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Fragt man mich nach den 32 Kindern, die in San Cristóbal umgekommen sind, variiert meine Antwort je nach Alter meines Gesprächspartners. Einem Gleichaltrigen antworte ich, dass unser Verstand zusammensetzt, was wir bloß bruchstückhaft gesehen haben, einen Jüngeren frage ich, ob er an böse Vorzeichen glaube. Fast jeder verneint das, als wäre dieser Glaube eine Missachtung der Freiheit. Ich dringe nicht weiter in sie, sondern erzähle ihnen meine Version der Ereignisse, denn mehr habe ich nicht, und es wäre sinnlos, sie davon zu überzeugen, dass es weniger um eine Bekräftigung der Freiheit geht als darum, nicht so naiv an die Gerechtigkeit zu glauben. Wäre ich etwas entschlossener oder nicht ganz so feige, würde ich meine Geschichte immer mit demselben Satz beginnen: Fast alle Welt bekommt, was sie verdient, und böse Vorzeichen gibt es. Und wie es sie gibt.
Als ich in San Cristóbal eintraf - zweiundzwanzig Jahre ist das her -, war ich als junger Beamter der Sozialbehörde in Estepí auf diesen Posten befördert worden. In nur wenigen Jahren war aus einem dünnen Jurastudenten ein frisch verheirateter Mann geworden, den das Glück gewiss besser aussehen ließ, als ihm von Natur aus gegeben war. Das Leben schien mir eine simple Folge relativ leicht zu überwindender Widrigkeiten zu sein, die schließlich in den Tod mündeten, ob leicht oder nicht, jedenfalls so unausweichlich, dass es nicht die Mühe lohnte, sich Gedanken darüber zu machen. Damals wusste ich nicht, dass auch die Freude nichts anderes ist, nichts anderes die Jugend, nichts anderes der Tod, und obwohl ich im Grunde nicht falschlag, lag ich doch in allem falsch. Ich hatte mich in eine Geigenlehrerin aus San Cristóbal verliebt, drei Jahre älter als ich, Mutter einer neunjährigen Tochter. Beide hießen sie Maia, beide hatten sie eindringliche Augen, eine kleine Nase und braune Lippen, die ich für den Gipfel der Schönheit hielt. Manchmal war mir, als hätten sie mich in geheimer Versammlung erwählt, so glücklich war ich, in ihr »Netz« gegangen zu sein, und als man mir den Posten in San Cristóbal anbot, rannte ich zu ihr, um es ihr zu erzählen, und machte ihr kurzerhand einen Heiratsantrag.
Die Stelle hatte man mir angeboten, weil ich in Estepí zwei Jahre zuvor ein Programm zur Integration indigener Gemeinschaften entworfen hatte. Die Idee war einfach und erwies sich als ein taugliches Modell. Sie bestand darin, den Ureinwohnern das Vorrecht auf den Anbau bestimmter Produkte abzutreten. Bei uns in der Stadt entschieden wir uns für Orangen und überließen der indigenen Gemeinde die Versorgung von fast fünftausend Menschen. Die Verteilung drohte zunächst im Chaos zu enden, aber dann lenkte die Gemeinde ein und formierte sich neu als kleine, solvente Genossenschaft, die noch heute einen Großteil ihrer Ausgaben finanzieren kann.
Das Programm war so erfolgreich, dass die Landesregierung über die Kommission für indigene Reservate mit mir in Verbindung trat, damit ich ein Gleiches mit den dreitausend Mitgliedern von San Cristóbals Ñeê-Gemeinde versuchte. Sie boten mir ein Haus und eine leitende Stelle in der Sozialbehörde. Maia nahm bei der Gelegenheit ihren Unterricht in der kleinen Musikschule ihrer Heimatstadt wieder auf. Sie gab es nicht zu, doch ich wusste, wie freudig sie unter so günstigen Bedingungen in die Stadt zurückkehrte, die sie notgedrungen hatte verlassen müssen. Sie bezahlten auch die Schule des Mädchens (ich nannte sie immer »das Mädchen«, und wenn ich mich direkt an sie wandte, »Mädchen«) und ein Gehalt, bei dem wir Geld beiseitelegen konnten. Was wollte ich mehr? Ich hatte Mühe, meine Freude zu bezähmen, und bat Maia, mir vom Urwald, vom Eré-Fluss, von San Cristóbals Straßen zu erzählen . Beim Zuhören tauchte ich ein in die dichte, erdrückende Vegetation und traf auf einen paradiesischen Ort. Sehr originell war meine Fantasie wohl nicht, aber niemand kann behaupten, sie wäre nicht optimistisch gewesen.
Wir trafen am 13. April 1993 in San Cristóbal ein. Die feuchte Hitze war gewaltig, der Himmel wolkenlos. Als wir mit unserem Familienkleinbus bergan fuhren, sah ich in der Ferne zum ersten Mal die gewaltigen braunen Wassermassen des Eré und San Cristóbals Urwald, dieses undurchdringliche grüne Ungeheuer. Ich war das subtropische Klima nicht gewohnt, mein Körper schweißgebadet, seit wir die rote Lehmstraße genommen hatten, die von der Autobahn Richtung Stadt abzweigte. Die Reise von Estepí (fast tausend Kilometer) hatte mich in eine Art Melancholie getaucht und benommen gemacht. Bei der Ankunft hatte sich zunächst ein Traumbild aufgetan, gleich wieder abgelöst durch das Schroffe der Armut. Ich war auf eine arme Provinz vorbereitet gewesen, aber die tatsächliche Armut hat nur wenig mit den Vorstellungen gemein, die man sich von ihr macht. Zu der Zeit wusste ich noch nicht, dass der Urwald die Armut nivelliert, ausgleicht und in gewisser Weise sogar verschwinden lässt. Ein Bürgermeister der Stadt hatte einmal gesagt, San Cristóbals Problem sei es, dass das Heruntergekommene nur einen kleinen Schritt vom Pittoresken entfernt sei. Das stimmt aufs Wort. Die Gesichter der Ñeê-Kinder sind allzu fotogen, trotz des Drecks - oder vielleicht gerade deswegen -, und das subtropische Klima befördert das Trugbild, dass ihr Zustand etwas Unvermeidliches hat. Anders gesagt: Der Mensch kann gegen den Menschen kämpfen, aber nicht gegen einen Wasserfall oder ein Gewitter.
