Ouvertüre: Die Welt erkunden
Go West, Young Man
Als Kind lese ich alle Indianerbücher, die es in der Schulbücherei gibt. Nachmittags wird alles im Wald nachgespielt. Den Vorwurf kultureller Aneignung kennt man noch nicht. Dann wendet sich das Interesse auch den Waldläufern zu, den Lederstrumpftypen.
Raus in die Ferne!
Zeltlager in den Sommerferien ermöglichen jugendliche Abenteuer, erst in der näheren, dann auch in der etwas ferneren Heimat. So wird das Interesse für die weite Welt geweckt. Mit 17 mache ich eine Reise bis ans Nordkap, das leider völlig im Nebel liegt, als ich ankomme.
Im August 1967, acht Wochen nach dem israelisch-ägyptischen Sechstagekrieg, geht es nach Kairo. Dort erlebe ich zum ersten Mal, dass die Welt gefährlich sein kann - ich werde fast auf der Straße erschlagen, weil ein jugendlicher Mob mich für einen israelischen Spion hält. Aber überall gibt es auch gute Menschen. Einer von ihnen rettet mir das Leben.
Danach trampe ich jedes Jahr in den Semesterferien quer durch Europa. Meine Mutter behauptet später, diese Reisen als Anhalter durchs Ungewisse seien verantwortlich für ihre Herzbeschwerden. Mein Vater freut sich für mich und drückt mir jedes Mal einen 20-Mark-Schein in die Hand, wenn er mich auf dem Weg zum Flughafen Frankfurt zur Bahn bringt. Er hat in seiner Jugend als Handwerker auf Montage alle Ecken Deutschlands kennengelernt und wäre sicher auch darüber hinaus gereist, wenn ihm das damals möglich gewesen wäre.
Der einstmals »Wilde Westen« spukt mir weiter im Kopf herum. Inzwischen habe ich den Jugendjagdschein und träume von der Jagd auf Bär und Elch. Doch wie könnte man das anstellen? Da gibt es allerdings einen Verwandten vierten Grades, der nach dem Krieg ausgewandert ist und als Trapper im Norden Kanadas leben soll. Auf jeden Fall sieht er mit seiner Fransen-Lederjacke und einem Gewehr in der Hand auf einem Foto so aus. Nach einiger Korrespondenz halte ich eine Einladung in der Hand. Später erfahre ich, dass er mich eingeladen hat, damit ich seinem Bruder, dem Ehemann der Cousine meiner Mutter, erzählen kann, wie er lebt. Das Glück hat er jenseits des Atlantiks nicht gefunden.
Ich jobbe ein paarmal in den Ferien, bis ich das nötige Geld zusammen habe. Von »Elternknete« will ich beim Reisen nicht abhängig sein. Als ich mit meinem simplen Wanderrucksack und einem Bundeswehrschlafsack vor dem Einwanderungsbeamten am Flughafen in New York stehe, da gibt dieser mir einen väterlichen Rat mit auf den Weg: »Schlafe nie im Central Park.« Danke für den Tipp, denke ich, aber ihn zu beherzigen, gibt meine knappe Reisekasse von 650 Mark nicht her. Ermordet werde ich dann nicht in New Yorks Stadtpark, wie der Beamte wohl nicht ganz ausschließen wollte. Aber zweimal in der Nacht kommen Polizisten auf Motorrädern und bescheiden mir und ein paar anderen Tramps, wir müssten auf den Parkbänken sitzen und dürften nicht liegen.
