Schweitzer Fachinformationen
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Friedrich Glasl
Eine Sichtung der maßgeblichen Fachliteratur zu Fragen der Konfliktdiagnose ergibt ein widersprüchliches Bild: Die meisten Autor:innen betonen, ganz auf Diagnosen verzichten zu können, während andere eine Diagnose als unverzichtbare Voraussetzung von gezielten Interventionen sehen.
In Büchern zur Mediation ist selten oder auch gar nicht von Diagnose die Rede. Das gilt beispielsweise für Folberg und Taylor (1984), Besemer in seinem ersten Buch über Mediation (1993), Williams und Williams (1994), Falk, Heintel und Pelikan (1998), Faller (1996), Klammer und Geißler (1999), Bonenkamp, Brenninkmeijer, van Bruggen und Walters (2001), Montada und Kals (2001) und von Hertel (2013).
Andere Autor:innen gehen unterschiedlich intensiv auf Diagnoseaspekte ein. Stephan Breidenbach (1995) stellt als Jurist vor dem Beginn einer Mediation die »Weichenstellungsfrage«, nämlich wie der Konflikt von den Streitenden selbst verstanden wird: Wenn er ein Rechtsproblem betrifft, ist er zu »verrechtlichen«, und wenn er als Beziehungsproblem erscheint, ist er zu »entrechtlichen« (Breidenbach, 1995, S. 53) und kann über Mediation gelöst werden. Für Breidenbach ist deshalb entscheidend, in welcher Phase der Intensivierung sich der Konflikt befindet und wie groß die Machtdifferenzen zwischen den Konfliktparteien sind (Breidenbach, 1995, S. 101 ff.).
Christoph Besemer (1999) baut in seinem späteren Mediationsbuch den Ansatz von Pat Patfoort (1995) aus und widmet den Diagnosefragen nach der personalen und strukturellen Macht der Konfliktparteien viel Aufmerksamkeit. Auch Hannelore Diez (2005) stellt Diagnoseansätze vor und gibt Hinweise für die Bildung diagnostischer Hypothesen.
Viel ausführlicher sind Winslade und Monk (2000), die Urheber der Narrativen Mediation. Sie arbeiten mit den Konfliktparteien sehr beharrlich an der Bewusstwerdung der Konfliktgeschichte und der darin manifesten Muster, um den Konflikt (gemeinsam) zu einer neuen Geschichte umzuformen. Mit Rudi Ballreich (Ballreich u. Glasl, 2019b) stelle ich im Diagnoseteil unseres Mediationsmodells die psychosozialen Konfliktmechanismen dar, weil sie Ansatzpunkte für Interventionen ergeben, und wir gehen noch auf weitere Aspekte der Diagnose ein, die zu beachten sind, wenn mit Mediation nachhaltige Wirkungen erreicht werden sollen.
An diesen Beispielen wird die Vielfalt der Ansichten sichtbar. Um den Hintergrund der unterschiedlichen Auffassungen zu verstehen, habe ich (in Glasl u. Weeks, 2008, und in Bannink, 2009, S. 221-242) mit dem Blick auf Phasengliederungen des Mediationsprozesses drei Hauptströmungen unterschieden:
1. Problembezogenes Vorgehen - mit zwei Unterarten (a) paradigmenorientiert (z. B. Kerntke, 2004; Glasl, 2024), und (b) pragmatisch ergebnisorientiert (z. B. Fisher, Ury u. Patton, 1995);
2. Visionsgeleitetes Vorgehen - mit zwei Unterarten (a) paradigmenorientiert (z. B. Lederach, 2003) und (b) pragmatisch lösungsfokussiert (z. B. Bannink, 2009; Röhrig u. Scheinecker, 2019);
3. Prozessfolgendes Vorgehen (Bush u. Folger, 1994, Schwarz, 1995, Redlich, 1996, Schmidt, 2017). Die prozessfolgende Mediation geht grundsätzlich nicht von einem Phasenkonzept aus, sondern geht immer auf das ein, was die Parteien aktuell und spontan vorbringen. Prozessfolgende Mediation könnte auf jede Diagnose verzichten, weil Mediator:innen die Situation akzeptieren müssen, wie sie sich zu Beginn darstellt, weil sie ohnedies keine wie auch immer geartete Ergebnisverantwortung übernehmen. Aber es erfordert ein besonders waches Wahrnehmen und Verstehen der Situation, die zu Beginn der Mediation besteht - doch auch das ist nach meinem Verständnis Diagnose.
Das folgende Schema stellt die Phasenmodelle der Hauptströmungen einander gegenüber.
