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Es war 6 Uhr 30. Kommissar Dupin hatte wirr und unruhig geträumt. Er war zwar um halb eins im Bett gewesen, aber erst um drei eingeschlafen. So richtig tief hatte er erst seit Kurzem geschlafen. Das Telefon hatte einen entsetzlichen Ton. Und war ohrenbetäubend laut. Es war ein neues Gerät, und Dupin war mehrere Male hoffnungslos bei dem Versuch gescheitert, den Ton und die Lautstärke in den vielfältigen Menüs und Untermenüs zu verändern. Er sah Kadegs Nummer. Und nahm den Anruf eigentlich nur ab, um das infernalische Klingeln zu beenden.
»Jemand hat die Versiegelungen an einem der Fenster in der kleinen Seitengasse entfernt und die Fensterscheiben eingeschlagen. Das Fenster steht offen.«
Kadeg hatte nicht einmal gefragt, ob er richtig verbunden war.
»Was? Kadeg! Was ist los?«
Dupin verstand nicht, worüber Kadeg sprach.
»Jemand ist heute Nacht in den Tatort eingedrungen.«
»Ins Central?«
»In die Bar, in der Pierre-Louis Pennec ermordet worden ist.«
»Und hat was gemacht?«
»Keine Ahnung.«
»Keine Ahnung?«
»Die Kollegen aus Pont Aven haben gerade angerufen. Sie haben es nur gemeldet.«
»Jemand ist gewaltsam durch ein Fenster in den Tatort eingedrungen?«
Kadeg zögerte mit der Antwort:
»Streng genommen wissen wir das gar nicht. Nur dass jemand ein Fenster eingeschlagen hat und dass es offen steht. Das, das dem gusseisernen Tor am nächsten ist, also weiter hinten, Richtung Bar, wenn ich es richtig verstanden habe.«
»Ist etwas zu sehen im Restaurant oder in der Bar?«
»Soweit ich weiß, nichts. Keine Verwüstungen, keine Zerstörungen. Aber das ist sicherlich eine vorläufige Aussage.«
»Was soll das heißen?« Dupin kam langsam zu sich.
»Die Kollegen haben nichts Auffälliges gesehen. Aber sie haben natürlich noch keine spurendienstlichen Untersuchungen vorgenommen. Sie haben Reglas benachrichtigt. Das ist sicher das Wichtigste im Moment.«
»Wie ist das aufgefallen? Das Restaurant ist abgesperrt.«
»Der Koch.«
»Edouard Glavinec?«
»Ja, Monsieur le Commissaire.«
»Ist jemand durch die Bar und das Restaurant ins Hotel gekommen?«
»Nein, sicher nicht. Die Tür ist intakt und verschlossen. Da müsste jemand den Schlüssel gehabt haben. Und die haben wir ja sämtlich an uns genommen.«
»Ich mache mich sofort auf, Kadeg. Wo sind Sie?«
»Zu Hause. Ich fahre jetzt los.«
»Gut.«
»Bis später.«
Dupin brauchte zuallererst einen café. Für das Amiral war es noch zu früh. Er hatte sich in seinem letzten Jahr in Paris eine kleine Espressomaschine gekauft. Drei Mal hatte er sie seitdem benutzt, er saß einfach zu gerne im Café. Die Maschine hatte sehr erstaunliche tausend Euro gekostet. Dupin hatte keine Ahnung von Espressomaschinen gehabt, und die Verkäuferin mit den tiefgrünen Augen hatte ihm überzeugend versichert, dass dies die einzige vernünftige Wahl sei. Auch die Bohnen mussten so alt sein wie die Maschine. Es war etwas umständlich, aber als der letzte Tropfen in die kleine Tasse tropfte, war er fast ein wenig stolz.
Fertig angezogen, trat Dupin mit seinem café auf seinen schmalen Balkon, der auf das Meer hinausging wie fast alle Zimmer der Wohnung, die ihm die Stadt zur Verfügung gestellt hatte. In einem der schönsten Häuser Concarneaus, vom Ende des 19. Jahrhunderts, nicht prahlerisch, aber sehr stilvoll, in einem strahlenden Weiß gestrichen. Man schaute direkt auf den Flaubert-Felsen, wie ihn die Concarnesen nannten. Dort hatte Flaubert angeblich immer gesessen, wenn er in Concarneau war. Nur die schmale Straße lag zwischen dem Haus und dem Meer. Rechts führte die Küste zu dem noblen Les Sables blancs, einem langen, blendend weißen Sandstrand mit teuren Villen dahinter, links lag die Hafeneinfahrt mit dem kleinen Leuchtturm und den Bojen, die sich schläfrig in der sanften Dünung wiegten. Das Beste aber war der Blick auf den weiten Ozean. Darüber begann gerade am Himmel der Tag, am Horizont waren Himmel und Meer noch nicht auseinanderzuhalten. Die Sonne würde gleich aufgehen.
Auch wenn die Bohnen alt waren, der café war stark und schmeckte nicht übel. Dupin dachte nach. Er war sich nicht mehr sicher, ob er jetzt überstürzt nach Pont Aven aufbrechen sollte. Das Wichtigste dort war Reglas' Arbeit, da hatte Kadeg recht. Und der emsige Reglas würde sicher rasch dort sein. Vor ihm. Das Ganze schien im Augenblick seltsam. Warum sollte jemand in das Restaurant eingebrochen sein? War der Mörder zurückgekehrt an den Tatort? Die Spuren der Mordnacht - es waren ja fast keine - waren alle dokumentiert. Es sei denn, sie hatten gestern etwas übersehen. Auf alle Fälle war der Einbrecher ein hohes Risiko eingegangen. Einen Tag nach dem Mord in den Tatort einzubrechen - das war Wahnsinn. Es musste einen sehr gewichtigen Grund geben. Oder es war ein Ablenkungsmanöver. Aber wovon? Warum?
