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THOMAS REICHART Leiter des ZDF-Studios Ostasien in Peking
Nordkorea ist ein rätselhaftes Land, das sich vom Rest der Welt abschottet wie kaum ein anderes. Nachrichten und Bilder aus Nordkorea sind rar. Und das, was wir zu sehen bekommen, gibt nur noch mehr Rätsel auf: Ein junger Diktator, der durch rosafarbene Waisenheime stakst, gefolgt von einer Entourage von Hintersassen, die jedes seiner Worte notiert. Ein Diktator, der von einem Balkon am Kim-Il-Sung-Platz in Pjöngjang paradierenden Raketen zuwinkt und in seinen Reden die Welt mit Atomwaffen bedroht. Und im Fernsehen immer wieder dieselbe Nachrichtensprecherin in koreanischer Tracht, die Regimepropaganda verkündet im Duktus von Gewehrsalven.
Über den Alltag der Menschen in Nordkorea aber wissen wir nur wenig. Mich als Fernsehkorrespondenten lässt Pjöngjangs Führung nur ausnahmsweise ins Land. An meiner Seite habe ich dann stets zwei nordkoreanische Begleiter, die jeden meiner Schritte überwachen und mir nur das zeigen, was sie mir zeigen sollen. Rosafarbene Waisenheime zum Beispiel. Es ist eine Inszenierung für ein westliches Publikum, die selbst natürlich schon viel über Nordkorea erzählt. Denn gleichzeitig berichten die Vereinten Nationen, dass jedes dritte Kind unter fünf Jahren in Nordkorea chronisch mangelernährt und in seiner Entwicklung zurückgeblieben sei.
Bandis Kurzgeschichtensammlung »Denunziation« hat seit der ersten Veröffentlichung in Südkorea vielleicht genau deshalb so viel Interesse hervorgerufen, weil sie einen so raren und ungewohnten Einblick gibt in die Alltagswelt der Nordkoreaner. Das Buch wird im Westen von einem guten Dutzend renommierter Verlage herausgegeben und hat ein großes Presseecho ausgelöst. Dabei sind Text und Autor selbst zunächst einmal ein Rätsel. Bandi ist ein Pseudonym, das so viel heißt wie »Glühwürmchen«. Es beschreibt vielleicht ganz gut das Selbstverständnis Bandis, dessen Geschichten von einem düsteren Land erzählen, in dem jede menschliche Regung abseits der Parteilinie in einer Tragödie enden kann. Bandi beschreibt das Elend, das Aufbegehren und das Scheitern seiner Protagonisten wie jemand, der tief ins Dunkel blickt, um den Hoffnungsschimmer zu entdecken.
Wir wissen nicht, wer Bandi ist. Den Weg zur Veröffentlichung hat das Manuskript von einer Hilfsorganisation für nordkoreanische Flüchtlinge über eine international tätige Literaturagentin in den Westen gefunden. Nach Angaben dieser Hilfsorganisation sei Bandi ein Autor, der immer noch in Nordkorea lebe. Das Manuskript habe er über Jahre bei sich versteckt, es sei erst kürzlich über eine Verwandte und Do Hee-Yoon, den Vorsitzenden der Hilfsorganisation, aus Nordkorea herausgeschmuggelt worden. Ob diese Version stimmt, können wir nicht nachprüfen. Denn Doo Hee-Yoon hat erklärt, um die Identität des Autors geheim zu halten und zu schützen, habe er den größten Teil der biografischen Angaben verändert. Außerdem habe er im Text die Namen von Städten oder Regionen geändert, die Nordkoreas Behörden Hinweise geben könnten. Das alles sei zum Schutz des Autors und seiner Familie geschehen.
Angesichts der Ruchlosigkeit, mit der die Kim-Diktatur mit Kritikern umgeht, ist das verständlich. Letztlich sind Autor und Text aber damit auch für uns nicht identifizierbar. Es ist für mich trotz eigener Recherchen in Südkorea deshalb ungeklärt, wer Bandi tatsächlich ist, ob er wirklich in Nordkorea lebt oder lebte, woher das Manuskript stammt und wie es letztlich nach Südkorea kam. Vieles ist vorstellbar, sogar dass Bandi ein Konstrukt ist. Dieser Vorwurf jedenfalls wurde von Kritikern der Veröffentlichung in Südkorea erhoben. Bandis Geschichten sind dort unmittelbar politisch aufgeladen, werden einsortiert in die alles überragende Frage, wie sich der Süden gegenüber dem Norden verhalten solle, wie eine Vereinigung zu erreichen sei. Es gibt in Südkorea bei diesem Thema zwei große Lager: Die sogenannte »Sonnenschein-Politik« versuchte Ende der 90er-Jahre eine Annäherung durch wirtschaftliche Hilfe und Aussöhnung. Dem gegenüber steht ein Lager, das davon ausgeht, Nordkorea müsse weiter isoliert werden, weil nur so der Kollaps des Regimes und damit die Vereinigung möglich sei. In der öffentlichen Debatte in Südkorea werden kritische Berichte aus Nordkorea immer wieder als Rechtfertigung einer solchen Hardliner-Politik gelesen. Bandi und seine Texte wurden so Teil einer Debatte, von der sie möglicherweise gar keine Vorstellung hatten.
