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Sosehr der Kommissar selbst gewählte Rituale liebte, so sehr gingen ihm verordnete gegen den Strich. Die Ferien würden eine lange Reihung davon. Auch heute waren sie spät aufgestanden. Waren nach dem Frühstück »gemütlich« zum Strand geschlendert und hatten sich unvermeidlicherweise auf dem Handtuch im Sand niedergelassen. Immerhin, auf dem Weg hatten sie sich bei Dupins neuem Freund Rachid großzügig mit Proviant eingedeckt. Delikat aussehende, hausgemachte Minipizzas mit Chorizo und Sardinen, eine halbe Wassermelone, alles in einer kompakten Kühltasche - der Rosé separat in seinem eigenen Kühler -, die Rachid ihnen für die gesamten Ferientage geliehen hatte.
Ungünstigerweise fehlten die Tageszeitungen. Die Bauern hatten - empfindlicher konnten sie Dupin kaum treffen - den Verkehr seit heute früh um fünf vollständig zum Erliegen gebracht. Blockaden an allen Zufahrtsstraßen. So waren die Zeitungen nicht nach Trégastel gelangt. Bellet hatte nur gleichmütig mit den Achseln gezuckt, nachdem Dupin sie vergeblich auf dem Tisch im Hotel gesucht hatte, wo sie für gewöhnlich lagen.
Schon nach einer Viertelstunde war Dupin vom Handtuch aus zu einem Spaziergang auf die vorgelagerte Steininsel Île du Grand Gouffre aufgebrochen. Bei tiefer Ebbe - besonders an diesen Tagen der Grandes marées, an denen sich das Wasser außergewöhnlich weit zurückzog - lief man einfach auf sandigem Boden hinüber. Er hatte Claire gefragt, ob sie ihn begleiten wolle, sie hatte nur gemurmelt, sie seien doch gerade erst angekommen.
Es war ein schöner kleiner Gang gewesen, der Dupins Laune ein wenig aufgehellt hatte. Dupin mochte die Ebbe. Sie war wie für Spaziergänger gemacht. Jedes Mal gab sie neue, verblüffende Landschaften frei. Eine verrückte rosa Szenerie, wie von einem fantastischen Künstler ersonnen; einzelne der Granitbrocken schienen wie Knetmasse bearbeitet, gezogen, verdreht, geplättet worden zu sein. Eine berauschende Kulisse. Dupin war auf die höchste Steinansammlung geklettert und einmal um das Inselchen herumspaziert. Auf der landzugewandten Seite gab es inmitten von Felsen einen kleinen Streifen mit pudrig weißem Sand. Er würde Claire fragen, ob sie nicht zur Abwechslung einmal hier liegen wollten. Es war noch einsamer, wilder - auch wenn er immer noch nicht verstand, warum ausgerechnet dieses so hübsche Inselchen »der Große Abgrund« hieß. Ohne Zweifel gäbe es eine schauerliche Geschichte dazu.
Im Verlauf des langen Strandtages war Dupin heute noch häufiger schwimmen gewesen als gestern, alle fünf Minuten schätzungsweise, ähnlich oft hatte er weitere Spaziergänge über den Strand unternommen. Zweimal hatte er kalte Getränke bei Rachid geholt, Wasser und Cola. Einmal, schon am frühen Mittag, war er wie gestern ins Hotel zurückgegangen. Wieder die brennenden Augen. Und wieder war er Monsieur Bellet begegnet. Der ihm unter anderem von zwei weiteren »Kriminalfällen« in Trégastel erzählt hatte: Auf dem Festival Moules-lard-frites war am Vorabend offenbar ein Fotoapparat gestohlen worden und dem örtlichen Bäcker - das allerdings schon vor zwei Wochen - drei Säcke Mehl. In dem scheinbar friedlichen Ort gab es offenbar einige kriminelle Energie.
Am Nachmittag war Dupin dann glücklicherweise noch etwas eingefallen: Auch wenn es keine Zeitungen gab, war der Presseladen trotzdem ein guter Grund, den Strand zu verlassen. Dupin würde sich ein Buch kaufen. Ein Buch würde ihn beschäftigen. Claire hatte schon Wochen zuvor überlegt, welche Bücher sie in den Ferien lesen wollte. Eine abenteuerliche Mischung. Irgendetwas mit verborgenen Wirklichkeiten und Paralleluniversen, zwei dicke Bände Proust, einen noch dickeren Band über »interventionelle Herzkathetertechniken«, den neuen Roman von Anna Gavalda, ein Kochbuch über die Bistroküche von Éric Fréchon. Dupin hatte erst am Morgen der Abreise gepackt. Und an kein einziges Buch gedacht.
Er hatte eine wundervolle Stunde im Presseladen verbracht. Und schließlich, nachdem er Dutzende Bücher in der Hand gehabt hatte, einen schmalen Band mit Wandertouren der Gegend gekauft: Les incontournables - Balades à pied: Trégor - Côte de Granit Rose. Äußerst willkommene Anregungen. Gleich vier Ausflüge waren für die unmittelbare Umgebung verzeichnet. »La couronne du roi Gradlon«, ein Spaziergang zu den kuriosesten Steinformationen und schönsten Stränden; »Île Renote«, eine Erkundung der Halbinsel hinter ihrem Strand, ein Naturschutzgebiet; »La Vallée des Traouïéro«, ein anscheinend spektakuläres Tal; »GR 34«, der Paradewanderweg der rosa Granitküste zwischen Trégastel und Perros-Guirec. Es klang alles sehr interessant, und jeder Ausflug würde vor allem eines bedeuten: nicht am Strand liegen zu müssen.
