Schweitzer Fachinformationen
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Mit jedem Atemzug schneidet eiskalte Luft in meine Lunge. Um die Durchblutung meiner tauben Füße anzuregen, gehe ich an die andere Seite des Tunnels. Spähe in seine schwarzen Tiefen. Bestimmt nichts weiter als eine lange Röhre Beton und Abfall, Unterschlupf für Ratten und Mäuse, die irgendwann in andere Betonkorridore unter harmlosen Straßen und Gebäuden mündet. Verblasste Graffiti haften an der gewölbten Wand, die bunten Hieroglyphen grell beleuchtet von einer Handy-Taschenlampe. Das Polizei-Absperrband vor dem Eingang ist noch straff gespannt, es zittert kaum merklich im Windhauch. Der nahe gelegene Asphaltweg ist spiegelglatt vom Regen. Hoch oben lugt ein feister Mond auf die stumpfen Ränder der Stadt herab. Während ich weiße Dampfwölkchen ausatme, denke ich daran, wie viel düsterer die Tatorte hier immer aussehen als zuvor in Smithson. Irgendwie so viel finsterer.
Ich ließ mich gerade in meine zweite Stunde Schlaf fallen, als der Anruf kam. Körperverletzung mit Todesfolge in Carlton. Während ich das Handy ablegte, warf ich einen Blick auf den leise schnarchenden Mann im extrabreiten Bett neben mir. Ich schlüpfte aus dem warmen Kokon, stolperte in das kleine Wohnzimmer und zog leise die Kleider wieder an, die ich erst vor einer guten Stunde abgestreift hatte.
Nachdem ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, ging ich zum Aufzug und eilte mit gesenktem Blick durch die glänzende Lobby, ehe ich ins Taxi sprang. Die Stadt ist nachts kleiner, und jetzt, keine Viertelstunde später, starre ich einem Toten ins Gesicht, während mir der Wind in Nase und Ohren beißt.
Mein Körper schreit nach Ruhe. Mein Atem schmeckt nach Wein. Auf der Haut spüre ich noch den Sex. Ich wickle mich fester in meinen Wollmantel und schüttle den Kopf, zwinge mich zu der Einsicht, dass zumindest in den nächsten paar Stunden an Schlaf nicht zu denken ist.
Die Kriminaltechniker in ihren leuchtend weißen, bauschigen Overalls gehen schweigend ihrer Arbeit nach. Behandschuht, die Zähne zusammengebissen, pflücken sie mit Pinzetten Gegenstände vom Boden auf und lassen sie behutsam in Asservatenbeutel fallen, während sie die Lage vor Ort mit erfahrenem Blick abschätzen.
Ich höre nichts als das unendliche Summen der langen Nacht.
Als in der tristen Umgebung ein Kamerablitz aufleuchtet - einmal, zweimal, schon wieder -, zucke ich etwas zusammen, und es erinnert mich an ein Musikvideo. Doch anstelle von lasziv tanzenden Silhouetten ist da nur das Profil des Opfers, mit vornübergekippt hängendem Kopf, den Rücken fest an die Wand gelehnt. Im Tode schmiegen sich die knorrigen Finger des alten Mannes sanft zusammengerollt in die Handflächen. Sein kahler Schädel wird partiell von einer löchrigen Wollmütze vor der Kälte geschützt. Die Trainingshose ist bis zu den Knien herabgezogen, doch das zu große Hemd bedeckt den Schritt. Das trocknende Blut an seinen Händen deutet auf seinen Versuch hin, das Leben in seinem Körper festzuhalten. Trotz der Umstände wollte er nicht sterben. Vermischt mit dem Müll auf dem Boden, bildet das Dunkelrot eine trübe, übelriechende Pfütze. Ich frage mich, ob noch jemand am Leben ist, der sich an ihn als Kind erinnert. Was wohl mit seiner Mutter ist.
