Schweitzer Fachinformationen
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Zweites Kapitel
Samstag, 12. Dezember, 7.51 Uhr
Ich stehe in der Dusche, die Stirn gegen die Wand gepresst, während das Blut aus mir rinnt. Ohne es genau zu wissen, hatte ich angenommen, dass ich etwa in der sechsten Woche war. Ich frage mich, ob meine ablehnende Haltung dazu geführt hat; dass ich es absolut nicht wahrhaben wollte. Sondern nur verzweifelt gehofft habe, dass es nicht so sei. Das Blut mischt sich mit dem Wasser, ehe es den Abfluss hinabrinnt, und ich kneife die Augen zusammen und wünsche, ich wäre wieder ein kleines Mädchen, gut zugedeckt im Bett, während meine Mutter mir mit ihren weichen Lippen einen Kuss auf die Stirn drückt.
Herrje, wie sie mir fehlt.
Scott ist heute Morgen früh aus dem Haus gegangen, um den Stoßverkehr zu meiden. Er hat ein paar Wochen Betonierarbeiten auf einer Großbaustelle am Nordrand von Paxton an Land gezogen, einer Stadt etwa dreißig Kilometer östlich von Smithson. Ben ist bei meinem Vater; er hat dort übernachtet, weil wir heute beide so früh los müssen. Im Moment wird Dad vermutlich als Trampolin herhalten müssen. Ben ist morgens immer so verschmust.
Ich höre mein Handy läuten, rühre mich aber nicht. Die kühlen Fliesen fühlen sich fest und beruhigend an meiner Haut an, wenn ich die Handflächen zu beiden Seiten des Kopfes daranlege. Versuche, mich zu sammeln. Mich normal zu fühlen. Nach ein paar Minuten hebe ich den Kopf. Es dauert etwas, bis sich meine Augen ans Licht gewöhnen. Mein Unterleib schmerzt, ein tief sitzender Schmerz.
Ich bin erschöpft. Fühle mich losgelöst von meinem Körper. Von meinem Geist.
Ich weiß, ich sollte wahrscheinlich ins Krankenhaus, aber ich weiß auch, dass ich es wahrscheinlich lassen werde.
Im Bad ist es diesig vom Wasserdampf. Die Blutung scheint nachzulassen. Ich wasche mich vorsichtig und drehe den Hahn ab. Die Rohre zittern in den Wänden. Ich trete aus der Dusche und wickele mich in ein dunkelgraues Handtuch. Ein Blick in den Spiegel zeigt mir nur einen verschwommenen Umriss im Wasserdampf. Im Schlafzimmer werfe ich die Decken quer übers Bett und kicke einen Pantoffel drunter, halte kurz inne, um nach Luft zu schnappen und mich zu krümmen, während mich wieder der stechende Schmerz durchzuckt. Ich ziehe mich hastig an, stecke eine Binde in den Slip, bevor ich meine schwarze Jeans, ein einfaches graues T-Shirt und schwarze Boots überziehe. Es wird immer heißer, und die Resthitze von gestern hängt noch unangenehm zwischen den Wänden. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und schlucke ein paar Schmerztabletten. Dann starre ich die Wand an und denke an all die unerledigten Dinge, die dieser Tag bringen wird: Papierkram, ein paar Berichte schreiben, ein alter ungelöster Fall, den ich für Jonesy überprüfen soll. Ich denke an meinen kleinen Schreibtisch mitten im Hauptdienstzimmer des Reviers und wünschte, ich hätte ein eigenes Büro. Mein Handy klingelt wieder, als ich mein Haar mit dem Handtuch rubbele: Es ist Felix, und ich sehe seinen Namen auf dem Display und denke an so einiges.
»Jawoll, hey.« Ich bemühe mich, unbeschwert zu klingen. »Bin schon unterwegs. Geh gleich aus der Tür.«
»Fahr direkt zum See, Gem«, sagt er; wie ich es liebe, wenn sich sein Akzent um meinen Namen legt.
