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Meine Mutter war griechische Amerikanerin, und obgleich demnach wohl Englisch meine Muttersprache ist, so war ich doch in Athen geboren und fühlte und träumte auf Griechisch. Aber ich habe es nicht so mit Geographie. Ich hänge mein Herz nicht an Orte. Die raumlose Universalität des Meeres mit seinem ganz anderen Zeitverlauf liegt mir mehr.
Auch wenn es Jahre zurückliegt, vermisse ich immer noch die langen Fahrten über den Pazifik: die geborgene Abgeschiedenheit, den Morgen, der sich aus dem Wasser hebt, als öffnete sich ein Schatten, das leise Grauen angesichts des ersten Zipfels Lands, wie der Absturz nach einem Höhenflug. Wie anders die Welt vom Meer aus aussah. Der Anblick eines Hafens löst heute nicht mehr die gleiche Leere aus, aber das Meer gibt mir auch nicht mehr die gleiche unbändige Freude. Alles scheint gedämpft, meine Emotionen weniger extrem, als setzten sie sich irgendwo in der Tiefe an einem unzugänglichen Ort ab. Das wahre Kennzeichen des mittleren Lebensalters.
Katerina, meine Frau, arbeitet seit September in Brüssel für die EU und hat wegen meiner unregelmäßigen Arbeitszeiten auf See die Zwillinge mitgenommen. Zumindest war das der Grund, den wir ihnen für diese Übereinkunft nannten. Nikos und Ifigenia sind neun und wissen nicht, dass ich nicht mehr arbeite. Katerina und ich haben uns getrennt, müssen aber erst herausfinden, was das genau bedeutet. Es ist nicht so, dass wir die Anwesenheit des anderen nicht genießen würden. In jüngeren Jahren gab es Zeiten, in denen ich es eilig hatte, heimzukommen, weil das Getrenntsein unerträglich schien. Manchmal wartete sie sogar im Hafen. Mir hatten die langen Abwesenheiten in den vergangenen Jahren nicht mehr viel ausgemacht, ihr hingegen wohl manchmal schon.
Kurz nach Katerinas Umzug nach Brüssel im Herbst letzten Jahres wurde ihre Schwester arbeitslos und zog mit ihrer Tochter in unser Haus in Kifisia. Wir hatten es ihnen übergangsweise angeboten. Mir war es sowieso recht, im Stadtzentrum von Athen zu wohnen, in der Wohnung, in der ich mein ganzes Erwachsenenleben lang ein und aus gegangen bin. Vorstädte habe ich nie gemocht. Und in Kifisia - jedes Mal, wenn ich es ausspreche, höre ich den Hohn meines Vaters, zutiefst bourgeois - fühlte ich mich so weit ab vom Schuss wie ein Schiffbrüchiger. Wir hätten in Piräus wohnen können, in Glyfada oder Neo Faliro: irgendwo in Hafennähe eben. Aber Katerina wollte, dass die Kinder es nicht weit zur Schule hatten.
So blieb ich auch in der Athener Wohnung, nachdem Katerinas Schwester ausgezogen war, weil sie Arbeit in Thessaloniki gefunden hatte. Doch jetzt kamen Katerina und die Kinder übers Wochenende nach Hause - sie hatte den Zwillingen versprochen, dass sie beim Geburtstagsfest ihres besten Freundes dabei sein könnten -, und ich musste dort sein, in unserem ehemaligen Haus in Kifisia, so wie jedes Mal, wenn sie anreisten.
Obwohl ich mein Herz nicht an Orte hänge, habe ich die Athener Wohnung liebgewonnen. Aber diese Tage des Wartens auf Katerina und die Kinder verbrachte ich in einem seltsamen Schwebezustand. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Stattdessen irrte ich durch die Zimmer, stand auf dem hinteren Balkon, der zum Hof hinausging, oder auf dem vorderen zur Straße hin, die sich den Lykabettus hinaufschlängelte. Meine Ruhelosigkeit war überwältigend. Die schlimmsten Tage bei jeder Art von Übergang sind für mich die Tage davor. Das Warten.
Bewegung linderte meine Qual ein wenig, weil mein Körper dann Gelegenheit hatte, mit meinem rasenden Verstand mitzulaufen. Ich marschierte durch Stadtviertel, die ich selten aufsuchte, nach Kesariani, eigentlich ein eigenständiges Dorf, dessen Geschichte bis in die Zeit der Flüchtlinge aus Kleinasien zurückreicht. Ich schlenderte den breiten Fußweg entlang, der sich um die Akropolis zieht, beobachtete Puppenspieler und Musikanten und ältere Touristenpärchen, die sich an den Händen hielten, amerikanische Studentinnen und Studenten in spärlicher Kleidung. Ich streifte durch Psyrri, wo die Schwingung der überfüllten, quirligen Cafés mit dem Pochen meines Herzens eins zu werden schien.
