmen konnte. Auch in der Küche nur das Notwendigste. Eine Kapselkaffeemaschine, ein Toaster. In den fast leeren Schränken ein paar Teller, zwei Tassen, ein halbes Dutzend Gläser, zwei Töpfe, eine Pfanne. Toastbrot, drei Packungen Spaghetti nebst fertiger Soße im Glas. Im Kühlschrank nur ein Stück Butter, ein halb leeres Glas Konfi, eine Flasche Martini, Eiswürfel und ein Glas Oliven. Ein typischer bescheidener Singlehaushalt, den man eher in einer kleinen Studentenbude erwarten würde als bei einem ehemaligen Fabrikdirektor. Es war offensichtlich, dass sich Herr Tschudi keine Haushaltshilfe leistete und sein Zuhause selbst in Schuss hielt. Wyss schlug die Stimmung der Villa aufs Gemüt, wobei sie gar nicht wusste, ob ihr verstorbener Bewohner einsam oder traurig gewesen war. Immerhin war er jeden Freitagmorgen mit Frau Widmer verabredet gewesen.
Als sie irgendwann wieder im Vorgarten stand, blickte sie sich um. Das Haus war umgeben von noblen Appartementblocks. Rechter Hand, direkt neben dem Grundstücksrand, führte eine steile Einfahrt in eine Parkgarage. Wyss begann bei dem dazugehörigen Gebäude und arbeitete sich von Stockwerk zu Stockwerk. Um diese Zeit waren die meisten Nachbarn unterwegs, doch im dritten Obergeschoss hatte sie Glück. Eine freundliche Rentnerin, Frau Oberhänsli, öffnete ihr die Tür.
»Roger Tschudi? Ja sicher kenne ich den. Er ist tot? Wirklich? Oh, das tut mir leid. Wann ist das passiert? Donnerstagabend? Da habe ich noch seinen Wagen gehört! Normalerweise fährt er eher selten damit, und abends eigentlich nie. Das hat mich gewundert. Wieso ich das weiß? Es ist ein altes Auto mit großem Motor. Wenn er damit die Ausfahrt hochdonnert, hört das die ganze Nachbarschaft. Aber kommen Sie doch herein. Hier durch, auf den Balkon. Nehmen Sie Platz, bitte, ich komme gleich wieder.« Die Frau verschwand und kehrte kurz darauf mit Eiskaffee und Keksen zurück, die sie in einem Schälchen nett arrangiert hatte.
Wyss bedankte sich und nahm einen Schluck. »Haben Sie Herrn Tschudi am Donnerstagabend auch zurückkommen hören?«
»Nein. Wenn er die Einfahrt hinunterrollt, gibt er ja kein Gas.«
»Verstehe. Um welche Zeit ist er denn gefahren?«
Frau Oberhänsli nahm einen Keks, während Wyss durch die rauchgläserne Balkonverkleidung hinunter auf die kleine Tschudi-Villa und die Zufahrt zur Garage im Keller blickte. »Es war während des schweren Gewitters. Das weiß ich noch. Um zehn vielleicht. Es hat furchtbar gekracht und sintflutartig geregnet. Ich habe gerade meine Hängegeranien in Sicherheit gebracht und dabei den Wagen gehört. Trotz des Getöses.«
»Haben Sie das Auto gesehen? Oder Herrn Tschudi am Steuer erkannt?«
»Nein, das nicht. Aber ich wusste auch so, dass er es war. Obwohl er ja donnerstagabends eigentlich immer beim Jassen ist.«
Wyss straffte sich unwillkürlich: »Wirklich? Das wissen Sie sicher?«
»Sicher. Als seine Frau noch da war und mein Mann selig noch lebte, haben wir uns regelmäßig getroffen. Die Tschudis und wir. Zum Apéro oder zum Grillen. Sie müssen wissen, dass wir unser Häuschen direkt nebendran hatten, da, wo jetzt die Einfahrt ist. Vor fünfzehn Jahren standen hier nur Einfamilienhäuser. Kann man sich gar nicht mehr vorstellen.«
»Das heißt, Sie kannten Roger Tschudi gut.«
»Na ja, so gut auch wieder nicht. Seine Frau kenne ich besser. Wir waren befreundet. Wir stehen immer noch in losem Kontakt, und letzten Sommer habe ich sie in Lugano besucht. Sie hat dort eine kleine Boutique für Übergrößen eröffnet. Mit ihm hatte ich nie viel zu tun. Er war selten zu Hause, als er noch berufstätig war. Und seit seine Frau weg ist, haben wir uns nur noch gegrüßt, mehr nicht. Noch ein Keks für Sie?«
»Nein, danke. Lieb von Ihnen. Wann haben sich die beiden denn scheiden lassen?«
»Warten Sie, da muss ich nachdenken . Das war ein Jahr, nachdem er in Pension gegangen ist. Also vor acht Jahren. Sie hat gesagt, sie halte es nicht mehr aus mit ihm.«
»Ach ja?« Wyss spitzte die Ohren. »Gab es Streit?«
»Nein, nein, das nun auch wieder nicht. Es war eher so, dass Brigitte sich vorgestellt hatte, dass sie mehr zusammen unternehmen würden, nachdem er nicht mehr täglich zur Arbeit musste. Sie hatte ja keine Kinder und war mit ihrem Dasein als Direktorinnengattin nicht mehr ausgefüllt. Aber Roger, also der Herr Tschudi, der hat überhaupt nichts mehr machen wollen, außer sein Auto zu waschen und alten Zeiten nachzutrauern. Sie hat irgendwann gesagt, sie vergeude ihr Leben und wolle lieber noch einmal etwas Neues erleben. Also hat sie sich scheiden lassen und ist nach Lugano gezogen.«
»Wieso ausgerechnet Lugano?«
»Dort haben sie ein Ferienhäuschen, das er ihr nach der Scheidung überschreiben musste.«
»Wann haben Sie Frau Tschudi zuletzt gesehen?«
Jetzt hielt Frau Oberhänsli kurz inne und überlegte. »Sie war erst kürzlich einmal hier.«
»Ach ja? Haben Sie sie gesprochen?«
»Nein. Ich habe sie nur gesehen. Und gehört.« Frau Oberhänsli errötete kaum merklich.
»Wie darf ich das verstehen? Gehört?«
»Nun, sie ist etwas laut geworden, als ihr Mann sie nicht ins Haus lassen wollte.«
»Haben Sie mitbekommen, um was es...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.