Wichtiger als die Fragen um Autor und Herkunft des Manuskripts aber sind die Texte selbst. Sie zeichnet eine große literarische Authentizität aus, ein durchdringender, auch moralischer Blick auf das Leben in Nordkorea. In manchen der Erzählungen erkenne ich Dinge wieder, die ich selbst bei Besuchen erlebt habe.
In »Stadt der Gespenster« gehen ausgerechnet am Morgen des Nationalfeiertages Wolkenbrüche über der Stadt nieder. Drei Monate lang hatten die Einwohner Pjöngjangs die Feierlichkeiten geprobt, alles war genau geplant, nur das Wetter nicht, nicht die schwarzen Wolken am Himmel. Als ich mit meinem Team zu den Feierlichkeiten für den 70. Jahrestag von Nordkoreas Arbeiterpartei im Oktober 2015 nach Pjöngjang durfte, war das ähnlich: Wolkenbrüche am Morgen, an dem Diktator Kim Jong-Un doch eigentlich sich mit wochenlang einstudierten Militärparaden und Massendemonstrationen huldigen lassen wollte. Stunde um Stunde wurde die Abfahrt aus dem Hotel zum Kim-Il-Sung-Platz verschoben. Erst gegen Mittag hörte der Regen auf, und dann ging plötzlich alles ganz schnell. Abfahrt, Ankunft, Aufmarsch - alles innerhalb einer Stunde. Massen befehligen und mobilisieren - das kann dieses Regime zweifellos.
Auch in der Geschichte »Stadt der Gespenster« ist der Himmel plötzlich strahlend blau, und eine Million Menschen stehen von jetzt auf gleich auf dem Platz. »Was war das für eine Macht«, fragt sich die Protagonistin, »die in der Lage war, eine so unglaubliche Leistung zu vollbringen?« Sie wird es kurz darauf erfahren, als nachts die Staatsgewalt kommt, um sie mit Mann und Kind zu deportieren. Was der Familie zum Verhängnis wurde, war ein großes Porträt von Karl Marx, das der kleine Sohn von seinem Bett aus sah und das ihn so verängstigte, dass die Mutter das Fenster verhängte. In den Augen des Regimes ein staatsfeindlicher Akt.
Was ist das für eine Macht, das fragten sich bei der Militärparade auch wir Journalisten. Es schien, als würde ein ganzes Land im Stechschritt und mit martialischem Brüllen an uns vorbeimarschieren. Nordkorea erschien in diesem Augenblick wie eine durchmilitarisierte Gesellschaft, in der der Einzelne keinen Millimeter abweichen darf von der Linie.
Bandis Charaktere aber tun genau das. Sie weichen ab. Viele von ihnen haben an die Versprechungen des Kim-Kommunismus geglaubt. Bandi beschreibt sie als hart arbeitende, aufrichtige Bürger, die einmal auf den Fortschritt und die Zukunft ihres Landes gehofft haben. Umso bitterer ist nun die Erkenntnis, die sie alle auf die eine oder andere Weise haben. In diesem System geht es nicht um sie, nicht um ihr Wohl oder das ihrer Kinder und Enkel, sondern allein um den Fortbestand der Kim-Dynastie. Für den alten Pferdefuhrwerker in »Irya Madya, Schatzpferd!« führt diese Einsicht sogar dazu, dass er seinen Lebensbaum, eine alte Ulme, mit der Axt kurz und klein haut und stirbt.
Die Geschichten entstanden offenbar Ende der 80er- bis Mitte der 90er-Jahre, in den letzten Jahren also der Herrschaft von Kim Il-Sung. Der Kollaps der Sowjetunion hatte schwere wirtschaftliche Folgen für Nordkorea und sorgte dafür, dass sich das Regime nach innen und außen noch mehr abschottete. Man spürt diesen Geist in den Geschichten: den ins vollends Groteske übersteigerten Führerkult, die allgegenwärtige Angst, dass jeder von heute auf morgen zum Verräter werden kann. Diese Abschottung Nordkoreas aus Furcht vor dem Machtverlust hatte katastrophale Folgen. So ließ Pjöngjang zunächst keine Hilfe ins Land, als es in den 90er-Jahren zu einer dramatischen Hungersnot kam, bei der bis zu einer Million Menschen starben. Do Hee-Yoon schreibt, auch Bandi habe in dieser Zeit Familienmitglieder verloren. Der Glaube an die Kim-Diktatur aber ist ihm, den Texten nach zu schließen, schon lange vorher abhandengekommen.
Theoretisch strebt auch Nordkoreas Kommunismus, die sogenannte Juche-Staatsideologie, eine klassenlose Gesellschaft an. Tatsächlich aber ist Nordkoreas Gesellschaft eingeteilt in eine Art Kastensystem, das das Leben und die Zukunftschancen der Menschen entscheidend bestimmt. Das Songbun ordnet die Nordkoreaner entsprechend ihrer Systemtreue und ihres Familienhintergrundes in drei große Gruppen ein: einen verlässlichen Kern, eine schwankende und eine feindliche Klasse. In »Die...
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