Der erste Tag
Das eigentümliche Veilchenaroma, welches das Fleur de Sel in den Tagen nach der Ernte verströmte, vermischte sich mit dem Geruch von schwerer Tonerde sowie dem Salz und Jod in der Luft, die man hier, mitten im Weißen Land - dem Gwenn Rann, der weitflächigen Salinenlandschaft der Guérande -, mit jedem Atemzug noch stärker roch und schmeckte als anderswo an der Küste. Der besondere Duft erfüllte jetzt, am Ende des Sommers, die gesamten Salzgärten. Die alten Paludiers, die Salzbauern, erzählten, dass er einen zuweilen um den Verstand bringe, Trugbilder und Hirngespinste erzeuge.
Es war eine atemberaubende, bizarre Landschaft. Eine Landschaft aus den vier Elementen, die die Alchemie des Salzes ausmachten: dem Meer, der Sonne, der Erde und dem Wind. Eine große Meeresbucht einst, dann eine Lagune, ein Watt, Schwemmland, das sich geschickte Menschenhand zunutze gemacht hatte, gelegen auf einer Halbinsel, die der tosende Atlantik zwischen Loire und Vilaine geschaffen hatte. Das stolze mittelalterliche Städtchen Guérande - das der Gegend seinen Namen gegeben hatte - markierte die nördliche Ausdehnung der Salzgärten. Im Süden verloren sie sich in das verbliebene Stück der Lagune, auf deren gegenüberliegender Seite Le Croisic mit seinem bezaubernden Hafen lag. Von dort aus konnte man es sehen, ein eindrucksvolles Schauspiel: Im mächtigen Rhythmus der Gezeiten versorgte der Atlantik die Lagune mit Wasser und führte es den feinen Kapillaren der Salzgärten zu. Insbesondere an den Tagen der »grande marée«, der Springflut, den Tagen nach dem Vollmond.
Ganz und gar flach war das Weiße Land, ohne die kleinste Erhebung. Seit über zwölf Jahrhunderten gegliedert in zahllose große, kleinere und sehr kleine mathematisch genau angelegte rechteckige Salinenbecken, die wiederum in willkürlich scheinenden, fließenden Formen aus Erde und Wasser eingefasst waren. Ein unendlich verzweigtes, ausgeklügeltes System von Kanälen, Speicherbecken, Vorwärmbecken, Verdunstungsbecken, Erntebecken. Ein System, das nur einen Zweck hatte: das durch Schleusen eingefangene Meer, so langsam es ging, auf eine Reise zu schicken, auf der Sonne und Wind es dann beinahe restlos verdunsten ließen, bis sich die ersten Kristalle ausbildeten. Das Salz war die reine Essenz des Meeres. »Kind der Sonne und des Windes« nannte man es. Poetische Namen hatte man den Becken gegeben: Vasières, Cobiers, Fares, Adernes, Oillets. Eines der Oillets, der Erntebecken, wurde unverändert seit Karl dem Großen bestellt. Die Erntebecken waren die Heiligtümer der Paludiers, von ihnen, ihrem »Charakter«, hing alles ab: von ihren Böden, den verschiedenen Tonarten und ihren unterschiedlichen mineralischen Zusammensetzungen. Faul, generös, vergnügt, fiebrig, empfindlich, hart, widerspenstig - die Paludiers sprachen von ihnen wie von Menschen. In ihnen wurde unter freiem Himmel das Salz gezogen und gepflückt. Das weiße Gold.
Abenteuerlich schmale, unbefestigte Wege schlängelten sich entlang der Becken und bildeten unentwirrbare Labyrinthe, zumeist nur zu Fuß zugänglich. War das Salzland auch flach, so vermochte man dennoch nie weit zu sehen, bewachsene Erdwälle in verschiedenen Höhen liefen entlang der Becken und Wege. Struppige Büsche, Sträucher, hohe windschiefe Gräser, von der Sonne strohig-gebleicht. Hier und da ein knorriger Baum. Wild verteilt standen die cabanes, die Schuppen der Salzbauern, aus Stein, Holz, Blech.
Und nun, im September, war allenthalben das grell blendende Weiß des sich im Laufe des Sommers zu ansehnlichen Bergen auftürmenden Salzes zu sehen. Kunstvoll gehäuft, oben spitz zulaufend, wie Vulkane, zuweilen zwei, drei Meter hoch.
Kommissar Georges Dupin vom Commissariat de Police Concarneau musste schmunzeln. Es war eine unwirkliche Landschaft. Eine fantastische Szenerie. Verstärkt wurde die Stimmung durch den Exzess aus Farben am Himmel und im Wasser - eine extravagante Schau der verschiedensten Töne von Violett, Rosa, Orange und Rot -, den die untergehende Sonne auslöste. Mit der langsam hereinbrechenden Spätsommernacht hatte zudem nach einem neuerlich brütend heißen Tag eine erlösend frische Brise eingesetzt.
Kommissar Dupin schloss den Wagen ab, einen offiziellen, blau-weiß-roten Polizeiwagen. Der beeindruckend alte und problematisch winzige Peugeot 106 diente dem Kommissariat als allgemeiner Ersatzwagen. Dupins eigener, innig geliebter, gleichermaßen höchst betagter Citroën XM stand seit zehn Tagen in der Werkstatt. Die Hydropneumatik, wieder einmal.
Dupin hatte am Straßenrand geparkt, halb in den Gräsern. Von hier aus würde er zu Fuß gehen.
