Schweitzer Fachinformationen
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Da ist Vater, dachte ich. Mitten in einer nicht endenden Wolke.
Sitzt und holpert mit festgezurrtem Nierengurt auf Großvaters altem Ferguson und bekommt graue Haare und kehrt heim und riecht nach Muttererde - weil er keine andere Wahl hat. Weil wir dieses Stück Land besitzen, weil wir dieses kleine Fleckchen Erde, diese Morgen urbar gemacht haben. Die Heusumpfwiese, die trockengelegt wurde und sich in Felder und Weiden verwandelte, das Rabenmoor, das wie Asche und Zunder qualmt, sobald die Dürre einsetzt, der Torfgrund, der auf einmal Feuer fängt, in der Tiefe flackert und glimmt, für das Auge unsichtbar und ohne Flammen brennt und schwelt und von unten alles verzehrt, bis man Gräben aushebt und abtrennt.
Das ist unser Flecken. Wir haben keinen anderen.
Die Erde, die von der Sonne und den Raben gesehen wird.
Der Fetzen Land unter einem Himmel, an dem Düsenjets Kreuze zeichnen.
Man konnte den Traktor kaum erkennen, man sah nur die Wolke aus hochwirbelndem Staub, wenn er mit der Ackerwalze fuhr. Ich holte das Fernglas heraus und saß gut und gerne zehn Minuten da, ohne den Blick von ihm wenden zu können. Ich fragte mich, was er da unten dachte, was ihm durch seinen schweren Kopf ging, warum er sich ständig die Lippen leckte. Vor und zurück, umgeben von diesem höllischen Torfrauch - Runde für Runde auf den frisch bestellten Feldern, hin und her von Rand zu Rand, von Osten nach Westen und wieder zurück.
Wenn man ihm mit dem Fernglas so nahe kam, verdichtete sich der Staub zu einem kompakten, aschebraunen Nebel. Ihn selbst nahm man bloß als verschwommenen Schatten innerhalb des Überrollbügels wahr: den Schirm seiner Mütze, die Pfeife im Bart, die Hände auf dem Lenkrad, den gekrümmten Rücken.
Da sitzt er, dachte man. Mitten in der Wolke füllt er seine Lunge mit zerbröselten Pflanzenresten, kommt nach Hause und hustet und sieht aus wie ein sowjetischer Bergmann - diese unterirdischen Halbmenschen, die gerade erst dem Tageslicht zurückerstattet worden waren, mit Helmen auf den Köpfen und fluoreszierenden Augäpfeln in ihren pechschwarzen Gesichtern, so sah man sie im Fernsehen. Weil er muss und nicht anders kann. Keine andere Wahl hat. Niemals von hier wegkommt. Nichts anderes beherrscht.
Ich schwenkte langsam über die tausende trockengelegten Morgen des Moors, vom Fußballplatz im Süden vorbei am Erlenwäldchen und den grau verwitterten Heuscheunen auf der anderen Seite des Kanals bis zum weißen Pfeil des Kirchturms, wo die Sonne zur Mittsommerzeit unterging - - -
Nein, außer ihm war niemand unterwegs. Alle hatten ihren Teil erledigt. Nur Vater war noch da, und die Wolke, in deren Mitte er saß.
Die Äcker lagen da und warteten.
Auf der Steinmauer sitzen, Vogelstimmen sortieren und darauf warten, dass sich der Grünspecht in seinem schwarzen Loch zeigt, wenigstens seinen Bajonettschnabel herausschiebt und Hallo sagt.
Kein Lebenszeichen. Tot wie in der Kirche am Ersten Mai. Der Grüngelbe hatte sich offenbar woanders eine Nisthöhle gehackt, war von mir fortgezogen und hatte seine glänzend weißen Eier stattdessen in einer vertrockneten Kiefer gelegt. Zwei Stunden hatte ich hier gesessen, hin und her gerissen zwischen Hoffnung und Verzweiflung, hatte nicht ein noch aus gewusst, und nun gab es zu Hause bestimmt schon Essen.
Was soll ich tun?, dachte ich sinnloserweise. Zeigen, dass ich ich bin? Oder meinen Stolz hinunterschlucken und die Waffen strecken?
Ich knipste ein Blatt von der Blitzespe ab und blieb mit ihm in meiner lächerlichen Mädchenhand sitzen. Ich verglich die beiden Blatthälften miteinander, studierte den langen, abgeflachten Stiel, die unendlich feinen Verzweigungen der Blattadern, das unregelmäßige Feld der Blattscheibe, das an die Flugfotos von Reisfeldern in fernen Ländern erinnerte. Das frische Blatt mit den grünen, selbstleuchtenden Adern, dünn und zart wie die Kapillare in einem Augenlid. Der gelbe Missbildungsfleck am Stiel, die gerundeten Zacken und flachen Buchten, die den gesamten Rand entlangliefen.
Ich beugte mich vor und roch an ihm, legte es auf meine Zunge und führte es wie eine Oblate in den Mund.
Die Espe und ich, dachte ich. Wir zittern bei jeder kleinsten Gelegenheit.
Homo tremula. Das bin ich.
Ich schreckte auf.
Der Traktor ohne Ackerwinde auf dem Weg hierher! Dann wird es Zeit, die Mittagsstunde hat geschlagen. Bald setzen sie sich schweigend an den Küchentisch und danken Gott für die Mahlzeit.
Die schweren Augen auf einem.
Wie ein Sog.