Die Schulen der (1) problembezogenen Mediation greifen die von den Konfliktparteien angesprochenen Probleme, deren Entstehung und Hintergründe, im Zuge der Darlegungs- und Vertiefungsphase auf und bearbeiten sie gemeinsam mit ihren Klient:innen. Von der (2) visionsgeleiteten Mediation greift die paradigmatisch orientierte Richtung Probleme und deren Hintergründe auf. Anders geht die (3) lösungsfokussierte Schule mit Diagnosefragen um (siehe Bannink, 2009, Röhrig u. Scheinecker, 2019). Sie stammt aus der lösungsorientierten Psychotherapie und Beratung, die Isoo Kim Berg und Steve de Shazer in den 1980er Jahren - aufbauend auf Watzlawick, Weakland und Fish (1974) und anderen - als Kurzzeittherapie entwickelt haben. De Shazer (1985) geht davon aus, dass eine Einsicht in die Ursachen und Hintergründe des Problems (meistens) nicht erforderlich sei, um mit den Klient:innen eine verbesserte Situation zu schaffen. De Shazer legt seinem Therapieansatz folgende Hauptprinzipien zugrunde:
Abbildung 2-1: Phasenmodelle der drei Hauptströmungen der Mediation
Das Entwickeln einer Lösung hängt nicht notwendigerweise mit dem Problem (oder Konflikt) zusammen. Denn auch wenn das ursprüngliche Problem weiter bestehen bleibt, kann oft eine pragmatische Lösung gefunden werden.
Eine Analyse des Problems dient an sich nicht der Lösungsfindung, hingegen kann das Betrachten der »Ausnahmen« (Situationen, in denen das problematische Verhalten nicht aufgetreten ist) Hinweise geben auf Verbesserungsmöglichkeiten.
Es soll nicht repariert werden, was nicht kaputt ist. Was in der Wahrnehmung der Klient:innen positiv ist, das lasse man besser so bestehen.
Wenn etwas funktioniert, dann mache man damit weiter - auch wenn es etwas völlig anderes ist, als erwartet worden ist.
Wenn eine Methode nicht funktioniert, sollte etwas anderes probiert werden - denn mehr davon wird zu nichts führen.
Folglich lehnt Steve de Shazer eine Diagnose grundsätzlich ab. Das hängt von seinem Diagnoseverständnis ab. Denn unter Diagnose versteht er - analog zur Medizin und zur Psychoanalyse - immer »Ursachenforschung«, die seiner Meinung nach gar nicht hilfreich ist. Der Hintergrund dieser Auffassung ist, dass de Shazer eigentlich nur mit Individuen gearbeitet hat, nicht einmal mit Gruppen, und schon gar nicht mit Organisationen. Und da ist es nicht schwierig, beim Erstkontakt eines Therapieprozesses die für die Therapie relevanten Informationen hier und jetzt zu gewinnen. Sobald wir jedoch mit komplexen Konfliktsituationen zu tun haben, in die viele Menschen oder Gruppen und Institutionen unterschiedlich involviert sind, ist eine eingehende Situations-orientierung erforderlich. Aber für mich hat diese Diagnose - angesichts der zirkulären Kausalität der Konfliktprozesse - niemals den Zweck einer Ursachenforschung! Deshalb darf niemals generalisierend gesagt werden, dass auf eine Diagnose verzichtet werden kann. Und wie überdies de Shazer zu seiner Arbeit im Projekt »Therapiezentrum Brugge« selbst erklärt (siehe Berg u. de Shazer, 2008), nimmt er zu Beginn seiner Therapie sehr wohl eine grobe Orientierung vor, weil er Alkoholiker:innen anders therapiert als Drogensüchtige oder Gewalttätige und andere Klient:innen. Ergo ist entscheidend, was unter Diagnose konkret verstanden wird und welchem Zweck sie dienen soll. Nach meinem Verständnis von Konfliktdiagnose ist sie für situationsgerechte Interventionsansätze unverzichtbar.
Im Unterschied zur speziellen Mediationsliteratur enthalten beinahe alle Publikationen zum Konfliktmanagement Modelle und Anweisungen für die Situationsdiagnose, wenn auch unterschiedlich in ihrer Ausrichtung und Ausführlichkeit. Beispiele dafür sind in zeitlicher Reihung unter anderem Ephron (1961), Pondy (1967), Walton (1969), Lawrence und Lorsch (1969), Galtung (1971), Richter (1970), Filley (1975), Thomas (1976), Glasl (1980 etc. bis 2020), Mastenbroek (1981), Prein (1982), Eckert und Willems (1992), Rubin, Pruitt und Kim (1994), Schwarz (1995), Hugo-Becker und Becker (2000), Lederach (2003; 2008), Kerntke (2004), Ballreich und Glasl (2019b), Glasl und Weeks (2008) und andere.
Im Rahmen des Konfliktmanagements dient eine Diagnose hauptsächlich dem Verstehen der gegenwärtigen Dynamik eines Konflikts und der Betroffenheit der Konfliktparteien, damit darauf mit gezielten Interventionen eingewirkt werden kann. An dieser Stelle können nur einige Autor:innen exemplarisch angeführt werden.
So beschreiben Ephron, Glasl, Kerntke, Lawrence und Lorsch, Lederach, Pondy, Prein und Walton auf der Grundlage systemtheoretischer...
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