Es war ein schmales, immerhin noch asphaltiertes Sträßchen, das sich chaotisch durch die Salinen schlängelte. Es war nicht leicht zu finden gewesen, es ging von der Route des Marais ab, einer der drei kurvigen Straßen zwischen Le Croisic und Guérande-Stadt, die überhaupt durch das Salzland führten.
Dupin blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Auf der ganzen Route des Marais war er keinem Wagen begegnet. In den Salinen schien der Tag zu Ende gegangen zu sein.
Er besaß lediglich eine handgezeichnete Skizze des Ortes, zu dem er wollte. Sie zeigte einen Schuppen nahe einer der Salinen, eher Richtung offener Lagune. Vielleicht dreihundert Meter entfernt. Er würde die fragliche Saline suchen, den dazugehörigen Schuppen, und Ausschau halten nach »irgendetwas Verdächtigem« - es war zugegebenermaßen alles abstrus.
Er würde sich einmal umschauen und dann schnurstracks auf den Weg nach Le Croisic machen. So stellte Dupin es sich vor: dass er nach einer kurzen, vermutlich ergebnislosen Inspektion des Ortes eine Viertelstunde später im Le Grand Large eine bretonische Seezunge essen würde, in gesalzener Butter goldbraun gebraten. Und bei einem Glas kalten Quincy auf das Wasser blicken, die hellsandige türkisfarbene Lagune, und langsam im Westen das letzte Licht schwinden sehen. Er war schon einmal in Le Croisic gewesen, letztes Jahr, mit seinem Freund Henri, und hatte beste Erinnerungen an das Städtchen (auch an die Seezunge).
Kommissar Dupin war - ungeachtet der Tatsache, dass es äußerst vage, zweifelhafte, eigentlich lächerliche Gründe waren, die ihn hierhergeführt hatten - ausgesprochen guter Laune am heutigen Abend. Er hatte nämlich das übermächtige Bedürfnis gehabt, endlich wieder ins Freie zu kommen. Fünf Wochen hatte er - mehr oder weniger Tag für Tag - in seinem muffig-stickigen Büro zugebracht. Fünf Wochen! Beschäftigt mit stupider Schreibtischarbeit, formalem Kram, den gewöhnlichen Schikanen der Bürokratie - mit Arbeiten, aus denen das Leben eines echten Kommissars, anders als in Büchern und in Filmen, dann doch immer wieder bestand: neue Dienstwagen für seine beiden Inspektoren, damit einhergehend neue »Vorschriften für die Nutzung der zur Ausübung des polizeilichen Dienstes überlassenen Fahrzeuge«, achtundzwanzig Seiten lang, 9-Punkt-Schrift und praktisch kein Zeilenabstand, »extrem wichtig«, mit einer »Anzahl entscheidender Neuerungen«, wie es vonseiten der Präfektur hieß; eine Gehaltserhöhung für Nolwenn (immerhin!), seine universell-patente Sekretärin, für deren Durchsetzung er zwei Jahre und neun Monate gekämpft hatte; die penible Ablage zweier alter und durchweg unwesentlicher Fälle. Das war sein Rekord gewesen, seit er aus Paris ans Ende der Welt »versetzt« worden war. Fünf Wochen Büroarbeit, in diesen magischen September-Spätsommertagen, deren zauberhaftes Licht das der anderen Monate sogar noch einmal überbot. Wochen eines stabilen, spektakulären Azorenhochs, bilderbuchartig, nicht ein Tropfen Regen war gefallen - »La Bretagne fait la cure du soleil«, die Bretagne macht eine Sonnenkur, hatten die Zeitungen geschrieben. Fünf Wochen, in denen sich Dupins Übellaunigkeit beinahe von Tag zu Tag gesteigert hatte. Es war unerträglich geworden, für alle.
Lilou Brevals Bitte, sich die Saline anzusehen - auch wenn er natürlich überhaupt gar nichts mit diesem Gebiet hier zu schaffen hatte -, war nur ein allzu willkommener Vorwand gewesen, einen veritablen Ausflug zu unternehmen. Jede Ausrede war Dupin am Ende recht gewesen. Und, viel wichtiger: Er war Lilou Breval schon lange etwas schuldig. Der Journalistin des Ouest-France, die sich von Polizeibeamten eigentlich prinzipiell fernhielt - nicht zuletzt weil sie bei ihren Recherchen mit zumeist unorthodoxen Methoden nicht selten in Konflikte mit polizeilichen und gesetzlichen Vorschriften geriet -, die aber irgendwie Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Dupin achtete und mochte sie.
Lilou Breval hatte ihn das eine oder andere Mal mit »gewissen Informationen« versorgt. Im Fall des ermordeten Hoteliers in Pont Aven vor zwei Jahren, der am Ende ganz Frankreich beschäftigt hatte, hatte sie Dupin zuletzt »geholfen«. Lilou Breval war weniger in das journalistische Tagesgeschäft eingebunden, sondern auf die großen Recherchen und Geschichten spezialisiert, sehr bretonische Geschichten zumeist. Investigativ. Vor zwei Jahren hatte sie einen nicht geringen Anteil an der Aufdeckung eines gigantischen Zigarettenschmuggels gehabt: 1,3 Millionen Zigaretten waren in einem riesigen Betonpfeiler versteckt worden, der angeblich für eine Bohrinsel vor der Küste gebaut worden war.
Lilou Breval hatte Dupin gestern Abend angerufen und - das hatte sie noch nie getan - ihn um etwas gebeten: sich einmal »eine bestimmte Saline und einen Schuppen dort« anzusehen. Nach...