Du sollst hier sein, befahl es. Du sollst keinem gehören, nicht einmal dem, der dich gezeugt hat. Heute ist heute. Du kannst tun, was du willst.
Gehe, schaue, fühle, horche -
Dazu bist du erschaffen worden.
Ich hielt das Espenblatt gegen die Sonne und führte es langsam, Zentimeter für Zentimeter, näher ans Auge, und die Bahnen der Blattadern wurden zu Flüssen, die sich auf fremdem Land verzweigten, Wasserstraßen mit Eingeborenen, die in ausgehöhlten Baumstämmen zwischen lebensgefährlichen Kaimanen paddelten, zu Flüssen, die sich durch dampfende Dschungel ringelten, in denen Harpyien mit jungen Äffchen und Faultieren in den Krallen aus den Baumwipfeln abhoben, wie Uradler mit ihren riesigen Flügelflächen davonrauschten - wieder wurde ich in die Wirklichkeit zurückgerissen. Es war Vater, der da hupte - ein langes, aufforderndes Signal, als wüsste er, wo ich war, als wollte er mich zu sich rufen, als wollte er zeigen, wer hier wer war.
Heute ist nicht irgendein Tag. Du bist du und ich bin ich und ich komme, wann ich will. Zu dem, was ihr Zuhause nennt.
Von einem Baumstumpf mit hundert Ringen:
Wenn er den Traktor in den Kanal fährt, ist das deine Schuld. Das wird dich ein Leben lang verfolgen.
Ich stieg von der Steinmauer herab und stopfte das Espenblatt in die Gesäßtasche. Trotz allem in den Wald - zu dem, was meins ist. Nachsehen, ob die Zippe gebrütet hat, die Trauringtaube suchen, die endlos gurrt, herausfinden, wo die Waldameisen an einem Tag wie diesem schwärmen.
So leicht kann das sein. Über den Graben springen und unterwegs sein.
Vorsichtig schlich ich mich zu der jungen Fichte, in der die Drosseln wohnten, verbarg mich ein paar Meter entfernt in einem stacheligen Gebüsch und holte das kleine Fernglas heraus. Das Männchen saß zwitschernd in der weißesten Birke, ließ seine Flöte im Wechsel mit Austernfischerimitationen und Waldschnepfenpispern rollen, pfiff scharf wie ein Fußballschiedsrichter und begann wieder von vorn und probierte es erneut. Und das Weibchen machte sich auf den Weg! Dann sind sie also geschlüpft. Ein paar Minuten später war es mit einem Bündel Würmer zurück und verschwand wieder.
Ich stieg auf einen kniehohen Baumstumpf und schob behutsam die Äste auseinander. Dort lagen die Küken in ihrer glattgemauerten Nestschale, alle vier hatten es geschafft. Echsenhaft ruhten sie als ein hilfloser Haufen, die lachsgelben Schlünde aufgesperrt wie fleischige Reusen, als glaubten sie, ich würde sie füttern. Das Männchen hatte mich entdeckt und fand, dass ich dort nichts zu suchen hatte.
Zidi-zidi-zidi!, warnte es. Zidi-zidi-zidi!
Es näherte sich Ast für Ast und legte sich ins Zeug, dass es in den Ohren peitschte. Sein Blick irrte gehetzt umher, als hoffte es auf Verstärkung oder als wollte es zum Angriff übergehen.
»Ruhig, ruhig«, sagte ich. »Ich bin's doch nur.«
Zidi-zidi-zidi!
»Siehst du nicht, wer ich bin?«
»Sei mal eine Minute still, dann bin ich auch schon wieder weg.«
Ich kehrte zu meinem Gebüsch zurück und sorgte dafür, dass ich unsichtbar wurde. Unmittelbar darauf herrschte wieder Ruhe. Das Männchen flötete und sang wie zuvor, und das Weibchen kam zum Nest, um zu schauen, ob alles in Ordnung war, und das war es. Dann schoss es auf der Suche nach der nächsten Traube Würmer davon, und das Männchen redete wieder mit sich selbst, wie gehabt.
In zwei Wochen sind die Jungvögel flügge und kommen alleine zurecht. Fertige Wurmjäger und Beerenpflücker, die im Herbst Kurs auf Frankreich oder Spanien nehmen werden.
Und ich?
Ich ging weiter, in Richtung der gurrenden Taube, am Tränktümpel vorbei, auf dem eine Krickente mit Indianerbemalung schwamm und sich fragte, wer ich wohl sei. Ich machte einen Umweg um den Dachsbau herum und gelangte bald darauf in den wirklich alten Wald, zwischen die uralten Fichten, die dort standen und mit tausend Nadelohren aufhorchten, wenn man näher herantapste, die auf jeden Schritt lauerten, den man machte. Die dicken, hohen Fichtenstämme wie Säulen in einem hohen Saal mit einem Säuseln an der Decke. Der dünne Wind, der durch die Wipfel herabsickerte, die Wintergoldhähnchen, die irgendwo dort oben tuschelten.
Psst -
Nur ein Reh, das einen Zweig abbrach und ins Dunkel floh, so dass sein weißes Hinterteil zwischen den Stämmen auf und ab hüpfte.
Das Reh und die Vögel. Hier leben und wohnen. Fichte werden und sich eine Rinde zulegen.
Jetzt hörte man weiter vorn den Bach. Den Bach, der murmelte und floss, so trocken das Erdreich auch sein mochte - der an einem zog, weil das etwas war, was niemals aufhörte. Ich blickte auf das strömende Wasser herab, das sich um die Steine schlängelte und so schnell die Muster wechselte, dass man...
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