Eine glühende Zigarettenspitze wippt in mein Gesichtsfeld.
»Dass man hier rausmuss, also echt«, sagt Detective Sergeant Nick Fleet, drückt die Kippe aus und steckt sie sich in einer Plastiktüte in die Tasche.
Der vertraute Geruch steigt mir in die Nase, und sofort spüre ich den alten Jieper.
»Es ist ziemlich abgelegen«, halte ich fest. »Und schlecht beleuchtet. Man könnte leicht davon ausgehen, dass man hier draußen mit so ziemlich allem durchkommt.«
Fleet schnaubt. »Also wenn die Zeugin nicht wäre, hätte ich gedacht, dass da ein Schwulendate aus dem Ruder gelaufen ist, wo unser Mann hier halb nackt ist.« Fleet späht mit gerümpfter Nase zum Leichnam im Tunnel. »Aber wird ja wohl eher eine Vergeltungstat in der Drogenszene gewesen sein. Das Übliche.«
»Vielleicht«, antworte ich, »aber eher unwahrscheinlich. Alles hier deutet darauf hin, dass er überrascht wurde. Ich glaube, dass er an die Wand gepinkelt hat, als er überfallen wurde.« Ich zeige auf die ranzige runde Pfütze in der Nähe der Leiche.
Fleet räuspert sich laut, und von dem Schleimrasseln wird mir schlecht. »Ich setze immer noch auf Drogen.«
»Kann natürlich sein«, sage ich, »aber nichts deutet darauf hin, dass er das Zeug genommen oder vertickt hat. Weder Einstichstellen noch Drogenutensilien.«
»Vielleicht hat er sich mit wem angelegt.«
»Vielleicht«, sage ich knapp.
Fleet schnalzt mit der Zunge. »Wir müssen da ganz unvoreingenommen rangehen, Gemma«, verkündet er aufgesetzt lebensklug. »Schließlich stehen wir noch am Anfang.«
Gerade als ich am liebsten genervt reagieren möchte, schwenken Autoscheinwerfer in der Nähe durch die Dunkelheit. Hinter uns bellt plötzlich ein Hund. Gleich darauf duckt sich unser Chef, Chief Inspector Toby Isaacs, unter dem Absperrband durch und betritt den Tunnel. Er nickt erst mir, dann Fleet zu und inspiziert dann mit weit aufgerissenen grauen Augen den Tatort. Ohne eine Miene zu verziehen, heftet er den Blick auf die abgetragenen Schnürstiefel des Alten; die linke Sohle klafft an den Zehen auf wie ein plärrendes Maul.
»Was wissen wir?«, fragt Isaacs.
»Er wurde erstochen«, sage ich mit gerader Haltung und kräftig klingender Stimme. »Sieht nach einer einzelnen Stichwunde aus, auch wenn wir ihn noch nicht bewegt haben. Keine Waffe zu sehen. Ich sorge dafür, dass morgen bei Tagesanbruch ein Suchtrupp antritt, und sehe zu, was für Überwachungsvideos wir aus der Gegend bekommen können, auch wenn das ganz nach Sackgasse aussieht. Keine Kameras weit und breit.«
Isaacs nickt kurz. »Und wir können sicher sein, dass er obdachlos war?«
»Dem Augenschein nach ja, eindeutig«, bestätige ich.
»Und dem Geruch nach«, sagt Fleet. Er zeigt am Team der Spurensicherung vorbei auf eine Decke und einen schmuddeligen Rucksack. »Das da drüben sieht nach seinem Schlafzimmer aus.«
»Wir konnten keinen Ausweis finden«, ergänze ich.
»Wo ist die Zeugin jetzt?«, fragt Isaacs und sieht sich um.