Doch vom Wagenfenster aus hatte ich noch etwas anderes festgestellt: San Cristóbals Armut ging bis auf die Knochen. Die Farben waren Grundfarben ohne Tiefe und glänzten verstörend: das intensive Grün des Urwalds, der sich an die Landstraße schmiegte wie eine pflanzliche Mauer, das leuchtende Rot der Erde, das Blau des Himmels mit diesem Licht, bei dem man ständig die Augen zusammenkneifen musste, das geballte Braun des Eré, vier Kilometer von Ufer zu Ufer, all das zeigte mir deutlich, dass meine geistigen Vorräte nichts aufzuweisen hatten, womit sich vergleichen ließ, was ich da zum ersten Mal sah.
Nach unserem Eintreffen in der Stadt gingen wir ins Rathaus, um die Schlüssel für unser Haus zu holen, und ein Beamter begleitete uns im Wagen und wies uns den Weg. Kurz bevor wir ankamen, tauchte auf einmal in zwei Metern Entfernung ein riesiger Schäferhund auf. Der Eindruck - bestimmt hervorgerufen von der Erschöpfung nach der Reise - glich fast einer Fata Morgana, als wäre der Hund nicht vors Auto gelaufen, sondern hätte plötzlich mitten auf der Straße Gestalt angenommen. Ich hatte keine Zeit zum Bremsen. Mit aller Kraft packte ich das Lenkrad, spürte an den Händen den Aufprall und dieses Geräusch, das man nur einmal hören muss und nie wieder vergisst: das eines Körpers, der gegen eine Stoßstange prallt. Hastig stiegen wir aus. Es war eine Hündin; schwer verletzt hechelte sie und mied unseren Blick, als schämte sie sich.
Maia beugte sich über sie und strich ihr mit der Hand über den Rücken, eine Geste, auf die die Hündin mit einem Schwanzwedeln antwortete. Wir beschlossen, sie zu einem Tierarzt zu bringen, und in dem Wagen, mit dem wir sie gerade angefahren hatten, überkam mich das Gefühl, dass dieses wilde Straßentier zwei entgegengesetzte Dinge darstellte: ein erbärmliches Vorzeichen und eine wohltätige Präsenz. Eine Freundin, die mich in der Stadt willkommen hieß, aber auch eine Botin, die eine furchtbare Nachricht brachte. Mir schien, selbst Maias Gesicht hatte sich seit unserer Ankunft verändert, zum einen war es gewöhnlicher geworden - noch nie hatte ich so viele Frauen gesehen, die ihr glichen -, zum anderen undurchdringlicher. Ihre Haut wirkte weicher und zugleich widerstandsfähiger, ihr Blick härter, aber auch weniger starr. Sie hatte die Hündin auf den Schoß genommen, und das Blut des Tiers sickerte langsam in ihre Hose. Das Mädchen saß auf dem Rücksitz, den Blick fest auf die Wunde gerichtet. Immer wenn der Wagen über ein Schlagloch fuhr, wand sich das Tier und gab ein musikalisches Stöhnen von sich.
Es heißt, San Cristóbal hat man im Blut oder nicht, ein Klischee, das jeder auf den eigenen Geburtsort anwendet, überall auf der Welt, aber hier erlangt es eine weniger geläufige Dimension, eine besondere Wirklichkeit. Denn gerade das Blut muss sich an San Cristóbal gewöhnen, seine Temperatur ändern, sich dem Gewicht von Urwald und Fluss ergeben. Sogar der Eré mit seinen vier Metern Breite ist mir oft vorgekommen wie ein großer Fluss aus Blut, und manche Bäume der Gegend haben einen so dunklen Saft, dass sie kaum Pflanzen zu sein scheinen. Das Blut durchläuft alles, erfüllt alles. Hinter dem Grün des Urwalds, hinter dem Braun des Flusses, hinter dem Rot der Erde ist immer das Blut, ein Blut, das dahinfließt und die Dinge vollendet.
So war es für mich wortwörtlich eine Taufe. Als wir beim Tierarzt eintrafen, lag die Hündin praktisch im Sterben, und als ich sie aus dem Auto hob, befleckte mich eine zähe Flüssigkeit, die sich bei der Berührung mit meiner Kleidung schwarz färbte und widerlich salzig roch. Maia bestand darauf, dass das Bein geschient und die Rückenwunde genäht wurde, und die Hündin schloss die Augen, als wollte sie nicht länger kämpfen. Ihre Augen schienen sich nervös hinter den Lidern zu bewegen wie bei träumenden Menschen. Ich versuchte, mir vorzustellen, was sie vor sich sah, was für ein Vagabundenleben im Urwald in ihrem Gehirn ablief, und ich wünschte mir, dass sie gesund würde und überlebte, als hinge meine Sicherheit an diesem Ort in nicht geringem Maße davon ab. Ich ging zu ihr und legte meine Hand auf ihre heiße Schnauze, mit...
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