Schweitzer Fachinformationen
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Berlin ist in Aufbruchsstimmung. Diese Stadt ist mein Zwillingsbruder. Diese Stadt gehört auch mir. Und ich weiß, ich kann sie nicht verlassen. Am Anfang bin ich fast ausschließlich auf mich konzentriert. Was ich heute entscheide, kippt am nächsten Tag wieder um. Ich habe Fragen, die ich mir noch nicht beantworten kann. Und wenn ich nicht mehr kann, werde ich krank. Paris liegt in meiner Reichweite. Ich suche meinen Platz in der Welt. Hundert Mal am Tag denke ich an Paris. An Paris, Bukarest und Berlin. Dann weiß ich. Paris wird dort bleiben, wo es ist. Und wo es schon immer war. Ich weiß. Paris ist die Welt. Die Welt, wie sie war. Und wie sie immer bleiben wird. Und doch entsteht die Welt neu in Berlin. Eine Welt, an der ich mitbaue. Für Paris bleibt mir noch viel Zeit.
Bukarest oder Berlin? Muss ich denn nach Bukarest? Ich wollte schon immer im Ausland leben. Ich bin meine eigene Heimat. Und doch fühle ich mich jetzt Rumänien verpflichtet. Ich fühle mich meinen rumänischen Freunden verpflichtet, die etwas Neues aufbauen wollen. Ich schaue mich um. Ich schaue mich an. Ich versuche herauszubekommen aus welcher Ecke das Verantwortungsgefühl kommt. Doch es ist nicht leicht zu erfahren. Es ist nicht leicht, jeden Einfluss zu isolieren. Dem wahren Grund in die Augen zu schauen. Bukarest oder Berlin? Auch Ingo und Angelika, meine neuen Freunde, glauben, mein Platz wäre hier. Ich aber bin unsicher. Es ist meine Identität, die verloren geht, fällt mir eines Tages ein. Ich muss zurück, um mich selbst nicht zu verlieren. Ich fühle mich bedroht. Ich wickele mich ein. In einen Kokon. Ziehe mich zurück. Werde eine Schnecke. Bald erkenne ich meine Angst. Ich muss mich nicht mehr ab-oder eingrenzen. Identität ist nicht mit einem Ort verbunden. Trotzdem. Grenzenlos zu sein ist Schwindel erregend.
Atemraubend sind die Tage in Berlin. Der Kopf dreht sich. Ich versuche erschöpft an die Oberfläche zu gelangen.
Berlin ist mein Zwillingsbruder. Mein gespaltener Bruder. Und ich kann ihn nicht verlassen. Ich wittere den Geruch der Mülltonnen im Osten. Ein abstoßender Geruch. Ich gehe vorbei, um an ihnen zu riechen. Und jedes Mal überkommt mich ein Zittern. Ich träume, ich werde an die Tonnen gefesselt. Ich träume, ich kann ihnen nicht mehr entfliehen.
Ich wohne zunächst im Westen in der Carmerstraße. Und dann in der Meinekestraße, in der Wohnung von Ed Kienholz. Ich benutze Porzellangeschirr von KPM und silberne Teelöffel. Ich benutze die silbernen Gabeln und all diese Abfalleleganz, die er vom Sperrmüll und vom Flohmarkt gerettet hat. Die Abfalleleganz des Überflusses. Und dieser Überfluss. Die Tafel aus edlem, elegant verbrauchtem Holz, die Patina der Gegenstände, die Ratten aus den Mülltonen im Osten geben mir ein Gefühl von Poesie.
Ed Kienholz sagt, er wäre ein Bauer. Er ist ein Bauer mit einem beachtlichen Bauch, der gerne Karten spielt. Der gerne spielt, an den Winterabenden, wenn es nichts zu ernten gibt. Der sich die Ernte aus dem Abfall des Lebens sammelt. Sie zu glanzvollen Stücken verarbeitet. Ich lerne von Kienholz, mich über den Abfall zu freuen. Ihn zu schätzen. Mich nicht mehr zu ekeln. Und so lerne ich auch, langsam wieder den Osten zu betreten. Ich gucke mir den Nippes, die Zierdeckchen und die petites dentelles an, die sich bei ihm angesammelt haben. Und sie sind für mich nicht mehr der Ausdruck einer kleinbürgerlichen, engen Welt. Sie werden zum Ausdruck der Geborgenheit und Gemütlichkeit eines Heimes, nach dem sich jeder sehnt.
Ich sehne mich nach der weiten Welt. Und Kienholz hat die weite Welt und sehnt sich doch. Er sehnt sich nach dem kleinen, amerikanischen Haus der Mutter, das ich später in seiner großen Berliner Ausstellung sehen werde. Nein. Er sehnt sich nach der Sehnsucht. Nach dem Gefühl, dass noch nichts Endgültiges passiert ist. Noch nichts verloren ist. Dass man alles noch einmal von vorne anfangen könnte. Dass man noch alle Möglichkeiten, noch alle Joker in der Tasche hat.
Ich sehne mich nach der weiten Welt. Und diese petites dentelles, dieser Nippes, die Engel aus Porzellan, die Kerzen tragen, all das hilft mir, die Sehnsucht nach der weiten Welt zu stillen. Sie zu relativieren. Und ich sehe, wie verwandt unsere Sehnsüchte sind. Dass sie dem gleichen Ort entspringen. Dass Alles in Allem enthalten ist. Und nur diese Sehnsucht zählt. Diese Sehnsucht, die Poesie entstehen lässt.