»Auf dem Revier«, sage ich ihm. »Wenn wir hier fertig sind, fahren wir hin und nehmen ihre Aussage auf. Offenbar ist sie selbst älter und obdachlos. Auf dem Weg hierher hab ich mit dem Polizisten gesprochen, der bei ihr ist, und er sagt, sie ist in keiner guten Verfassung.«
»Sie hat ganz sicher nichts damit zu tun?«
»Hört sich nicht so an. Er hat gesagt, dass sie außer sich vor Angst ist.«
Isaacs presst die Lippen aufeinander. »Haben wir eine brauchbare Täterbeschreibung?«
»Ein Mann mit Kapuzenpulli«, antworte ich. »Wir versuchen, mehr aus ihr rauszubekommen, aber bei der Dunkelheit hier draußen wird sie nicht allzu viel gesehen haben.«
»Männer in Kapuzenpullis sind aber auch wirklich die Wurzel allen Übels, was?«, witzelt Fleet.
Ich sehe zu, wie er sich am Ellbogen kratzt und mit der Hand grob durch das drahtige Haar fährt. Isaacs scheint ihn eher zu dulden als zu bevorzugen, was Fleet offenbar nichts ausmacht - aber Nick Fleet steht wohl auch sonst über den Dingen.
In den drei Monaten, die ich jetzt in Melbourne bin, habe ich enger mit ihm als mit jedem anderen Kollegen zusammengearbeitet. Er ist Detective Sergeant wie ich, aber ein gutes Stück älter - es würde mich wundern, wenn er erst vierzig wäre. Mein Gespür sagt mir, dass er vor seinem Eintritt in den Polizeidienst ein vollkommen anderes Leben geführt hat. Ich habe ziemlich rasch festgestellt, dass ihm ein Ruf als Frauenheld vorauseilt, auch wenn sich mir der Grund dafür noch nicht so ganz erschließt. Er ist unattraktiv behaart, häufig rüpelhaft und hat etwas Grobes, Ungehobeltes, weiß sich nicht zu benehmen.
Die Spurensucher nehmen sich jetzt den Bettzeugstapel vor. Die Kamera leuchtet wieder auf, ehe ein Pullover und eine verblichene Picknickdecke rasch eingetütet werden.
Isaacs reibt sich die Hände und haucht hinein. »Hoffentlich war es jemand aus seinem Milieu. Ein Hassverbrechen gegen Obdachlose ist das Letzte, was wir brauchen können.«
»Ich geh noch eine rauchen«, verkündet Fleet. »Und schau mich bei der Gelegenheit gleich noch etwas um.«
Isaacs verschränkt nur die Arme und wippt etwas auf den Ballen vor und zurück. Er wendet den Kopf, um die Landschaft mit Gras und Bäumen zu betrachten, das kantige Profil scharf umrissen. Im Mondlicht sieht sein Haar silbern aus. Wie stets werde ich nicht aus ihm schlau.
Ich blicke an Isaacs vorbei auf das Gewirr von Lichtern und verschachtelten Dächern im Hintergrund. Mir ist unbehaglich zumute, nicht zu wissen, wer uns aus dem Dunkeln beobachten könnte.
»Detective Woodstock?«, sagt Brenton Cardona, ein erfahrener Techniker. »Wir werden ihn gleich abtransportieren, einverstanden?«
Unter Isaacs' Blicken stimme ich zu, ehe ich ein letztes Mal neben dem namenlosen Opfer in die Hocke gehe. Vorsichtig einen Bogen um Blut und Dreck machend, sehe ich ihm ins Gesicht. Die speichelglänzende Unterlippe hängt etwas herab. Sein Blick aus leeren Augen ist auf die verschlissenen Schuhe gesenkt. Ich würde ihn auf etwa fünfundsechzig schätzen, doch die Schmutzschichten auf der ledrigen, pockennarbigen Haut erschweren eine Bestimmung. Er könnte auch viel jünger sein. Mit knirschenden Zähnen male ich mir im Geiste sein makabres Ende aus: ganz kurz nur zu merken, dass da jemand...
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