Schweitzer Fachinformationen
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SIE KEHRT LÄNGER NICHT ZURÜCK. Vor Empörung, aber auch vor Scham. Das Problem ist, wie sie denkt, dass sie sich hintergangen fühlt. Als wäre ihr mit einem Lächeln etwas versprochen worden und sie hätte dahinter nur eine Grimasse gefunden. Vielleicht beschämt sie die eigene Koketterie, sie weiß es nicht recht. So lange schon schwört sie ihr ab, dass sie sich tief im Innern ein neutrales, spartanisches Ideal geschaffen hat. So offensichtlich der Faszination durch den eigenen Körper verfallen zu sein, löst in ihr dieselbe Scham aus wie ein Kater am Morgen. Die Erinnerung an die Doppelgängerin umgibt eine klebrige Aura, rückblickend ist sie entsetzt über ihre Hingabe an diese inszenierte Wiederholung. Und es steckt auch etwas Hinterlistiges, eine Art plumper Betrug darin, wie der Junge sie aus der Distanz herangelockt hat, als hätte er sie dazu gezwungen, an sich selbst zu schnüffeln. Sie hat das Gefühl, dass am Ende alles - die Überraschung, die Vorsicht, das Verlangen nach Offenbarung - ein Streich war. Schlimmer noch, sie verspürt - jetzt zum ersten Mal - die Beschämung, fast die Überzeugung, beobachtet worden zu sein, wie bei diesem grausamen Spiel, bei dem jemand einen Gegenstand versteckt, aus dem reinen Vergnügen, den anderen verzweifelt danach suchen zu sehen. Die Figur des Jungen bekommt etwas Perverses. Als wäre seine verwunderte Miene in Wirklichkeit Ausdruck von Sadismus.
Um Abstand zu gewinnen, fragt sie am Wochenende den Mann, mit dem sie lebt, warum sie nicht dem Alltag entfliehen, und am nächsten Tag wandern sie wenige Kilometer außerhalb der Stadt in die Berge hinauf. Diesen Ausflug machen sie nicht zum ersten Mal. Man könnte sagen, es ist eine mechanisch wiederholte Wanderung, die sie unternehmen, wenn einer von ihnen »dem Alltag entfliehen« will. Es war sein Einfall gewesen. Obwohl »Einfall« nicht das richtige Wort ist. Sie hat immer den Verdacht gehabt, dass diese Landpartie im Leben des Mannes einmal ein fröhlicher Tag gewesen ist, den er nun ein ums andere Mal wiederholen muss, ein Akt der Treue, dem sie sich am Ende angeschlossen hat und aus dem eine verwässerte Variation dessen geworden ist, was ursprünglich eine echte Freude war.
Es ist seltsam, aber sie empfindet keine Eifersucht. Das amüsiert sie fast. Sie empfindet auch keine wegen anderer Dinge, die scheinbar noch schlimmer oder beunruhigender sind. Wenn er unter der Dusche steht, nimmt sie manchmal sein Handy und liest die Nachrichten, die ihm seine Exfrau weiterhin schickt und die er mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verachtung beantwortet, die schwer einzuschätzen ist. Sie sprechen sich an, wie sie es früher gewohnt waren, mit ihren Initialen, ML, PC, sie erwähnen gemeinsame Reisen, praktizieren ihren Privathumor wie eine tote Sprache, am Leben erhalten von den letzten Muttersprachlern. Der Mann, der zu diesen Nachrichten ermutigt oder sie beantwortet, ist in Wirklichkeit ein ganz anderer als der, mit dem sie lebt. Der erste ist unecht, der zweite echt. In keiner dieser Nachrichten erwähnt er sie, obwohl seine Exfrau nach ihr fragt. Über sie wahrt der Mann, mit dem sie lebt, ein schmeichelhaftes Schweigen. Ihre Welten sind alles andere als vergleichbar, sie sind parallel.
Ob von einem Vorleben geerbt oder nicht, an diesem Tag funktioniert es. Die Wärme des Sommeranfangs und die frische Kühle des Waldes erfüllen ihren Zweck: Für einen Augenblick vergisst sie das Haus und den Jungen, die Erniedrigung durch die Doppelgängerin schmerzt sie nicht mehr. Es ist ein wunderschöner Tag. Sie begegnen kaum einer Menschenseele. Unter freiem Himmel wirkt der Körper des Mannes mitten auf dem Bergkamm kleiner, aber auch kompakter. Sie erinnert sich wieder, warum dieser Körper sie anzieht; die Spannung im Rücken, die konzentrierten Augen eines Jägers. Unter freiem Himmel hat er nicht mehr diese müden Bewegungen wie manchmal zu Hause, wirkt nicht mehr wie ein Tier im Käfig, verbeamtet, und all seine Züge erlangen wieder Würde: die römische Nase, der Zweitagebart, rau und leicht meliert. Ab und an bleibt er stehen und zeigt ihr Pilze oder nimmt ein Buchenblatt auf und erklärt ihr, dass die Seitenrippen parallel angeordnet sind und dank der zweizeiligen Phyllotaxis große Mengen Licht aufnehmen können. Sie betrachtet ihn wie eine Jugendliche, die plötzlich ein hitziges Verlangen nach ihrem Biologielehrer überfällt.