Was diese Wohnung betraf, war ich jetzt so lange hier gewesen wie seit Jahren nicht, und abgesehen von der Frau mit den traurigen Augen, die ich während der Renovierung der Wohnung hatte ein und aus gehen sehen - die Frau, von der ich später erfuhr, dass sie Miras Mutter war -, wohnte ich allein auf dem Stockwerk. Schon bevor Katerina und ich übereingekommen waren, uns zu trennen, hatte ich alle paar Monate eine Nacht hier verbracht - jene Nächte zwischen einer Route und der nächsten, in denen ich nicht auf dem Schiff schlafen, aber auch nicht den weiten Weg nach Hause fahren wollte. Wenn ich für einen einzigen Tag heimkam, war das für Katerina und die Kinder manchmal zu verwirrend. Das jedenfalls redete ich mir ein. Katerina und ich wussten beide, dass es vor allem für mich verwirrend war.
Eines Abends ging ich durch das Zentrum von Neapoli, wo sich große Beton-Wohnblöcke, die während der Junta-Zeit entstanden waren, mit alten, neoklassizistischen Häusern mischten - einige hell und gut gepflegt, andere verwahrlost, viele mit Graffiti beschmiert. Dann nahm ich die zahllosen Stufen von der Isavron-Straße hinunter durch Exarchia zur Kallidromiou-Straße, wo eine frische Brise wehte. Hier herrschte reges Treiben, die Nacht war angenehm, und unter Wärmelampen saßen Menschen, die bei einem abendlichen Kaffee oder Drink in vertrauliche Gespräche vertieft waren. Ich trug eine Jogginghose und ein altes Sweatshirt mit Kapuze, lief also herum wie in der Wohnung, bloß mit dem Unterschied, dass in der Reißverschlusstasche mein Schlüsselbund, das Handy und zwanzig Euro steckten.
Nachdem ich eine Weile herumspaziert war, stieg ich die Stufen wieder hinauf und ging zum Dexameni-Platz. Zwar war es noch zu früh im Jahr für das Open-Air-Kino, aber das Open-Air-Café war trotzdem proppenvoll: Kinder vergnügten sich auf Fahrrädern und mit Hüpfstangen, Erwachsene jeden Alters saßen in großen oder kleinen Gruppen zusammen, tranken Cocktails und aßen mezedes. Ein Paar, das so alt sein mochte wie mein Vater - Ende siebzig -, saß nebeneinander an einem Tisch, auf dem Gläser mit Weißwein standen. Die beiden hielten Händchen und ließen den Blick schweifen, als gehörte alles, was sie hier sahen, ihnen. Der Mann trug einen dunklen Anzug mit roter Krawatte, und das dunkle Haar der Frau war perfekt frisiert, ihr Kleid marineblau mit weißen Paspeln, und über die Schultern hatte sie einen Trenchcoat drapiert. Sie strahlten eine Ruhe aus, die mich verunsicherte, und ich entschied mich dagegen, mich allein hinzusetzen. Stattdessen ging ich weiter bis zu einer meiner Reservebars am Mavili-Platz, wo ich beide Barkeeper kannte - einen stark tätowierten Typen und eine junge Frau mit ernstem Gesicht, deren Pferdeschwanz beim Arbeiten herumhüpfte. Ich trank ein großes Bier und machte mich dann auf den Heimweg.
Unterwegs fühlte ich mich, als spazierte ich durch ein kleines Dorf, in dem ich falsch abgebogen war, oder durch eine strandnahe Gegend auf einer weniger stark besuchten Insel. In jeder beliebigen Parallelstraße wäre ich an makellosen Villen mit bestens gepflegten Gärten, Yogastudios, Anwaltsbüros und schicken Cafés vorbeigekommen. Auf dieser Route hingegen hüpften Hühner herum, mitten auf einem Grundstück parkte ein alter Wohnwagen, und ein eingezäunter Bereich beherbergte einen kleinen Schrottplatz: ein paar alte Autos, Metallrohre, alte Möbel. Es gab nur ein einziges neueres Haus, und das gefiel mir sehr gut. Hell und fröhlich stand es hinter einem klapprigen, provisorischen Zaun, als sei der Beton der Stadt darum herumgebaut worden, oder als wäre ich in einem Märchen gelandet. Es hatte den Anschein, als sei das Haus vor kurzem restauriert worden: ein Anstrich in hellem Cremegelb, ein rotes Ziegeldach und ein Garten mit Bougainvilleen, Oleander und Zitronenbäumen. Daneben stand ein alter Schuppen, der vor einiger Zeit noch einen tristen Eindruck gemacht hatte. Jetzt war er mit Blumen und Zitronenbäumen bemalt, ein Spiegel...
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