Dupin hätte sich außerdem - ein Reflex - beinahe ein kleines rotes Clairefontaine-Notizheft gekauft und ein paar BIC-Kulis dazu, die klassische Ausrüstung während seiner Fälle. Er benutzte die Hefte nicht erst, seit er - wie sein Vater viele Jahre zuvor - in Paris bei der Polizei begonnen hatte, sondern bereits seit seiner Kindheit. Was niemand wusste: Es war sein Vater gewesen, der ihm sein erstes Clairefontaine geschenkt hatte. Dupin hatte es verwendet, um sich komplizierte Kriminalfälle auszudenken. Fantasien, die für ihn ganz und gar den Charakter der Realität besessen und ihn manchmal über Wochen in Beschlag genommen hatten. Erst im letzten Moment hatte Dupin das rote Heft ins Regal zurückgelegt und ein unauffälliges blaues genommen; natürlich wusste Claire, dass die roten Hefte Arbeit bedeuteten.
Vielleicht würde er sich ja am Strand Fälle ausdenken, so wie früher, um eine Beschäftigung zu haben.
Wozu das Heft auf jeden Fall zu gebrauchen war: Er würde eine Liste von Vorwänden erstellen, warum er das Handtuch in den nächsten elf Tagen verlassen musste. Er würde die Gründe geschickt variieren. Schon gestern waren ihm ein paar Möglichkeiten eingefallen - zum Beispiel, dass er dringend zum Friseur musste, es in Concarneau nie schaffte und die Ferien nun eine ausgezeichnete Gelegenheit boten.
Im Gespräch mit der freundlichen, etwas stämmigen Frau an der Kasse des Presseladens war Dupin eine Frage rausgerutscht. Zum Vorfall in der Kapelle. Zur gestohlenen Statue. Eigentlich hatte er gar nicht vorgehabt, nachzufragen. Die - wie sich während des Gesprächs herausstellte - Besitzerin des Ladens hatte gleich mehrere Vermutungen parat. Für die »vielleicht wahrscheinlichste« Täterin hielt sie eine »mysteriöse Kunstsammlerin« aus London, die für ein Auktionshaus arbeitete und ursprünglich aus Paimpol stammte. Anfang des Jahres hatte sie sich in Trégastel ein Haus gekauft; als Zweitwohnsitz. Das Résumé war dann aber doch sehr vage ausgefallen: »Oder sie war es nicht. Wer weiß es schon? Auf alle Fälle kauft sie ihre Zeitungen anscheinend lieber woanders.«
Auch für den Einbruch in das Eiffel-Haus hatte die Besitzerin eine Erklärung gehabt: »perfekt organisierte internationale Banden«. Um sie sofort wieder zu relativieren: »Oder Dummejungenstreich.« Wie auch immer, die beiden örtlichen Gendarmen, wusste die Besitzerin des Presseladens zu berichten - auch sie sprach nur von »Alan und Inès« -, hatten sich der Vorkommnisse offiziell angenommen.
Die Kapelle Sainte-Anne lag praktischerweise direkt gegenüber dem Presseladen. Dupin war einmal aufmerksam um das Gebäude aus groben hellgraurosa Granitsteinen mit wunderschönem Naturschieferdach herumgelaufen. Er hatte dabei gleich das neue - blaue - Clairefontaine eingeweiht. Die Kapelle samt Anbau besaß drei Zugänge. Dummerweise war sie wegen einer Chorprobe für den »öffentlichen Zugang« gesperrt.
Claire hatte bisher nichts gesagt, wenn Dupin zu seinen kleinen Exkursionen aufbrach, sichtbar kaum Notiz davon genommen, nur minimal genickt oder ein beiläufiges »Aha« hervorgebracht. Dupin hielt es durchaus für möglich, dass ihre Gelassenheit zu einer Art therapeutischen Strategie gehörte: ihn zunächst mit seiner »Unrast« ein Stück weit gewähren zu lassen, um dann so behutsam wie bestimmt zu intervenieren.
»Heute früh«, hatte Claire vorhin aus heiterem Himmel gesagt, »hat die Klinik angerufen. Pierre hat die Grippe.« Pierre war ihr erster Oberarzt in der kardiologischen Chirurgie Quimper. »Er wird ein paar Tage nicht arbeiten können. Sie haben gefragt, ob ich nicht für zwei Tage kommen könne. Sogar Monsieur Lepic, le Directeur höchstpersönlich«, sie hatte das Wort bedeutungsvoll in die Länge gezogen und eine dramaturgische Pause folgen lassen. »Selbstverständlich habe ich Nein gesagt. Jetzt versuchen sie, jemanden aus Rennes zu bekommen. - Es geht auch ohne mich, siehst du.« Claire hatte gegrinst, Dupin leise geseufzt.
Bei Nolwenn hatte Dupin es nach der gestrigen Standpauke nicht mehr versucht. Dafür mehrmals bei Riwal. Und ihn seltsamerweise nur ein einziges Mal erreicht. Sein Inspektor war unnatürlich kurz angebunden gewesen. Es war eindeutig: Nolwenn hatte ihn »instruiert«. Ein spontaner Test hatte es bewiesen. Dupin hatte Riwal nach der Sache mit dem Code und der Résistance gefragt - »Befindet sich Napoleons Hut noch in .« -, was für gewöhnlich längere historisch-bretonische Einlassungen zur Folge gehabt hätte. Heute nicht. Ein definitives Indiz. Mit Mühe hatte Riwal ein »Interessant« hervorgebracht und umgehend auf...
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