Sie nehmen sich ein Hotel, essen im Gasthaus und folgen damit nun einem eigenen Ritual. Sie redet viel, redet, um sich müde zu reden. Redet von ihrem Vater, sagt, er habe schlecht daran getan, den Friseurladen zu verkaufen, das fehlende Talent zur Muße sei eine Strafe der Arbeiterklasse, sagt aber nicht, dass er ihr neulich Abend bloß wie ein Mann vorgekommen ist, der allzu viel menschliches Haar geschnitten hat und gewiss Müdigkeit mit Traurigkeit verwechselt. Sie redet davon, wie gut es in der Immobilienagentur läuft, von der Wohnung, die sie letzte Woche verkauft hat, und von der Maklergebühr, die - wie sie scherzt - diesen Wein bezahlt. Dann hat sie plötzlich Lust, ihm die Anekdote vom Haus des Selbstmörders zu erzählen.
»Was für ein Selbstmörder?«, fragt er.
Und da sie nicht sofort loslegt, greift er zum Weinglas, lehnt sich etwas zurück, schiebt den Teller beiseite. Obwohl sie schon zwei Jahre zusammen sind, benehmen sie sich manchmal seltsam feierlich.
»Bitte«, beharrt er.
Sie zieht den Vorhang auf. Er lächelt. Sie erzählt, vor langer Zeit habe sie einmal das Haus eines Selbstmörders verkaufen müssen. Niemand in der Immobilienagentur hatte das übernehmen wollen, und am Ende wurde es ihr aufgehalst. Es war ein schönes Haus, aber der Selbstmord hatte in dem Viertel viel Staub aufgewirbelt, und die Käufer bekamen zwangsläufig mit, dass sich dort ein junger Mann mit einer Jagdflinte das Gehirn aus dem Kopf gepustet hatte. Der Grund? Einerlei. Eifersucht, wie sie glaubt, es spielt keine Rolle. Eine Rolle spielt dagegen, dass in dem natürlich frisch gestrichenen Wohnzimmer eine Mulde in der Wand zurückgeblieben war, etwas über Brusthöhe, die Mulde von der Kugel, mit der der Junge sich erschossen hatte.
»Eine Mulde«, wiederholt er.
»Ein kleines Loch«, sagt sie, »von der Größe einer Armbanduhr.«
Jeden Tag musste sie, sobald sie das Haus betrat, unweigerlich an dieses Loch denken. Es zog sie an. Sie war überzeugt - wie sollte sie das erklären -, sie könne etwas begreifen, wenn sie es berührte. Sie tat so, als kümmerte sie sich um andere Dinge, doch ihre Gedanken kreisten immer um das Loch. Eines Tages hielt sie es nicht mehr aus und beschloss, es anzufassen. Sie wusch sich die Hände, trat näher und legte entschlossen die Fingerspitze darauf.
»Und was ist passiert?«, fragt er.
»Ich bekam einen elektrischen Schlag. Die Kugel hatte anscheinend eine Leitung getroffen, und die Wand stand manchmal unter Strom. Meine Hand war feucht. Ich wäre fast gestorben vor Schreck.«
Der Körper des Mannes wird von einer Lachsalve geschüttelt, ihrer ebenfalls. Mit einem Mal sind sie beide entspannt. Vor Erleichterung, dass diese Inszenierung des Todes am Ende nur die Metapher für etwas anderes war, das dümmer, erträglicher ist. Doch später in der Nacht, als sie sich lieben und er zu ihren Beinen hinabwandert, sie den Kopf zurücklegt und seinen streichelt, ihn zwischen ihre Schenkel presst, fällt ihr wieder ein, was sie an jenem Nachmittag wirklich empfunden hat, sosehr sie diese Anekdote auch seit Jahren erzählt, um über sich selbst zu lachen. Jetzt versucht sie, und sei es nur im Geist, die Energie heraufzubeschwören, diesen unerklärlichen Wunsch nach Berührung, den sie tatsächlich empfunden hatte, als sie mit dem Finger über die kleine Vertiefung gefahren war, die die Kugel in der Wand hinterlassen hatte. Und sie erinnert sich an das Kitzeln, das die Hand auch noch beherrschte, als sie das Haus verließ, das den Arm hochwanderte und erst nach mehreren Tagen abklang, ein störendes Kitzeln, als verlangte da etwas nach Aufmerksamkeit, ein kleines Tier. Wie auch jetzt aus heiterem Himmel, mitten in der Lust, die Dunkelheit zurückkehrt und sie wie damals eine Stimme zu hören scheint, nicht unbedingt Worte, aber doch eine Stimme, eine Botschaft, die klar und deutlich lautet: Warum kommst du nicht? Ich brauche dich.
Am Mittwoch kehrt sie zurück, nachdem sie zwei Besichtigungstermine hinter sich und die Geduld mit einem Pärchen verloren hat, das sich nach den winzigsten Details einer Wohnung erkundigt, die es gar nicht kaufen will. Vielleicht treibt der Ärger sie zu dem Entschluss, es nicht länger aufzuschieben. Der Ärger und das Bedürfnis, die Sache aus der Welt zu schaffen. Oft hat sie schon gedacht, dass eben dies ihr größter Charakterfehler ist, der Mangel an Gleichmut, wenn sie ihn besonders nötig hat. Da kommt ein Ruck, dann noch einer, beim ersten verliert sie die Haltung, beim zweiten wird sie reizbar. Denkt sie da an den Jungen? Nicht unbedingt. Eher umkreist der Gedanke sie, als wäre der Junge etwas, was sie beim Arm nimmt und zwingt, Dinge zu tun, die sie nicht tun will; eine Tombola, an der teilzunehmen sie nicht entschieden hat; jemand, der auf der Straße an ihr vorbeigeht und sie absichtlich mit dem Arm streift; einer dieser Fahrer, die auf der Landstraße von hinten drängen und einen wie besessen vorantreiben.
Zu ihren Ängsten zählt vor allem, dass der Junge etwas von ihr verlangen könnte. Jetzt, da keine...
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