Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 1
Zum Zeitpunkt des Unfalls Mitte der 1990er Jahre, als in der Region das Welken und Sterben einer ganzen Reihe von Papierstädten begann, galt Titan Falls zwar noch nicht als seelenloses Kaff am Ende der Welt, doch es war nicht gerade weit davon entfernt. Obwohl die schwefelhaltigen, stinkenden Wasser des Androscoggin seit Jahrzehnten nicht so klar geflossen waren, hielt sich das Städtchen dank Zellstoff, Kreissägen und guter, ehrlicher Muskelkraft gerade so auf der Habenseite. Mitunter dachte June McAllister - die Ehefrau des Mühlenbesitzers -, dass Titan Falls kaum mehr als eine alkoholgeschwängerte Mischung aus Rohstoff und Beharrlichkeit war, ein Zufallsprodukt von Maschine und Natur, doch sie hütete sich, derlei laut zu äußern, gewiss nicht vor ihrem Ehemann und erst recht nicht vor den anderen Mühlenfrauen. In deren Gegenwart vertrat sie mit derselben blinden Gewissheit den Glauben an das besondere Geschick dieses Städtchens, mit der sich ihre Finger im Takt des Handarbeitszirkels bewegten, der unter ihrem Dach und ihrer Ägide abgehalten wurde. Anfangs hatte June diese Runde als archaische Sitte, als Rückfall in die Zeiten ihrer Schwiegermutter abgetan, doch sie hatte schnell lernen müssen, dass - und dies galt für alles in ihrem Leben -, soweit es die Frauen von Titan Falls betraf, der persönliche Wille gegen die Macht der Gewohnheit keine Chance hatte.
Und so kam es, dass sie Woche um Woche Hof hielt und ihre Weisungen mit einem »Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen« garnierte. In ihrer Jugend hatte sie den Spruch häufig aus dem Mund der alten Frauen hören müssen und gehofft, ihm endlich zu entkommen. Die Frauen aus ihrem Zirkel aber hielten inne, zuckten mit den Schultern und nickten bedächtig. Eine riss womöglich einen Faden mit den Zähnen durch. Eine andere schob ihre Maschen über den kalten Stahl der Stricknadel. June McAllister hatte in ihrem eigenen Haus natürlich gut reden. Der Herr gab und nahm ja selbstverständlich. Das Problem - die Tatsache, die niemand aus ihrer Mitte je zu äußern wagte - war, dass man in einem Ort wie Titan Falls, der bündig am Rand des Flusses klebte und in aller Regelmäßigkeit von ihm zerrieben wurde, das eine vom anderen oft nicht unterscheiden konnte.
Die Kluft entstand nicht etwa, weil die anderen Frauen June nicht mochten (obwohl das durchaus der Wahrheit entsprach), sondern dadurch, dass sie ihr nicht wirklich trauten. Sie war schließlich keine Tochter dieser Stadt und damit auch keine von ihnen. Sie hatte sich im Laufe ihrer nunmehr gut zwanzigjährigen Ehe mit Cal, dem Besitzer der Titan Paper Mill in vierter Generation - das Lebenselixier von Titan Falls -, nur sehr bemüht, eine von ihnen zu werden. Als sie frisch vom College gekommen war, das sie sich nur dank eines Stipendiums hatte leisten können, war sie mit dem Handel und Wandel in den North Woods nicht im Mindesten vertraut gewesen, und die Topografie von Titan Falls hatte sie mit ihrer steinernen Größe schier eingeschüchtert. June stammte aus einem windschiefen, eher ärmlichen Ort an Floridas Golfküste. Die Architektur ihrer Kindertage war sandfarben und brüchig, ganz Wellblechdach und Porenbeton, blätternde Läden und niedrig wirbelnde Ventilatoren. Unter dem allgegenwärtigen Belag von Meersalz korrodierte jeder Gegenstand; in der stickigen Luft rasselten und vibrierten die Insekten, und das Kolorit war entweder leuchtend und dringlich - wenn sich Bougainvilleen und Strelitzien öffneten -, oder aber es fiel Wind und Zeit zum Opfer.
Vor dem College hatte June keinen Begriff davon gehabt, wie kühl es werden konnte, die Luft so frisch wie der erste Kuss, dass ein Baum in Feuerfarben lichterloh entflammen, sich in ein Skelett seiner selbst verwandeln und dann, im Frühling, von Neuem in einen Schleier von Knospen hüllen konnte. Auf dem College lernte sie, den Tee heiß und aus einer Silberkanne anstatt süß und geeist zu trinken, sparte auf und kaufte sich einen Kamelhaarmantel und träumte von einem Leben als Dozentin für englische Literatur, damit sie diese schöne neue Welt aus Bleifenstern, Mahagoni-Regalen, bestickten Kissen und kathedrahlartigen Türmen nie wieder würde verlassen müssen.
Und dann, während eines Wochenendes in Boston, lernte sie Cal kennen. Es geschah auf der Party ihrer Zimmergenossin Janey, die Cals besten Freund von Sommerurlauben auf Nantucket kannte.
»Er ist im letzten Jahr in Dartmouth und kommt, wie es heißt, aus einer Mühlenfamilie«, hatte Janey im eleganten Wohnzimmer ihrer Eltern geflüstert, June ein warmes Bier gereicht und anerkennend Cals markantes Kinn und breite Schultern gemustert. June hatte ihre Freundin missverstanden. Ihr Herz war gehüpft bei dem Gedanken, dass sie endlich, nach beinahe zweieinhalb Jahren im Norden, auf eine verwandte Seele treffen sollte, einen armen Tropf aus der Arbeiterklasse, der wie sie in diese exklusive Welt der Colleges und Sommerhäuser zwar aufgenommen worden war, doch nicht wirklich dazugehörte.