Im »Wilden Westen«
Schließlich treffe ich bei meinem Verwandten ein. Er heißt Paul und lebt seit acht Jahren ganz allein im Wald in Alberta, ein paar Stunden westlich von Edmonton. Zuvor hat er als Metzger gearbeitet. Die Farm hat 1700 kanadische Dollar gekostet. Seine Hütte besteht aus einem Raum in der Größe eines deutschen Wohnzimmers. Draußen gibt es ein Klohäuschen, einen kleinen Stall und einen Gemüsegarten. Strom fehlt. Er besitzt einen Petroleumkocher, einen Uralttraktor, ein Schaf und drei Ziegen, die täglich gemolken werden. Zu meinem großen Bedauern hat er kurz zuvor sein Pferd gegen ein altes Auto eingetauscht, dessen Abgase alle im Inneren landen. Fahren ist nur mit offenem Fenster möglich.
Interessanter für mich ist seine Batterie von Jagdwaffen, die an der Wand hängen. Da ist ein kurzer britischer Lee-Enfield-Karabiner aus dem Zweiten Weltkrieg mit Mündungsfeuerdämpfer im Militärkaliber .303. Jahre später erfahre ich, dass es sich dabei um einen »Jungle Carbine« handelt, der vor allem im malayischen Dschungel im Einsatz gewesen ist. Dann besitzt er eine Zehnerflinte. So etwas habe ich noch nie gesehen, danach übrigens auch nicht mehr. Es gibt noch ein verrostetes, abgesägtes Kleinkaliber sowie einen Mannlicher-Schönauer im Kaliber 6,5 mm ohne Munition. Nun bin ich am Ziel meiner Wünsche.
Einige Kilometer entfernt und verstreut im Wald leben ein paar Nachbarn. Die meisten sind lebenslange Junggesellen und ziemlich verlottert. Sie deponieren beim Essen den Kautabak zwischen Oberkiefer und Wange, und viele von ihnen haben irgendeine Marotte.
Am ersten Abend besuchen wir einen vielleicht zehn Meilen entfernten Nachbarn, der in der Saison als Jagdführer arbeitet. Sein geräumiges Blockhaus hängt voller Felle. Er besitzt auch einen Fernseher, und deswegen sind wir zu ihm gefahren. Es ist der 20. Juli 1969 und im TV sehen wir, wie Neil Armstrong seine Raumkapsel verlässt und die ersten Schritte auf dem Mond macht. Wie 500 Millionen andere Menschen hören wir ihn sagen: »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Schritt für die Menschheit«. Das ist schon eindrucksvoll, aber noch interessanter finde ich die Trophäe eines gewaltigen Wildschafs, die über dem Sofa hängt, auf dem ich sitze.
In den nächsten Tagen schieße ich am Fluss die Gewehre ein und erpirsche mir die Gegend. Ich sehe Fährten von Hirschen und Bären und beginne, mit dem KK auf Hühnervögel zu jagen. Mit der Zeit werde ich treffsicher, aber Paul ist ängstlich. Wir haben keine Jagdlizenzen, und es ist gar keine Jagdzeit. Er ist ohnehin ins Visier der Wildhüter geraten, die ihn schon mehrfach auf der Farm heimgesucht und ermahnt haben. Im Brunnen hängen die letzten Reste eines geschossenen Maultierhirsches. Das Fleisch ist stark gesalzen oder angeräuchert und hält sich offenbar einige Wochen lang im feuchten Klima dort. Eine Lizenz könnte Paul nicht vorweisen, wenn die Wildhüter in den Brunnen schauen würden. Die Jagderlaubnis hätte fünf Dollar gekostet, und das Geld kann er nicht entbehren.
Ich treffe mehrfach auf Schwarzbären, höre sie aber nur. Im dichten Gebüsch machen sie sich davon, ohne dass ich sie sehen kann. Paul hat einen Riesenrespekt vor ihnen. Er wurde nämlich einmal von einem angenommen, nachdem er ihn angeschweißt hatte. Seine Enfield leidet notorisch unter Ladehemmungen. Auch damals verkantete sich die Randpatrone. Paul hatte die Knarre weggeschmissen und war geflüchtet. Um einfacher zielen zu können, entfernte er danach die Original-Lochkimme und klebte stattdessen eine Sechskantmutter auf das Gewehr. Durch diese Mutter schaut er und drückt ab, wenn das Korn mittendrin steht. Das ist aber nur etwas für den Nahkampf.
