Kapitel 8
Vergesst Konstantin nicht« hatte einen Höhepunkt erreicht. In fünfzig Ländern kam es zu antirussischen Demonstrationen, und die Vereinten Nationen hatten einen wütenden Präsident Gorschkow formell um eine ausführliche Stellungnahme ersucht. Und doch versuchten ruhigere und skeptischere Geister einen Wall gegen die Flut antirussischer Sentiments zu errichten.
Eine Vielzahl Politiker, Journalisten und Leute aus diversen Think-Tanks, die in der Vergangenheit rasch mit einem Urteil bei der Hand gewesen waren, mahnten nun zu Vorsicht und Zurückhaltung infolge der »Vergesst Konstantin nicht«-Welle. Immer mehr Fragen waren aufgetaucht, was die Authentizität von Mann und Video betraf, besonders angesichts der detaillierten Dementis der russischen Regierung, die zudem regierungsfernen Medien einen nie zuvor gekannten Zugang zu ihren Akten gewährt hatte. Kurz nach dieser Kooperationsmaßnahme seitens Moskaus war das weltweite Ressentiment, Russland sei das leibhaftige Böse, ein wenig abgeebbt, und überall auf der Welt atmeten Politiker wieder ein bisschen leichter.
Doch es war die Ruhe vor dem Sturm.
Zwei Tage später erlitt die Welt erneut einen kollektiven Schock, als - verteilt von Servern auf allen Kontinenten - die Namen Tausender Russen auftauchten, die angeblich von ihrer Regierung ermordet worden waren. Auf dieser Liste standen Männer, Frauen, Kinder, Junge, Alte, Schwangere und Behinderte. Und zu jedem Namen gab es ein Gesicht, Details aus dem Leben und Einzelheiten über den grausamen Tod. Doch schlimmer noch war, dass alle diese Daten Indizien aufwiesen, dass sie tatsächlich aus offiziellen russischen Akten stammten. Die Betreff-Zeile war schlicht und schrecklich zugleich: »Es ist nicht nur Konstantin, den ihr nicht vergessen sollt.«
Kurz darauf meldeten sich sogenannte Experten - ausgebürgerte Russen und Personen aus ehemaligen Ostblockstaaten - im Fernsehen, im Radio und im Web, um Russland für dessen vermeintlichen Rückfall in alte, schreckliche Zeiten des Weltherrschaftsstrebens zu geißeln.
Es war, als hätte das Bild des armen, gefolterten Konstantin, gestützt von Tausenden »neuen« Toten, den Menschen endlich den Mut verliehen, die Wahrheit zu sagen. Eine eher bizarre Nebenwirkung war, dass plötzlich Kaffeebecher und T-Shirts mit Konstantins geschundenem Gesicht den Weltmarkt überfluteten; er war offenbar der Che Guevara seiner Generation. Die Sechziger kehrten auch in anderer Hinsicht wieder zurück: mit Bildern von Atompilzen in jedermanns Kopf.
Leute, die behaupteten, mit Konstantin verwandt oder befreundet gewesen zu sein, erschienen an den verschiedensten Orten weltweit in den Nachrichten und erzählten die Leidensgeschichte eines Mannes, der nie existiert hatte. Trotzdem sponnen sie voller Leidenschaft ihr Garn; offenbar hatten sie sich selbst davon überzeugt, dass Konstantin real war und dass sie ihn gekannt hatten. Er war ein Märtyrer, berühmt und geliebt, und nun waren sie es auch. Ihre gequälte Erscheinung fesselte die Aufmerksamkeit und die Herzen von Menschen auf der ganzen Welt.
Die Talkshowmaster und Nachrichtensprecher stellten diesen Leuten viele tiefschürfende Fragen wie: »Das alles ist sehr beunruhigend, meinen Sie nicht?«, oder: »Wenn er noch leben würde, welche Botschaft würde der arme, ermordete Konstantin unseren Millionen Zuschauern wohl übermitteln wollen?«
Auf einem Kanal der BBC erklärte ein Mann weise: »In einer Welt mit wenig Energie und noch weniger Wasser, einer Welt, in der jeden Tag neue Feinde aus dem Boden sprießen, sind die Russen offenbar nicht bereit, nach Ländern wie China, Indien oder sogar den Vereinigten Staaten die zweite Geige zu spielen.« Der Mann fügte hinzu, die Russen hätten es mit der Demokratie versucht, sie jedoch abgelehnt. Der Russische Bär habe sich wieder erhoben, und die Welt dürfe da verdammt noch mal nicht wegschauen.
Und die Welt hatte nicht weggeschaut, denn der Sprecher dieser Worte war niemand anders als Sergej Petrow, die ehemalige Nummer zwei in der Nachfolgeorganisation des KGB, dem Föderalen Sicherheitsdienst, kurz FSB. Nur mit Mühe und Not hatte Petrow aus seinem Heimatland fliehen können. Er rechne jeden Tag damit, sagte er, für seine Kühnheit von einer Kugel, einer Bombe oder einem tödlichen Kaffee mit Polonium 210 niedergestreckt zu werden. Auch war er für seine Bemerkungen sehr gut bezahlt worden - von einer Quelle, die er nicht kannte. Die Menschen versuchten noch immer herauszufinden, ob das alles nun der Wahrheit entsprach oder nicht. Von Petrow jedoch bekamen sie dabei keine Hilfe; er hatte nichts mehr für sein Heimatland übrig.