»Nicht doch, Dummerchen«, hatte Janey sie mit einem Lachen korrigiert. »Seiner Familie gehört die Mühle.« Und zwar eine der ältesten im Osten überhaupt, wie sich herausstellen sollte. Junes Wangen hatten so rot wie die herbstlichen Bäume rings um das Haus gebrannt, und sie hatte auch ein wenig Bier über ihren Rock verschüttet, aber entweder hatte Cal das nicht bemerkt, oder ihm hatte gefallen, was er sah.
Mit einem »Hallo« war er auf sie zugetreten und hatte ihre zarte Hand in seine gewaltige Pranke genommen. »Du teilst dir mit Janey im College das Zimmer, richtig? Was studierst du?«
»Literatur«, hatte June ohne Zögern geantwortet, und Cal hatte bedächtig genickt. Atemlos hatte sie auf seine nächsten Worte gewartet.
»Walt Whitman hat Grashalme auf Papier geschrieben, das aus unserer Mühle stammt.«
June hatte ihn nur angeschaut. Ihr war noch nie in den Sinn gekommen, den stofflichen Ursprung all der Werke, über denen sie Tag für Tag brütete, zu hinterfragen. Dass dieser breitnackige blauäugige Kerl etwas, das in ihren Augen einer anderen Welt entstammte, so beiläufig für sich beanspruchen konnte, hatte sie schier fassungslos gemacht. Als er angeboten hatte, noch ein Getränk zu holen, hatte sie ihn gewähren lassen, und als er ein Jahr später um ihre Hand angehalten hatte, war ihre Antwort an Ort und Stelle ein Ja gewesen, angestachelt vom Ehrgeiz ihrer Freundinnen, die ihr versicherten, dass dies ein sehr guter Tausch sei - staubige Bücher gegen das wahre Leben, ein abgebrochenes Studium gegen einen berauschenden sozialen Aufstieg.
Jedoch erwies sich Titan Falls nicht als das Neuengland aus dem College oder, vielmehr, der Literatur, die sie so eifrig studiert und analysiert hatte: mit dem blühenden Flieder eines Walt Whitman und den aufrechten Nadelwäldern eines Henry David Thoreau. Tatsächlich hatte die Welt von Titan Falls Ähnlichkeit mit dem Florida, wie June es kannte, nur in einer anderen Größenordnung. Sie musste sich nur fünf Minuten lang aus Titan Falls herausbewegen - in einer der drei Himmelsrichtungen, die blieben, wenn man von der des Flusses absah, der den Ort an der einen Seite mit seiner unruhigen Bahn aus Treibholz und schlammigem Abwasser beschnitt -, und schon war sie von derart gewaltigen Wäldern umfangen, als wäre sie aus der Zeit getreten. June verstand rasch, dass die Natur an einem solchen Ort ein großer Segen war, das ja, dass sie den Menschen aber auch in einem Atemzug vertilgen konnte.
Der Androscoggin, das sollte June ebenfalls mit der Zeit entdecken, hatte seine eigene Geschichte, und die war heikel. Die Gewässer waren mit Schadstoffen belastet, und so schön sie an der Oberfläche wirkten, so vergiftet waren sie in der Tiefe, wie eine verlebte Frau, die ihr Gesicht bewahrt, alles andere jedoch hatte verlottern lassen. Noch immer trat aus den Mühlen Schwefeldioxid aus, und die Stadt musste den Fluss im Sommer manches Mal mit Sauerstoff anreichern, damit die Fische am Leben blieben. Dessen ungeachtet erblühten stets im August Heerscharen von Algen und legten June ihren salzigen Phosphatgeschmack auf die Zunge. In ihrem ersten Jahr in Titan Falls hatte sie den Gestank noch kaum ertragen, doch ihre Schwiegermutter Hetty hatte ihr versichert, dass sie sich daran gewöhnen würde.
»Das ist noch gar nichts. Als ich geheiratet habe«, hatte sie gesagt und zur Bekräftigung ihren Ehering gedreht, der schon so stumpf war, dass June ihre Schwiegermutter bedauert hatte, selbst noch nicht ahnend, dass die Jahre auch ihrem Ring den Glanz nehmen würden, »hieß es immer, der Fluss sei zu zäh zum Paddeln und zu dünn zum Pflügen. Der Schlamm wurde ganz gelb, und von den Häusern blätterte die Farbe ab. Auf der pappigen Brühe, die hier vorbeigeflossen ist, konnten die Kinder Bälle hüpfen lassen.« Ihre Miene hatte sich verdüstert. »Jetzt haben wir so viele Vorschriften, dass nicht mal mehr die Fische in den Fluss pinkeln dürfen. Nicht, dass das etwas ändern würde. Diese verdammte Stadt schiebt immer noch der Mühle für alles und jedes die Verantwortung zu. Aber das wirst du selbst erleben.«
Hetty war kaum ein Jahr nach Junes Hochzeit an Leberkrebs gestorben, und bald darauf hatte ein Herzinfarkt Cals Vater Henry hinweggerafft; und obwohl June den Gedanken niemals äußerte, fragte sie sich doch des Öfteren, welchen Anteil die Verschmutzung des Flusses daran hatte und ob sie auch der Grund für die Schwärme toter Forellen war, die gelegentlich an der Oberfläche auftauchten, oder gar für die Babys, die mit verkrüppelten Fingern, Gaumenspalte oder derart verkümmerter Zunge auf die Welt kamen, dass sie nicht...
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