In die Kienholz-Wohnung bin ich im Sommer 1991 gezogen, als auch meine Familie nach Berlin kam. Ich musste erst alles für den Umzug vorbereiten. Ed Kienholz traf ich jedoch zum ersten Mal im Mai. Ed und Nancy. Denn es war ihm wichtig, dass man sie zusammen, in einem einzigen Atemzug nannte. Nur konnte ich das nicht richtig tun. Denn ich komme aus einem kommunistischen Land. Und kriege Gänsehaut bei dem Wort Kommune. Ich habe niemals in einem Team arbeiten wollen. Von Teamgeist halte ich nicht viel. Und ich hätte Nancy gerne für Nancy gehalten. Und sie nur Nancy genannt. Damit man weiß, dass Nancy nicht gleich Ed ist. Dass sie nicht zu verwechseln sind. Doch waren sie in ihrer Arbeit sehr verbunden. Sie waren in allem ein Paar.
Ich traf die beiden am 8. Mai 1991. Und, wie das Leben so will, ist heute, als ich dies schreibe, der 8. Mai 2001. Das habe ich mir nicht ausgesucht. Es ist einfach so passiert. Vielleicht ist es der Geist von Ed Kienholz, der mich heute beflügelt. Manchmal steckt das Leben voller Überraschungen. Und ein Lichtblick zeigt sich in den dunkelsten Ecken. Ed Kienholz ist ein Lichtblick. An jenem Tag im Mai, als ich ihm begegnete, war ich voller Unruhe. Am Anfang meiner Zeit hier überfiel sie mich ohne Warnung. Und ich war dieser Unruhe ausgeliefert. Ich konnte nichts anderes tun. Ich musste mich dauernd bewegen. Und immer wieder auf die Uhr schauen. Die Stunden zählen. Ich wartete. Dass der Tag verging. Und mein Leben. Ich wartete auf meine Familie.
Als ich die Unruhe nicht mehr ertragen konnte, rief ich bei Kienholz an. Und nach ein paar Worten am Telefon war ich schon unterwegs in die Meinekestraße. Von der Carmer- in die Meinekestraße ist es nur ein Katzensprung. Ed saß mit seiner Frau und vielen Freunden an einem Holztisch und spielte Karten. Er trug einen kleinen Bart, hatte einen dicken Bauch und seine Augenbrauen waren wie kleine Hörner nach oben gewölbt. Sein Blick war verschmitzt. Nancy hatte langes, rötliches Haar und überall Sommersprossen. Einen kleinen Mund. Und eine Zigarette im Mundwinkel. Ihr Blick war weit und nach innen gerichtet. Wir mochten uns vom ersten Augenblick. Sie zeigten mir die Wohnung. Sie hatte fast zweihundert Quadratmeter. Nur die Werkstatt würde uns nicht zugänglich sein. Berlin ist die richtige Stadt. Lassen Sie ihre Familie kommen. Bleiben Sie hier. Ich könnte die Wohnung haben, solange Ed und Nancy nicht in Berlin sein würden. Drei Monate im Jahr müssten wir ausziehen. Das klang verführerisch. Ein Zeichen des Schicksals. Nancy und Ed haben auch drei Kinder. Es ist eine große Chance für die Kinder, sagen sie, so viele unterschiedliche Orte zu erleben. So viele unterschiedliche Schulen. Das ist Lebenserfahrung. Das ist die beste Schule. Wir haben das auch so gemacht. Keine Angst. Sie sind nicht entwurzelt, unsere Kinder. Sie sind überall zu Hause.
Ich bin auch überall zu Hause. Aber hier in Berlin spricht man so viel von Entwurzelung. Einen Moment werde ich verunsichert. Vielleicht entgeht mir etwas. Vielleicht bin ich übermütig. Und maße mir an zu glauben, die Welt gehört auch mir.
Die Werkstatt von Ed und Nancy war immer voll. Freunde, Bekannte und die Assistenten Thomas und Carry. Die Werkstatt war ein riesiger Raum mit Balkon, mit Stuck und einem alten Kerzenleuchter. Die Wände waren bedeckt mit Regalen und Schubladen. Meterweise hingen dort Werkzeuge und Geräte. In einem der Regale standen Flaschen, Gläser, Dosen und Döschen mit Farbe und Klebstoff. Allerlei. Ed und Nancy hatten zahlreiche Helfer und unterhielten eine Werkstatt wie die Maler der Renaissance. In dieser Werkstatt wurde die Serie der »Volksempfänger« geboren. Hier sind »Berlin Women«, »Die Pawn Boys«, die »Hurengracht« und die »Art-Show« entstanden, an der sie damals gerade arbeiteten. Ich sah Masken und Gegenstände, die ich später, nach Eds Tod, in seiner Retrospektive in der Berlinischen Galerie im Gropius-Bau wiedersehen sollte. Manche werden mir für immer im Gedächtnis bleiben.
Thomas und Carry. Jens, Martina und Billy. Bei den Kienholz' war das Haus immer voll. Billy war Doktor der Physik und arbeitete bei der NASA. Martina war Deutsch-Italienerin und lebte in Paris. Sie war die Freundin von Jens. Carry war Amerikanerin und die Tochter jüdischer Emigranten aus Russland. Ich werde als portugiesische Sephardin eingestuft. Es ist nicht das erste Mal.
Niemand denkt an Rumänien. Wir gehen alle ins La Casa Portugues. Ed bestellt eine Paella so groß wie der Tisch. Sangria fließt für alle. Wir reden und lachen. Das Leben. Ich habe vergessen, wie es aussieht. Ich kann lachen. Und entdecke langsam die Freude in Berlin.
Bei Kienholz traf sich Gott und die...
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