Forever - Martin Garrix, Matisse & Sadko
Femke
Die riesigen Lautsprecher schreien den Bass durch die Olympiahalle in München, dass dieser in meinem Körper widerhallt, obwohl ich mich noch hinter der Bühne befinde. Es ist der gleichmäßig musikalische Rhythmus, der mein Herz zum Weiterschlagen antreibt. Es sollte mich weniger überraschen, da genau dieser Herzschlag Inspiration für den Hook gewesen ist, der das Intro langsam einleitet. Der Takt des Seins. Ein einsamer und stiller Abend, an dem man nichts um sich herum wahrnehmen kann außer diesen Rhythmus im eigenen Körper, war Grundlage für diesen Song. Höchstens das Rauschen des Blutes in den Adern nimmt man nebenbei noch wahr. Als das Intro für meinen Auftritt einsetzt, wippe ich bereits mit meinen Füßen auf und ab. Das ist mein Leben als DJane im Bereich House, und das ist meine Welt. Dieses Set ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, und doch ist es nie dasselbe. Die Bühne schreit meinen Namen, und nichts kann das Lächeln auf meinen Lippen wegwischen. Die Erwartungen des Münchner Publikums pushen mich zusätzlich nach vorn. Es verlangt mir einiges an Selbstbeherrschung ab, dass ich nicht einfach raus- und hinter mein Mischpult renne, sondern auf meinen Einsatz warte. Ein letzter Blick an mir herab zeigt mir die Kugelschreiberskizze des Nymphenburger Schlossparks auf meinem nackten Oberschenkel, die ich heute Nachmittag darauf gezeichnet habe. Auf meinen Unterarmen habe ich einige der bezaubernden Blüten der Anlage, die mir bei diesem Spaziergang ebenfalls begegnet sind, mit Wasserfarben festgehalten. Meine Haut ist eine Leinwand und die Musik meine Sprache. Mit beidem erzähle ich Geschichten. Ich schließe ein letztes Mal die Augen. Gleich setzen die Lichter und die Laser ein.
In der Dunkelheit stehle ich mich auf die Bühne. Das erste Mal an diesem Abend kann ich einen Blick auf das Publikum werfen. Es ist der Moment, in dem sich die ersten zarten Klänge einer Gitarre zum Bass gesellen. Die Schreie des Publikums werden lauter, doch sie können mich nicht sehen, nur meine Tracks hören. Wenn es nach mir ginge, könnte es den ganzen Auftritt über so bleiben. Sie müssen mich nicht sehen, um die Musik zu spüren. Sie brauchen mich nicht zum Tanzen. Sie brauchen nur die Klänge.
Die Boxen neben mir bringen meinen Körper immer mehr zum Vibrieren und lassen mich wissen, dass ich durchaus noch in der Lage bin, etwas zu spüren. Ich bin hier und die Taubheit hat noch nicht gesiegt. Ich bin lebendig - so lebendig, dass es sich fast wie fliegen anfühlt. Die Anspannung steigt, als ich die Pegel aufdrehe und die Showlichter einem Blitzlichtgewitter gleichen. Selbst mein Atem ist synchron mit meiner Musik. In dem kurzen Moment der Stille, als der Beat aussetzt, hört mich die ganze Halle, wie ich durch das Mikrofon ausatme.
Ich liebe diesen Augenblick. Es fühlt sich jedes Mal so an, als würden wir alle den nächsten Atemzug gemeinsam nehmen, bevor die Hölle losbricht. Der Augenblick, nachdem es kein Zurück mehr gibt. Lichter, Bass, Beat und Melodie kehren mit einem Schlag zurück, und sie bringen die Schreie und Jubelrufe des Publikums mit sich. Mein Körper pumpt mich mit Dopamin voll und ich kann nicht mehr stillstehen. Ich hüpfe auf und ab, wenigstens am Anfang eine Hand in der Luft und eine an den Reglern vor mir, bevor beide fleißig über das Mischpult fliegen. Die ersten Worte des Abends muss ich ins Mikrofon schreien, damit man mich ansatzweise verstehen kann.
»München! Lasst uns ein paar Stunden glauben, dass der Morgen nicht kommt. Unsere Probleme sind ganz weit weg. Hier und jetzt ist der einzige Moment, der zählt. Habt eine wundervolle Zeit!«
Die Tanzwütigen freuen sich genauso über den Tourauftakt wie ich. Wir wollen alle eine unvergessliche Zeit miteinander verbringen. Ich lasse mich von der Stimmung im Raum tragen und übersetze das mit meinem Set, das ich heute nur für sie spiele. Meine Ohren rauschen von der lauten Musik und dem Glücksgefühl, das dieser Moment in mir weckt. Mein Herz klopft weiter im Rhythmus des Beats und mein Körper bewegt sich zur Melodie, die ich darüberlege. Ich liebe diesen Ort.
Hinter dem Mischpult ist der einzige Platz auf dieser Welt, an dem ich mich derart fallen lassen kann und wieder eine Ahnung davon bekomme, wer ich sein kann. Auf den Bühnen dieser Welt trete ich zwar unter dem Namen LibraX auf, aber nirgendwo sonst bin ich mehr ich selbst: Femke. Nur hier lasse ich es zu, dass ich alles spüre.
