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Silvester 2017
Es fühlt sich endlich nach dem Neuanfang an, nach dem ich mich schon so lange sehne. Eine neue Wohnung und eine neue Mitbewohnerin in einer neuen Stadt. Ich bin einmal quer durch Deutschland aus dem Ruhrgebiet nach Berlin gezogen. Ich komme meinem Ziel nach Unabhängigkeit damit ein großes Stück näher. Ich kann mir mein Leben und ein neues Zuhause für meine Schwester aufbauen, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Wenn sie volljährig wird hole ich sie zu mir, bevor sie im Herbst beginnt in Leipzig zu studieren. Wir führen dann ein Leben weit weg von unserer Mutter.
Fürs Leben habe ich mir nur eine Sache geschworen: Ich werde nie wie meine Mutter sein. Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, das sind die großen Ziele, die ich verfolge. Vor allem in Bezug auf Männer. Das liegt weder daran, dass ich über den Durchschnitt hinaus schlechte Erfahrungen gemacht habe, noch, dass ich die Vertreter des anderen Geschlechts nicht leiden kann. Ich brauche sie nicht zum Glücklichsein. Unsere Mutter hat unser Haus nur unterhalten können, wenn sie Stiefväter für mich und meine Schwester Leonie mitgebracht hat, nachdem unser leiblicher Vater einfach gegangen ist. Es gab nette Exemplare unter ihnen. Es gab welche, denen wir ein Dorn im Auge waren und es gab diejenigen, denen wir schlichtweg egal gewesen sind. Die Letzteren waren mir die Liebsten. Dann hatte ich meinen Seelenfrieden und konnte mich in aller Ruhe um Leonie kümmern. Aber eine Sache hatten diese Stiefväter gemein: Sobald Mutter sie wie eine Weihnachtsgans ausgenommen hatte, sind sie von der Bildfläche verschwunden.
Alles was ich mir immer erträumt hatte, war ein normales und einfaches Leben. Ein Leben wie in den Fernsehserien, die ich sehe, oder den Büchern, die ich so gerne lese. Dabei rede ich nicht von den unrealistischen Liebesgeschichten. Niemand erlebt so etwas in der Realität. Liebe auf den ersten Blick? So ein Quatsch. Wenn die Liebe so oberflächlich ist und auf das Äußere fixiert, dann kann sie nicht allzu groß sein. Dann verzichte ich gerne auf sie. Mein Herz hat ohne das Zutun dieser hollywoodverschönten Gefühle über die Jahre genug blaue Flecken bekommen. Nein, was ich meine, sind die Familien in diesen Geschichten. Wie sie miteinander umgehen, sich bedingungslos unterstützen und immer füreinander da sind. Ein Familienleben, das ich nie erfahren durfte und dennoch vermisse.
Damals habe ich mir geschworen, dass ich nicht so ende wie Mutter. Meine Kinder werden keine Vorwürfe hören, dass sie mich zurückhalten, dass sie der Grund sind, warum ich meine Träume nicht verwirkliche. Ich schaffe alles aus eigener Kraft und werde niemandem die Schuld in die Schuhe schieben, sollte ich scheitern. Man muss nur einmal mehr aufstehen, wenn das Leben einen niederstreckt. Ich brauche keinen Mann, der mir wieder auf die Beine hilft.
Ich bin 26. Zwischen mir und meiner Mutter liegen über 500 Kilometer und in zwei Tagen beginne ich einen neuen Job. Ich würde sagen, dass ich durchaus Potenzial habe, um es zu schaffen.
»Ella, ich starte jetzt. Letzte Chance deine Meinung zu ändern«, ruft Linda, meine Mitbewohnerin, aus dem Flur und zerrt mich aus der leidigen Tagträumerei. Eigentlich hatte ich es mir mit einem Buch in meinem Bett bequem gemacht. Nur eine kurze Pause, bevor ich weiter die Kisten auspacke, die noch überall rumstehen. Ich bin noch gar nicht aus meinen Gedanken in die Realität zurückgekehrt, um ihr zu antworten, geschweige denn habe ich die Stelle im Buch zum Wiederfinden markiert, da höre ich sie im Flur fluchen. Keine Sekunde später hallt ein Poltern durch unsere Wohnung. Kurze Stille tritt ein, in der ich meine Ohren spitze. Direkt aufzuspringen habe ich mir inzwischen abgewöhnt. Dazu passieren ihr solche Sachen zu häufig. Ich kann gar nicht mitzählen, wie oft sie die letzten Tage über die Kisten oder noch nicht weggeräumte Dinge gestolpert ist. Mit einer Hand greife ich dennoch nach der Decke, unter der ich in meinem Bett liege.
»Alles okay«, ruft Linda schon und murmelt etwas, das ich nicht verstehe.
