KAPITEL 1
Roger Seagraves verließ das Capitol nach einem interessanten Meeting, das wenig mit Politik zu tun hatte. Am Abend saß er allein im Wohnzimmer seines bescheidenen Vorstadthauses und traf eine wichtige Entscheidung. Er musste jemanden töten, und dieser Jemand war ein sehr bedeutendes Ziel. Doch für Seagraves war diese Aufgabe nicht beängstigend oder gar erschreckend, sondern eine lohnende Herausforderung.
Am nächsten Morgen fuhr er in sein Büro im nördlichen Virginia. Als er an seinem Schreibtisch in dem kleinen, vollgestopften Raum saß, der genauso aussah wie die anderen Zimmer zu beiden Seiten des Flurs, fügte er im Geiste die kritischen Teile der anstehenden Aufgabe zusammen und kam zu dem Schluss, dass er die Sache keinem Dritten anvertrauen durfte, sondern selbst in die Hand nehmen musste. Seagraves hatte zuvor schon getötet, sehr oft sogar. Der einzige Unterschied war, dass er es diesmal nicht für seine Regierung tun würde, sondern für sich selbst.
Die nächsten beiden Tage verbrachte er mit sorgfältiger Planung, die er in die Erledigung seiner täglichen Pflichten einflocht. Die drei unumgänglichen Gebote seiner Mission waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Erstens: Mach die Sache nicht zu kompliziert.
Zweitens: Sei auf jede Eventualität vorbereitet.
Drittens: Gerate niemals in Panik.
Regel zwei und drei waren schon deshalb wichtig, falls der Plan nicht aufging, was durchaus geschehen konnte.
Es gab noch eine vierte Regel, an die Seagraves sich stets gehalten hatte, die aber eher allgemeiner Natur war: Mach dir zunutze, dass die meisten Dummköpfe sind, wenn es um Wichtiges geht, zum Beispiel ihr Überleben.
Roger Seagraves war zweiundvierzig, ledig und kinderlos. Eine Frau und Nachwuchs hätten seine unorthodoxe Lebensweise komplizierter gestaltet. Im Rahmen seiner bisherigen Tätigkeit für die Regierung war er um die halbe Welt gereist und hatte immer wieder falsche Identitäten angenommen. Zum Glück war es im Computerzeitalter erstaunlich einfach, in die Rolle eines anderen zu schlüpfen. Ein paar Anschläge auf der Tastatur des Dell-PC, schon summte irgendwo in Indien ein Server, und aus einem Laserdrucker schob sich ein neues Ich mit allem offiziellem Drumherum und einem ausreichenden Kreditrahmen.
Seagraves konnte sich fast alles, was er brauchte, auf einer Internetseite besorgen, für die er ein sorgsam gehütetes Passwort benötigte. Diese Internetseite war eine Art Supermarkt für Mord & Totschlag, die Seagraves' kriminelle Kunden manchmal »EvilBay« nannten. Dort konnte man praktisch alles erwerben, von erstklassig gefälschten Ausweisen und gestohlenen Kreditkartennummern bis hin zu den Diensten professioneller Mörder oder Waffen nicht nachvollziehbarer Herkunft, wenn man den Mord selbst begehen wollte. Normalerweise erwarb Seagraves das benötigte Material von einem Händler, mit dem 99 Prozent seiner Kunden zufrieden waren und der eine Geld-zurück-Garantie anbot. Auch Killer legen Wert auf Qualität.
Roger Seagraves war groß, gut gebaut und gut aussehend mit seinem dichten, gewellten Blondhaar. Oberflächlich betrachtet wirkte er sorglos und lässig mit seinem ansteckenden Lächeln. Praktisch jede Frau warf ihm einen zweiten Blick zu, und mancher neidische Mann ebenfalls - ein Umstand, den Seagraves oft zu seinem Vorteil nutzte. Wenn man jemanden ermorden oder betrügen muss, sollte man die Mittel, über die man verfügt, so effektiv wie möglich einsetzen. Das hatte Seagraves bereits in Diensten der Regierung gelernt. Obwohl er im Prinzip noch immer für die Vereinigten Staaten tätig war, arbeitete er auch für sich selbst. Seine offiziellen Pensionsansprüche reichten bei weitem nicht, um ihm den angenehmen Ruhestand zu ermöglichen, den er seines Erachtens verdient hatte, nachdem er so viele Jahre sein Leben für die rot, weiß und blau gestreifte Flagge riskiert hatte. Wobei sie für ihn hauptsächlich rot wie Blut gewesen war.
Am dritten Nachmittag nach seinem erleuchtenden Besuch im Capitol veränderte Seagraves sorgsam seine Gesichtszüge und zog sich mehrere Kleidungsstücke über. Als es dunkel wurde, fuhr er mit einem Van in die exklusiveren Ausläufer des nordwestlichen District of Columbia, wo auf den Grundstücken der Botschaften und der protzigen Villen bis an die Zähne bewaffnete Wachleute patrouillierten.
Seagraves parkte auf dem Hinterhof eines Gebäudes gegenüber von einem exklusiven Club, der in einem eindrucksvollen georgianischen Backsteinbau untergebracht war. Der Club wurde von Leuten besucht, die von Geld und Politik besessen waren, und davon gibt es in Washington mehr als in jeder anderen Stadt der Welt. Diese Leute mochten es, im Club zusammenzusitzen und nach Herzenslust über Parteien, Politik und Protektion zu sprechen, obwohl es nur mittelmäßiges Essen und durchschnittliche Weine gab.