Doch die wirkliche Frage, die jeden beschäftigte, lautete: Wer steckt hinter alledem, und warum tut er das? Obwohl man im Informationszeitalter lebte, vermochte niemand, eine definitive Antwort darauf zu finden - und dies aus einem ganz bestimmten Grund, den die meisten Leute übersahen: Im Informationszeitalter gibt es nicht Millionen Verstecke - es gibt Trillionen.
Die vielfältigen Krisen im Nahen Osten waren vergessen. Der verrückte Kim aus Nordkorea wurde auf die letzten Seiten verdrängt. Jedem amerikanischen Präsidentschaftskandidaten für die bevorstehenden Wahlen stellte man dieselbe Frage: »Was beabsichtigen Sie wegen eines Landes zu unternehmen, das über fast genauso viele Nuklearwaffen verfügt wie die Vereinigten Staaten und das auf eine ganze Reihe ehemaliger politischer Führer zurückblicken kann, die nichts Geringeres angestrebt haben als die Weltherrschaft?«
Besonders die amerikanische Öffentlichkeit war außer sich. Hatten sie die ganze Zeit Geld und Leben im Nahen Osten verschwendet, während die Russen insgeheim daran gearbeitet hatten, die freie Welt zu zerschmettern? Russland hatte Tausende von Atomsprengköpfen, die es überall auf dem Erdball zum Einsatz bringen konnte. Dagegen sahen bin Laden und seine al-Kaida wie Taschendiebe aus. Wie hatten die vielen klugen Köpfe das übersehen können?
Und wenn die amerikanische Öffentlichkeit erst einmal außer sich war, ließ sie es Washington spüren: Der amtierende Präsident, der sich zur Wiederwahl stellte, sah sich in den Umfragen vom ersten auf den fünften Platz zurückfallen, als seine Konkurrenten ihm Nachgiebigkeit gegenüber Russland vorwarfen. Jede bedeutende Zeitschrift hatte Konstantins Bild auf dem Cover. Jede Politshow, von Hardball bis zu Face the Nation und Meet the Press, jeder Blog, jeder Chatroom und jedes Cybercafe kannte nur noch ein Thema: den Aufstieg Russlands, die mögliche Wiedergeburt des Kalten Krieges und sogar die Wiedererrichtung eines Eisernen Vorhangs, den unsensible Zeitgenossen schon in »Titansarg« umgetauft hatten.
Am lautesten schrien die politischen Talkshowmaster von ihren mit Milliarden Watt erleuchteten Bühnen; sie behaupteten, die potenziellen Gefahren schon seit Langem gesehen zu haben, während alle anderen wie gebannt auf den Nahen Osten gestarrt hatten. Kollektiv brüllten sie: »Ich spreche für den Mann von der Straße, wenn ich sage: Jagt die verdammten Roten in die Luft, ehe sie uns in die Luft jagen! Anders geht es nicht!«
Die großen Fernsehsender gruben körnige Schwarzweißbilder von Atombombentests aus. Mindestens zwei Generationen Amerikaner sahen zum ersten Mal Bilder von Schulkindern in den Sechzigern, die mit großen verängstigten Augen unter ihren Schultischen kauerten, als könnten Glas und Sperrholz sie vor einer thermonuklearen Explosion schützen. Dazu kamen Bilder von Kommunisten, die ihre militärische Macht vor dem Kreml zur Schau stellten. Jeder bekam mit einem Mal eine Höllenangst.
Wie es in einem Bericht geschmacklos hieß: »Wenn Moskau New York mit Nuklearwaffen trifft, stürzen nicht nur zwei Gebäude ein, sondern alle.«
Das US-Militär, das potenziell einzige Gegenmittel gegen Moskaus Armee außer vielleicht Chinas drei Millionen Mann starke Kriegsmaschine, lag am Boden; Moral und Maschinen waren im Irak und in Afghanistan förmlich versandet. Zwar traf es zu, dass die amerikanische Luftwaffe und Marine es problemlos mit allem hätte aufnehmen können, was die Russen ihnen entgegenzusetzen hatten; trotzdem hielten die Vereinigten Staaten und der Rest der Welt kollektiv den Atem an. Schließlich wusste niemand, was die verrückten Russen als Nächstes tun würden. Eines schien der Planet jedoch zu wissen:
Das Reich des Bösen war zurückgekehrt.
Nicolas Creel legte seine Zeitung hin und stellte den Kaffee beiseite. Zurzeit flog er 12 000 Meter über der Erde zu einem äußerst wichtigen Event. Man hatte ihn über die neuesten Entwicklungen informiert. Die Dinge liefen hervorragend. In der Sprache der Experten befand die Welt sich nun im Zustand des »Zupackens«, in dem die Mehrheit der Leute alles glaubte, was man ihnen sagte. Diesen Zustand zu erreichen war viel einfacher, als die meisten je zu glauben gewagt hätten. Menschen zu manipulieren war ein Kinderspiel; man hatte es schon immer getan mit dem Ergebnis, dass die Welt schon mehrmals nahe am Abgrund gestanden hatte.
Just in diesem Augenblick jagten die Digitalbilder durch die globalen Netzwerke: Die Gesichter Zehntausender, die angeblich von den Russen ermordet worden waren, schauten flehentlich zum Rest der Menschheit. Es war ein taktisches Manöver, das Creels Perzeptionsspezialist gerne einen »Vesuv« nannte - nach dem Vulkan, der die römischen Städte Pompeji und Herculaneum vernichtet hatte. Allein durch ihre ungeheure Masse ließen die digitalen Bilder jedes Leugnen seitens Moskau absurd erscheinen, auch wenn es die Wahrheit war. Es war Teil eines klassischen Vorgehens, das Creels Mann als »die drei Ms«...