Wir wohnen knappe zwei Wochen zusammen und ich bin bereits oft in den zweifelhaften Genuss ihrer Tollpatschigkeit gekommen. In dieser kurzen Zeit sind wir enge Freundinnen geworden. Wir haben uns nicht erst durch das Zusammenziehen kennengelernt. Wir leben beide für gute Bücher und Social Media. Zwangsläufig sind wir uns in der virtuellen Welt über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. Das ist schon ein paar Jahre her. Wie es der Zufall wollte, benötigten wir zur gleichen Zeit eine Wohnung in Berlin. Im Witz schlug unsere gemeinsame Freundin Becca vor, dass wir doch zusammenziehen sollten, um uns die Kosten der Großstadt zu teilen. Aus diesem Einwurf wurde schnell Ernst und wir haben uns selbst gefragt: Warum eigentlich nicht? Wenigstens für den Anfang ist es die ideale Lösung. Zu unserem Glück sind wir uns im realen Leben genauso sympathisch. Linda ist voller Lebensfreude und Licht. Ebenso ist sie tollpatschig und das ist ihr auch bewusst. Sie nimmt es mit Humor. So wie jetzt, wo sie den Flur anscheinend der Länge nach vermessen hat. Sie taucht in der offenen Tür zu meinem Zimmer auf. Ihre blonden langen Haare sind immer ordentlich und ihr Äußeres ist zu jeder Zeit gepflegt. So wird sie auch vor ihrem Sturz ausgesehen haben. Ein paar Strähnen auf ihrem Kopf wurden verwuschelt. Ich schlage die Decke zurück und lege mein Buch zur Seite. Die Distanz zu ihr ist in wenigen Schritten überwunden. So gemütlich unsere Wohnung ist, so winzig ist sie auch. Linda hält still, als ich ihre Haare wieder richte und glatt streiche.
»Geh du aus, Linda und habe Spaß für uns beide, ja?«, lehne ich ihr Angebot ab. Sie weiß, dass ich meine Meinung nicht ändere, aber vielleicht hat sie darauf gehofft. Sicher, es ist aufregend, Silvester das erste Mal in Berlin zu erleben, und die angemessenste Art und Weise das zu feiern ist der Besuch des Brandenburger Tors. Doch mir sind das eindeutig zu viele Menschen und auch ist mir nicht nach Party zumute. Letztendlich flößt mir diese große, fremde Stadt gehörigen Respekt ein.
»So. Jetzt siehst du wieder ordentlich aus«, erkläre ich lächelnd.
»Danke dir«, sagt Linda. »Aber du kannst doch nicht den ganzen Abend alleine in deinem Bett sitzen und lesen«, diskutiert sie weiter.
»Dann kennst du mich noch nicht gut genug«, sage ich lachend. Wirklich. Genau das, was sie eben beschrieben hat, ist meine Idealvorstellung für den Silvesterabend. Linda holt Luft und ich weiß, dass sie noch etwas sagen möchte, aber sie seufzt nur, ebenfalls lächelnd, und zieht mich in ihre Arme. »Danke dir, Ella.« Sie lässt wieder von mir ab und richtet sich auf. Sie strafft ihre Schultern, als würde sie in den Kampf ziehen. Dabei geht sie mit Freunden aus. »Dann sehen wir uns nächstes Jahr, schätze ich.« Linda muss über ihren eigenen Witz lachen und ich gebe ein Glucksen von mir, das man als eine Antwort auf ihr Lachen deuten könnte.
»Wir sehen uns nächstes Jahr«, bestätige ich und dränge sie in die Richtung unserer Wohnungstür. Sie käme sonst nur zu spät oder würde nach Argumenten suchen, mich doch zum Mitgehen zu überreden. Ich tue uns beiden einen Gefallen damit.
»Stell nichts an, was ich nicht auch machen würde und komm mir gesund wieder«, verabschiede ich sie.
»Jawohl, Mama«, lacht sie, als sie das Treppenhaus herunter eilt. Kopfschüttelnd schließe ich die Tür. Ich atme tief durch und lasse mich von der Stille um mich herum einnehmen. Auf dem Rückweg zu meinem Zimmer sehe ich, dass wir nachgelassen haben, was das Ordnunghalten angeht. Ich nehme mich der Aufgabe an, die weniger Zeit in Anspruch nimmt, als ich mir am Ende erhofft habe. Ganz so verwildert haben wir doch nicht gehaust. Nach dem Abwasch, Aufräumen, Abstauben, Bad putzen und Staubsaugen um die verbliebenen Kisten herum, ist noch keine Stunde vergangen. Mit einem aufgeschnittenen Apfel, Tee und dem angefangenen Buch ziehe ich auf die Couch um. Mitten im Kapitel, in dem die zwei Hauptpersonen auseinandergerissen werden, vibriert das Telefon neben meinem Oberschenkel in den Polstern des Sofas. Mit dem Zeigefinger der linken Hand fixiere ich die Stelle im Buch, an der ich bin und nehme mit der rechten das Gerät auf. Eine Nachricht von Becca.
ELLA!
Allein die Tatsache, dass sie meinen Namen komplett in Großbuchstaben schreibt und ein Ausrufezeichen dahinter setzt, lässt mich lächeln. Ich bin gespannt, was sie diesmal so in Aufruhr versetzt. Eine ihrer Lieblingsbands könnte ein Lied angekündigt haben. Sie könnte wieder mal die eine unschlagbare Idee für ihr Buch, an dem sie schreibt, haben, oder ihr Sohn hat ihr offenbart, dass er Comiczeichner wird statt Polizist, was ihre Brust zum Anschwellen bringen würde. Obwohl ihr kleiner Knirps sich später sicher gut in einer Uniform gemacht hätte. Was wird es diesmal sein?
Ich lerne ab heute koreanisch!
Mir entfährt ein lautes Lachen. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Ich weiß, dass ich alleine bin und dennoch sehe ich mich um, ob mich jemand dabei beobachtet, wie ich mir selbst zulache. Ich antworte ihr mit einem GIF von Dean...
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