Der Fall, das schien nun klar, lag keineswegs so, dass es nach einem Drama, das sich über eine bestimmte, kurze oder lange Zeit entwickelt hatte, zu einem Mord gekommen war und die Geschichte damit ein Ende hatte. Das Drama war noch im Gange, wenn sie es auch noch nicht sehen konnten. Ein Drama, das der alte Pennec vielleicht sogar selbst ausgelöst hatte durch irgendeine seiner Handlungen, nachdem er von seinem lebensbedrohlichen Gesundheitszustand erfahren hatte. Wie auch immer: Dupin musste sich beeilen, das war klar. Der Gang der Ereignisse beschleunigte sich.
Dupin entschied, nicht nach Pont Aven zu fahren. Er würde aufs Kommissariat gehen, um das Gespräch mit André Pennec zu führen, wie geplant. Und auf die Ergebnisse der Spurensicherung warten.
André Pennec wartete bereits im Kommissariat, als Dupin um kurz nach acht das unscheinbare, eher hässliche Gebäude in der Nähe des kleinen Bahnhofs betrat. Ein Zweckbau, Achtzigerjahre. Und nicht einmal sehr geräumig, geschweige denn komfortabel. Zudem konnte Dupin den Geruch des Gebäudes (ein eigenartiger Plastikgeruch, den niemand außer ihm wirklich wahrzunehmen schien) nicht ausstehen, und alle weit geöffneten Fenster der Welt halfen nichts.
»Er sitzt in Ihrem Büro.«
Nolwenn war bereits ganz bei der Sache.
»Bonjour Nolwenn.«
»Bonjour Monsieur le Commissaire.«
»Ich gehe sofort zu ihm. Haben wir schon eine Auskunft, wer Pennecs Testament verwaltet? Ist das Madame de Denis?«
»Sie erwartet Sie.«
Dupin musste lächeln, Nolwenn schaute ein wenig verwundert.
»Halb elf, in ihrer Kanzlei in Pont Aven. Oder wollen Sie zuerst ins Central, wegen des Einbruchs?«
»Nein. Ich will nur informiert werden, wann immer es etwas Neues gibt. Sobald jemand auch nur das Kleinste hat.«
»Das ist doch merkwürdig. Das wird eine immer größere Geschichte«, sie stockte, »und sie ist ja schon jetzt groß genug. Worum könnte es gehen, meinen Sie?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich hab auch alle anderen Informationen, ich gebe sie an Riwal. Sie sollten jetzt .«
»Ja, ja.«
Dupin zögerte kurz, klopfte dann doch symbolisch an seiner eigenen Tür, auch wenn es ihm komisch vorkam, und trat ein.
Er wäre fast zusammengeschreckt. André Pennec sah Pierre-Louis Pennec unfassbar ähnlich. Frappierend. Dass er eine andere Mutter hatte, war ihm nicht anzusehen. Dieselbe Statur, dieselbe Physiognomie. Das hatte seltsamerweise niemand erwähnt.
Er saß auf dem Stuhl gegenüber von Dupins Schreibtisch, machte keine Anstalten aufzustehen und blickte Dupin direkt in die Augen. Ein heller, sehr formeller, steifer Sommeranzug, die im Vergleich zu seinem Halbbruder etwas längeren Haare mit Gel peinlich nach hinten gekämmt.
»Bonjour Monsieur.«
»Monsieur le Commissaire.«
»Gut, dass wir uns sehen.«
»Ich hätte erwartet, dass Sie mich persönlich in Kenntnis setzen.«
Dupin wusste zunächst nicht, was André Pennec meinte, fasste sich aber schnell wieder.
»Das tut mir aufrichtig leid. Mein Augenmerk lag unmittelbar auf den ersten Ermittlungen. Darum hat Inspektor Riwal es übernommen, Sie zu unterrichten.«
»Das ist gänzlich inadäquat!«
»Wie ich sagte, es tut mir aufrichtig leid. Wie ich überhaupt mein tiefstes Beileid formulieren möchte über den Verlust Ihres Halbbruders.«
André Pennec blickte Dupin kalt an.
»Standen Sie sich nahe, Monsieur Pennec? Sie und Ihr Halbbruder?«
»Wir waren Brüder. Was soll ich sagen. Mit allem, was Familie bedeutet. Jede Familie hat ihre Geschichten. Und eine Halbbrüderschaft ist wohl immer eine noch kompliziertere Sache.«
»Was meinen Sie damit?«
»Exakt das, was ich sagte.«
»Ich würde gerne mehr wissen, Monsieur Pennec.«
»Ich sehe keinen Grund, Ihnen private Details über das Verhältnis zwischen meinem Bruder und mir preiszugeben.«
»Sie waren ein radikaler Verfechter der bretonisch-nationalistischen Bewegung Emgann Anfang der Siebzigerjahre.«
Dupin hatte - eine seiner liebsten Vorgehensweisen - vollkommen ansatzlos mit dem Thema begonnen.
»Manche sagen Ihnen Verbindungen zu deren extremem, militärischem Flügel nach, zur Bretonischen Revolutionären Armee.« Dupin macht eine längere Pause. »Es hat Tote gegeben im Kampf gegen die >französischen Unterwerfer<. Nicht wenige.«
André Pennec hatte für einen Augenblick die Kontrolle über seine Gesichtszüge verloren, nur für den...
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