Beutelose Jagdtouren
Es naht die Jagdsaison und Paul lässt sich erweichen, mit mir auf Jagd zu gehen. Ich kaufe ein paar Lizenzen und Lebensmittel, und wir fahren in einen Jagdblock. Unterwegs erstehe ich noch eine rote Warnjacke, denn das ist in Kanada Vorschrift. Bald weiß ich auch, warum. Schon am Abend vor der Jagd wimmelt es in der Landschaft von roten Punkten - alles Jäger. Am nächsten Morgen knallt es überall, nur bei uns nicht. So soll es auch bleiben. Fährten gibt es genug, aber Paul ist kein passionierter Waidmann, sondern Fleischjäger, der am liebsten nach Dunkelheit mit dem Auto die Waldwege hoch- und runtergefahren wäre. In meinem Tagebuch vermerke ich: »Er pirscht nicht, sondern läuft, so laut er kann, und redet dabei.«
Zwischen uns hat es vorher schon geknistert. Ein alter kanadischer Einsiedler und ein deutscher Jugendlicher mit überschäumender Jagdpassion, eingepfercht auf ein paar Quadratmetern - das kann nicht lange gut gehen. Es ist besser, wir trennen uns. Ich schnappe meinen Rucksack und verabschiede mich. Mein Marsch führt mich zu einem anderen Einsiedler, bei dem ich mir vor unserem Jagdtrip einen Karabiner mit einer ordentlichen Visierung ausgeliehen habe. Er hat mich dabei eingeladen, mit ihm zu seiner »trap line« weiter nördlich zu reiten und gegen ein kleines Honorar dort zu jagen.
Als ich bei ihm ankomme, sitzt er gerade in seiner Blockhütte mit der selbst gedrehten Zigarette im Mund und stopft .30 - 30-Patronen. Er legt gleich alles zur Seite und wir gehen raus in seinen Wald, in dem viele Pferde frei rumlaufen und fangen zwei Reit- und zwei Packpferde ein. Sie werden gesattelt und beladen.
Mein neuer Freund Tom sagt: »Ich zeige dir alles nur einmal. Danach musst du es wissen.« Und es gibt für einen Nichtreiter viel zu lernen, z. B. dass man beim Absteigen immer das Gewehr mitnimmt, das in einem Lederfutteral am Pferd hängt. Es könnte ja ein Bär oder Wolf kommen. Oder dass man nicht galoppieren darf, weil dann die Packpferde ihre Ladungen verlieren.
Meine fehlenden reiterlichen Fähigkeiten werden zum ersten Mal getestet, als wir im Wald auf eine frei lebende Pferdeherde treffen. Ein Hengst ist dabei, der sich entscheidet, meine Stute zu besteigen. Fast wäre es ihm gelungen, obgleich ich im Sattel sitze.
Wir kommen schließlich an einer ehemaligen Holzfällerhütte an, von der aus er im Winter seine Fallen stellt. Sie ist schrecklich verdreckt. Die Plastiktischdecke ist von einer klebrigen, dunklen Schicht überzogen. Nur an den Seiten ist sie hell. Denn dort kommen die drei großen Hunde, die uns begleiten, mit der Zunge hin und lecken den Schmuddel ab. Meinen ersten lautstarken Anpfiff bekomme ich, als ich nach dem Abendessen zum Bach vor der Tür gehe, um die Teller abzuwaschen. Die werden stattdessen auf den Boden gestellt, damit die Hunde auch etwas abbekommen. Danach werden sie weiterverwendet.
Ich soll einen Elch schießen. Tom erklärt mir die Gegend und zeigt mir die Himmelsrichtungen. Dann bin ich auf mich allein gestellt. Tom, der sicher...