Wir feiern heute Nacht das Leben, und das Leben feiert uns. Dieses Motto scheint zwischen uns allen in der Luft zu schweben. Der Frühling geht allmählich in den Sommer über und das heißt, dass die Festivalsaison nicht mehr lange auf sich warten lässt. Wir haben alle in den grauen Monaten darauf gewartet. Diese Lebenslust, diese Wanderlust spüre ich in jeder einzelnen Person, die ich vor meiner Bühne in der bebenden Masse ausmachen kann. Wir alle sind froh, endlich wieder für das zusammenzukommen, was wir so lieben: Musik, Freunde und eine gute Zeit.
Vor uns liegt ein Sommer voller Möglichkeiten und Überraschungen. Mein neues Album erscheint und beschert mir noch mehr Auftritte als ohnehin schon. Ich könnte mir keine schöneren Aussichten vorstellen. Diese Freude, Erleichterung und Dankbarkeit spürt man im Raum. Es ist zu meinem Markenzeichen geworden, dass keiner meiner Auftritte dem anderen gleicht. Deshalb kommen die Leute gern wieder oder besuchen mehrere Stationen auf derselben Tour. Sie erleben jedes Mal eine andere Show, eine andere LibraX, eine andere Femke. Die Lichttechniker hassen mich oft dafür, dass ich von der Probe abweiche. Andere sehen es als Herausforderung an, mit mir zu arbeiten. Ich habe sogar gehört, dass, wer eine Tour mit mir durchsteht, überall einen Job findet. Als wäre ich Miranda Priestly aus »Der Teufel trägt Prada«. Aber was soll ich machen? Ich kann meine Musik gar nicht anders spielen.
Meine Wangen schmerzen bereits vom Lächeln, das trotz meiner vollen Konzentration einfach nicht aus meinem Gesicht verschwinden will. Ich kann mir vorstellen, dass meine Augen auch leuchten und dass das nichts mit den Spots zu tun hat, die auf mich gerichtet sind. Song für Song vergeht die Nacht. Meine Stimme kratzt zum Ende hin, weil ich das Schreien und Mitsingen nach meiner kleinen Winterpause einfach nicht mehr gewöhnt bin. Schweiß rinnt mir unter meinem Top den Rücken herab, und die Frisur, in der ich meine kupfernen Haare gebändigt hatte, ist längst ruiniert. Lose Haare kleben an meiner Haut. Die Blüten auf meinen Armen sind verlaufen und sehen aus, als hätte ich kleinen Kindern erlaubt, mich mit Fingerfarben zu dekorieren. Selbst das Headset um meinen Hals kommt mir zeitweise zu heiß vor. Meine Oberschenkel sind das lange Stehen und Tanzen ebenfalls nicht mehr gewöhnt. Der ein oder andere Abend wurde auf der Couch verbracht anstatt auf der Laufstrecke oder der Yogamatte.
Dann kommt der Punkt der Show, über den ich eine heimliche Rangliste führe. Heute wird vielleicht nicht unter die Top Fünf kommen, doch ich versuche, den letzten Ton meines letzten Tracks immer so lang zu ziehen, dass es das Gefühl erweckt, als wäre die Nacht unendlich. Den Ton zu kurz zu halten kann mir kaum passieren, aber man muss spüren, wann es zu lange und das Hören unangenehm wird. Bei jedem Publikum ist dieser Punkt um wenige Millisekunden verschoben. Mal in die Kürze, mal in die Länge. Ich will einfach, dass diese Auftritte nie enden. Ich will in diesem Augenblick leben können. Mich und die Musik spüren und anderen eine gute Zeit bescheren. Doch leider sind diese Nächte eben nicht unendlich, und so gehen auch heute die Lichter viel zu früh aus und die Musik stoppt.
Mein Herz protestiert genauso laut wie die Besucher des Konzerts, als ich mich nach der zweiten Zugabe verabschiede. Doch ich habe jede Sekunde ausgereizt, und Henrik wird schon am Bühnenrand stehen und auf mich warten. Bisher habe ich den Blick in seine Richtung vermieden. Als ich mich endlich von meinem Pult wegreißen kann und die Metallstufen von der Bühne heruntergehe, entdecke ich ihn aber sofort.
»Schwesterherz, das war ein grandioser Auftakt«, lobt er mich und hält eine Wasserflasche in seiner Hand bereit. Er umarmt mich, bevor er sie mir reicht.
»Danke«, sage ich - sowohl für das Lob als auch für das Wasser. Ich bin kurzatmig vom Auftritt, aber noch immer voller Adrenalin. Ein Teil der Farbe von meinen Armen klebt nun am Shirt meines Bruders.
»Hast du Hunger? Wollen wir noch etwas essen?«, fragt er gähnend, dabei ist es nicht einmal Mitternacht. Henrik ist noch nicht in den Schlafrhythmus unseres Jobs zurückgekehrt. Aber das wird sich in den nächsten Tagen und Wochen von selbst einstellen. Ich gewöhne mir nie erst einen anderen an. Ob das gesund ist, weiß ich nicht, aber ich komme aus dem Trott nicht raus. Will ich auch gar nicht. Die Nächte sind für Kreativität reserviert.
»Nein«, sage ich und folge ihm in den Raum, der uns als Garderobe zur Verfügung gestellt wurde. Ich ziehe mich um. Raus aus den verschwitzen Klamotten. Raus aus Glitzer und Shorts und rein in die Jogginghose und einen ausgebeulten Hoodie. Im Hotel werde ich die übertrieben luxuriöse Dusche auf Herz und Nieren...