Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Die Zeitungssammlung der British Library nimmt mehrere Gebäude in Colindale, im Norden von London, ein, nahe einem ehemaligen Stützpunkt der Royal Air Force, der heute ein Luftfahrtmuseum ist. Am 20. Oktober 1940 ließ ein deutsches Flugzeug - die Besatzung hielt den Bibliotheks-Gebäudekomplex möglicherweise irrtümlich für eine Flugzeugfabrik - eine Bombe darauf fallen. Zehntausend Bände irischer und englischer Zeitungen wurden zerstört, fünfzehntausend weitere wurden beschädigt. Unversehrt jedoch blieb eine ziemlich umfangreiche Sammlung ausländischer Zeitungen, darunter viele amerikanische Blätter: Tausende von fünfzehn Pfund schweren, ziegelsteindicken Bänden, alle in marmorierte Pappdeckel gebunden, die Seiten rot gestempelt mit dem Symbol kuratorischer Verantwortlichkeit, dem Krone-und-Löwe-Wahrzeichen des British Museum.
Von Bomben verschont, fielen die amerikanischen Zeitungen einer vor nicht langer Zeit getroffenen verwaltungspolitischen Entscheidung zum Opfer - die meisten wurden im Herbst 1999 in einer blinden Auktion verscherbelt. Zu den Schätzen der Bibliothek gehörten siebzig Jahrgänge in ungefähr achthundert Bänden von Joseph Pulitzers in üppigen Farben gedruckter Zeitung, der New Yorker World. Pulitzer hatte entdeckt, dass mit Illustrationen Nachrichten verkauft werden konnten; in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begann er vierfarbige Sonntagsbeilagen und großformatige Cartoons zu drucken. Je mehr Landkarten, Darstellungen von Mord-Tatorten, übergroße politische Karikaturen auf der ersten Seite, Modezeichnungen, Stickmuster, Rätsel für Kinder und Comics er veröffentlichte, desto höher kletterten die Verkaufszahlen von World. Mitte der neunziger Jahre war sie die am weitesten verbreitete Zeitung in den USA. William Randolph Hearst zog 1895 nach New York; er kopierte Pulitzers Neuerungen und warb Mitarbeiter von ihm ab. Der Krieg zwischen den beiden Männern schuf den modernen, in die Privatsphäre eindringenden, Skandale aufdeckenden, glamourverliebten Journalismus. Eine Million Menschen lasen jeden Tag einst Pulitzers World; heute ist eine Folge der Originalausgaben um einiges seltener als die First-Folio-Ausgabe der Werke Shakespeares oder die Gutenberg-Bibel.
Außer der World besaß die British Library auch noch eine der letzten umfassenden Folgen der prächtigen Chicago Tribune - über 1300 Bände, von 1888 bis 1958, vollständig mitsamt Bonus-Kunstbeilagen, Vierfarbdrucken auf schwerem Papier aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts («Diese Zeitung ist unvollständig ohne die Farbillustrationen», heißt es in dem Kasten neben dem Titel); extravagante Layouts illustrierter Erzählungen, kunstvoll handgesetzte ornamentale Überschriften und, über Jahrzehnte hin, auf der ersten Seite die politischen Karikaturen von John T. McCutcheon. Ebenso besaß die British Library eine riesige Sammlung des San Francisco Chronicle (eine von den wahrscheinlich nur zwei erhaltenen; die andere gehört der Chronicle Publishing Company selbst und ist Forschern nur schwer zugänglich), der in seinen Glanzzeiten voller wunderbar hingetupfter Art-Nouveau-Grafiken war. Und dann besaß die Bibliothek eine gewaltige Sammlung von Ausgaben der New Yorker Herald Tribune, die wahrscheinlich die beste Zeitung in der Geschichte der Vereinigten Staaten war - gemeinsam mit ihren beiden Nebenblättern, der Tribune Horace Greeleys, die gegen die Sklaverei war, und James Gordon Bennetts Pro-Sklaverei-Blatt Herald. Die Herald-Tribune-Sammlung - auch sie wahrscheinlich die letzte noch existierende umfangreiche Folge überhaupt - reicht bis 1966, als die Zeitung als selbständiges Blatt einging. Und dann stand in den Regalen der British Library noch eine stattliche Anzahl von Bänden der New York Times (1915 bis 1958), mit den Zeichnungen Al Hirshfelds und Hunderten von mitgebundenen wunderbar feinkörnigen, sepiafarbenen «Tiefdruck-Bild-Beilagen».
Alle diese Zeitungsbestände sind über die Jahre gut gepflegt worden - die Bände, die ich mir im September 1999 genauer ansehen durfte, waren in herrlichem Zustand. Die Bildbeilagen wirkten zwar unvertraut mit ihren Illustrationen im Stil der Jahrhundertwende, sahen aber so aus und fühlten sich auch so an, als wären sie vorgestern vom Zylinder einer Hoe-Presse abgehoben worden.