Seagraves trug einen blauen Overall mit der Schablonenaufschrift »Service« auf dem Rücken. Der Schlüssel, den er zuvor angefertigt hatte, passte in das einfache Schloss des leerstehenden Gebäudes, das auf eine umfassende Renovierung wartete. Den Werkzeugkasten in der Hand, nahm Seagraves immer zwei Stufen auf einmal bis ins oberste Stockwerk und betrat einen Raum, der zur Straße lag. Er leuchtete mit einer Taschenlampe, bis er das einzige Fenster entdeckte, das er bei einem früheren Besuch aufgebrochen und geölt hatte, um unliebsame Geräusche zu vermeiden.
Nun öffnete Seagraves den Werkzeugkasten und setzte schnell und geschickt sein Scharfschützengewehr zusammen, brachte den Schalldämpfer an, hebelte eine einzige Patrone in die Kammer - er litt nicht gerade an mangelndem Selbstvertrauen -, kroch vorwärts und schob das Fenster fünf Zentimeter auf, gerade weit genug, um den Schalldämpfer durch die Öffnung zu bekommen. Er sah auf die Uhr und schaute dann von seinem Aussichtspunkt die Straße rauf und runter, ohne befürchten zu müssen, entdeckt zu werden, da das Gebäude, in dem er sich befand, in völliger Dunkelheit lag. Darüber hinaus war das Gewehr sehr unauffällig: Es verfügte über Camoflex-Technik und wechselte die Farbe, um sich dem jeweiligen Hintergrund anzupassen.
Ach, was der Mensch nicht alles vom primitiven Nachtfalter gelernt hatte.
Als die Limousine und der erste Wagen mit den Leibwächtern vor dem Club hielten, zog Seagraves das Fadenkreuz auf den Kopf eines der Männer, die aus dem Fahrzeug stiegen, schoss aber nicht. Noch war es nicht an der Zeit. Das Clubmitglied verschwand im Gebäude, gefolgt von seinen Sicherheitsleuten, stiernackigen Typen in dunklen Anzügen und mit Empfängern im Ohr. Seagraves beobachtete, wie die Limousine und der Wagen des Sicherheitspersonals wieder losfuhren.
Wieder blickte er auf die Uhr: noch zwei Stunden. Erneut beobachtete er die Straße unter ihm. Aus weiteren Privatwagen und Taxen stiegen Frauen mit ernsten Gesichtern. Sie trugen weder Klunker von De Beers noch Modelle von Versace, sondern schlichte, elegante Kostüme von der Stange und geschmackvollen, dazu passenden Schmuck. Die Männer, die sie mit genauso ernsten Mienen begleiteten, zeichneten sich durch Nadelstreifenanzüge, langweilige Krawatten und offensichtlich schlechte Laune aus.
Es wird nicht besser, meine Herren, glauben Sie mir.
Zwei Stunden verstrichen quälend langsam, doch Seagraves' Blick wich keine Sekunde von der Backsteinfassade des Clubs. Durch die großen Fenster sah er das Treiben der Leute, die Drinks in den Händen hielten und sich leise, beinahe verschwörerisch unterhielten.
Okay, schreiten wir zur Tat.
Seagraves schaute noch einmal rasch über die Straße. Keine Menschenseele sah in seine Richtung. Im Lauf seiner Karriere hatte er herausgefunden, dass so gut wie nie jemand zu ihm blickte. Er wartete geduldig, bis das Zielobjekt sich ein weiteres Mal ins Fadenkreuz bewegte; dann betätigte er mit dem behandschuhten Finger den Abzug. Er schoss nicht gern durch eine Fensterscheibe, obwohl bei der Munition, die er benutzte, das Glas die Flugbahn nicht beeinflusste.
Plop! Dem Geräusch folgte augenblicklich das Klirren von Glas und der dumpfe Aufschlag, mit dem die pummelige Leiche auf den gebohnerten Eichenfußboden prallte. Der Ehrenwerte Robert Bradley hatte beim Einschlag der Kugel nicht den geringsten Schmerz verspürt. Er war tot gewesen, ehe sein Gehirn dem Mund befehlen konnte: Schreien!
Gar nicht mal so übel, ging es Seagraves durch den Kopf. Es gibt schmerzhaftere Alternativen, sich von dieser Welt zu verabschieden.
Er legte das Gewehr ganz ruhig ab, zog den Overall aus und enthüllte die Polizeiuniform darunter. Er setzte eine dazu passende Mütze auf und stieg die Treppe zum Hintereingang hinunter. Als er das Gebäude verließ, hörte er die Schreie von der anderen Straßenseite. Seit dem Schuss waren lediglich neunzehn Sekunden verstrichen - Seagraves hatte im Kopf mitgezählt. Nun bewegte er sich schnell die Straße entlang, wobei er weiterhin die Sekunden zählte. Als im nächsten Augenblick die sorgfältig choreografierte Szene eingeleitet wurde, hörte er das laute Aufheulen des Automotors. Sofort rannte er los und zog dabei seine Pistole. Er hatte fünf Sekunden, um ans Ziel zu kommen. Gerade noch rechtzeitig stürmte er um die Ecke und wurde fast von der Limousine überfahren, als sie an ihm vorbeiraste. Im letzten Augenblick sprang er zur Seite, rollte sich über die Schulter ab und kam auf der Mitte der Fahrbahn zu liegen.
Von der Straßenseite aus riefen Leute ihm etwas zu und zeigten auf den Wagen. Seagraves drehte sich um, packte die Waffe mit beiden Händen und feuerte auf die Limousine. Die Platzpatronen klangen wie echte Munition. Er gab fünf Schüsse ab, sprintete einen halben...