Mit anderen Worten, die auf Papier aus Holzschliff gedruckten Zeitungen aus der Zeit vor fünfzig bis hundert Jahren sind im Gegensatz zu dem, was die Bibliotheken unablässig behaupten, oft überraschend gut erhalten. Jeder weiß, dass in der Sonne liegendes Zeitungsdruckpapier schnell vergilbt und brüchig wird (ein bindender Holzbestandteil, das Lignin, das in Zeitungsdruckpapier reichlich enthalten ist, reagiert auf Sonnenlicht), aber Mikrofilmrollen - und Disketten und DVDs - halten sich auch nicht gut in der Sonne; bisher jedenfalls scheinen viele der alten Bände ihr ursprüngliches Erscheinungsbild besser zu bewahren als die Miniaturreproduktionen auf Zelluloid oder Kunststoff, die viele Bibliotheken über Jahre hin für einen geeigneten Ersatz gehalten haben. Das Zusammenheften von fünfzehn (oder dreißig oder sechzig) einzelnen Ausgaben einer Zeitung zu einem dicken, schweren Band trägt wesentlich zur Erhaltung der Seiten bei; die Ränder werden oft braun und bröselig, da feuchtwarme Luft auf die Säurebestandteile im Papier einwirkt und es schwächt, und der Bindeleim mag aufhören zu halten, aber nur wenig tiefer im flachen Innern des fest geschlossenen Folianten drückt das schiere Gewicht des Buchblocks fast alle Luft heraus. Die Wirkung entspricht in etwa einer Vakuumversiegelung der inneren Flächen der Seiten: das Papier nimmt folglich weit weniger Schaden.
Viele Bibliothekare jedoch haben es fertig gebracht, sich selbst und uns einzureden, eine Zeitung, die nach 1870 oder so gedruckt worden sei, werde sich unausweichlich selbst zerstören oder «zu Staub zerfallen» - jeden Moment, bald, innerhalb weniger Jahre. 1870 ist das alles entscheidende Jahr, nach dem in amerikanischen Zeitungspapiermühlen an die Stelle von Papierbrei, der aus gekochten Hadern bestand, nach und nach Papiermassen aus steingemahlenem Holz traten. Nun ist «bald» ein bedeutungsloses Wort, wenn es um eine so langlebige Substanz wie eine gedruckte Seite geht - tatsächlich ist es ein Wort, das alle Arten von Missbrauch erlaubt. Schon früh nährten aufstrebende Mikrofilmgesellschaften mit selbstsicheren falschen Voraussagen die Furcht vor der Unbeständigkeit des Papiers. Charles Z. Case, Geschäftsführer bei Recordak, Kodaks Mikrofilm-Tochtergesellschaft, schrieb 1936: «Seit der Verwendung von Sulfitzellstoffpapier zum Zeitungsdruck hat eine Zeitung eine Lebensdauer von 5 bis zu 40 Jahren gehabt, je nach der Qualität des Papiers, den Lagerungsbedingungen und dem Grad der Benutzung.» Hätte Case' Voraussage sich bewahrheitet, dann wäre der Band der Chicago Tribune mit den Ausgaben vom Juli 1911, der, während ich dies tippe, aufgeschlagen vor mir liegt (bei einem von der Influenza inspirierten illustrierten Teil über «Eine neue Theorie der Säuglingspflege»), vor mindestens einem halben Jahrhundert dahingeschieden. Thomas Martin, Leiter der Handschriftenabteilung der Library of Congress in den dreißiger Jahren, stimmte mit dem Recordak-Verkäufer überein: «Alte Holzstoff-Bestände, denen nur noch wenige Jahre Lebensdauer bleiben, sollten auf Film fotografiert werden, sobald sich zufriedenstellende Ergebnisse erzielen lassen. In solchen Fällen haben wir wirklich keine andere Wahl, als Filmkopien anzufertigen oder zu übernehmen, denn die Originale werden bald zu Staub zerbröseln.»
Aber die Originale zerbröselten nicht zu Staub. Keyes Metcalf, ein Mikrofilmpionier und der Direktor der Bibliotheken der Harvard University, sagte 1941 voraus, dass die «Raumbedürfnisse» der wissenschaftlichen Bibliotheken «insgesamt durch Papierzerfall schrumpfen werden». Fünf, zehn, zwanzig Jahre gingen dahin, und das Papier, sogar das angeblich so kurzlebige Zeitungspapier, war immer noch da. Also begannen sich Bibliothekare trotz alledem solcher Bestände zu entledigen. Zerstörst du den physischen Beweis, weiß niemand, wie sehr deine Vorhersagen daneben gelegen haben.
Wie geschmäht auch immer, gemahlener Holzstoff- oder Holzschliffbrei ist eine der großen Erfindungen des späten neunzehnten Jahrhunderts: er verhalf uns zu billigem Papier, und billiges Papier veränderte die Nachrichten. «Ein Mann, der eine Papiermühle betritt, braucht nur sein Hemd auszuziehen, es dem Teufel zu übergeben, der am einen Ende seines Amtes waltet, und dann zu warten, bis es am andern Ende als wieder herauskommt», schrieb 1837 der Gründer der New Yorker Sun. Aber es gab nie genug Hemden, und 1854 schraubte die Lumpenknappheit die Preise für Zeitungsdruckpapier in beunruhigende Höhen. Als die Brüder Pagenstecher nach Amerika kamen und um 1860 eine deutsche Maschine importierten, die Holzklötze zu Holzschliff zermahlte, indem sie die Enden gegen einen runden, wassergekühlten Mahlstein presste, brachte das die Preise wieder etwas herunter - von zwölf Cent pro Pfund im Jahre 1870 auf sieben Cent pro Pfund im Jahre 1880 und auf weniger als zwei Cent pro Pfund im Jahre 1900. Die Preissenkung verhalf Pulitzer und Hearst zu dem üppigen Platz, der es ihnen ermöglichte, große Anzeigen zu verkaufen, und erlaubte es ihren Kreationen, zu den frivolen Halbweltgeschöpfen zu erblühen, zu denen sie während des ersten Jahrzehnts des...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.