Ich versuche den Sinn seiner Worte zu verstehen. »Warum? Was ist passiert?«
»Sie haben eine Leiche gefunden. Es ist eine Lehrerin aus Smithson, eine Rosalind Ryan.«
Das Zimmer kippt zur Seite weg. Ich lasse mich schwer aufs Bett fallen, greife mir an die Kehle und zwinge mich, weiterzuatmen. Felix redet weiter, ihm ist nichts aufgefallen. »Offenbar ist sie auch hier zur Schule gegangen. In deinem Alter. Wahrscheinlich hast du sie gekannt.«
*
Eingebettet zwischen steil aufragenden Höhenzügen, ist Smithson eine kleine grüne Oase inmitten endloser fahler Flächen australischen Farmlands. Es ist dafür bekannt, dass es den »Regen fängt«, der von den Bergen kommt; eigentlich absurd, weil die Farmen drum herum den viel dringender bräuchten. Im letzten Jahrzehnt hat es sich grundlegend verändert. Carling Enterprises, eine größere Konservenfirma, hat in den späten neunziger Jahren, gerade als ich mit der Schule fertig wurde, am Stadtrand eine Fabrik errichtet. Das massige silberfarbene Gebäude sieht zwar schon jetzt ziemlich veraltet aus, aber dort herrscht reger Betrieb. Es saugt die Felder und Plantagen der Umgebung aus, zieht das Obst von den Bäumen und das Gemüse aus dem Boden und spuckt dafür über zehn Millionen Dosen mit konservierten oder eingemachten Feldfrüchten aus. Dank dieser Produktivität hat Smithson langsam, aber sicher seine ursprünglich bescheidene Einwohnerzahl von knapp fünfzehntausend auf fast dreißigtausend verdoppelt. Fabrikarbeiter, Lkw-Fahrer, Ingenieure, Lebensmitteltechniker, Werbefritzen: überall neue Gesichter. Plötzlich vermehrte sich so einiges in Smithson, dieser Arche-Noah-Stadt, die sich immer gerühmt hatte, von allem zwei zu besitzen. Jetzt gibt es fünf Bäckereien, und das allein in der Innenstadt. Jemand hat mir gesagt, dass die Firma Carling es auf der ganzen Welt so macht: lässt sich in ländlichen Regionen nieder, wo das Bauland billig ist und man leicht an Genehmigungen kommt, nistet ihren Betrieb in einer Gemeinde ein und krempelt Landschaft und Gemeinwesen komplett um. Ehrlich gesagt hatte Smithson wohl schon einen kleinen Tritt in den Hintern nötig, aber es kann einen auch beunruhigen, die Riesenlaster, unter deren Gewicht die Straßen ächzen, in unsere kleine Welt einbrechen zu sehen, jeder mit seiner Abgasfahne hinter sich.
Östlich der Stadtmitte liegen ein großer See, umgeben von dichtem Buschland, und ein beliebter Stadtpark. Sonny Lake heißt zwar eigentlich Smithson Lake, wird aber von keinem so genannt. Warum, weiß ich nicht, aber so lange ich zurückdenken kann, ist es der Sonny Lake. Selbst auf den Hinweisschildern steht Zum Sonny Lake. Meine Eltern haben dort in den siebziger Jahren mit einer sehr hippiemäßig angehauchten Feier geheiratet. Auf meinem Nachttisch steht ein Foto von Mum als Braut, unmittelbar nach ihrer Trauung aufgenommen. Sie hat Gänseblümchen im Haar und ein Glas Bowle in der Hand und sieht aus wie zwölf.
Der See grenzt an die Rückseite der städtischen Highschool. Als Grundschülerin bin ich mit Mum hergekommen, um die Enten zu füttern und im Gras nach vierblättrigen Kleeblättern zu suchen. Als ich dann auf der Highschool war, gingen wir an den See, um Zigaretten zu rauchen, geklauten Alkohol zu trinken und mit Jungs zu knutschen. Der alte Pavillon am Ende einer Brücke lieferte das perfekte Setting für eine Geisterstunde, und der alte Holzturm auf der Lichtung nebenan gab einen einwandfreien Beobachtungsposten ab, um Schmiere zu stehen. Am oberen Ende der knarzenden gewundenen Treppe erreichte man einen Ausguck, von dem aus man den gesamten See und den Haupt-Highway sehen konnte, ganz bis zur Highschool. Es war auch ein Superversteck. Vor seinem Tod verbrachten Jacob und ich viele Stunden hier oben mit Reden, Küssen und mehr. Ich schließe kurz die Augen und sehe sein junges Gesicht vor mir. Er kommt mir jetzt so weit weg vor.
Normalerweise bin ich darauf bedacht, diesen Ort zu meiden.
Am Sonny Lake wimmelt es schon von Polizisten, die gerade mit einem Absperrband neugierige Passanten verbannen. Im Sommer ist der See ein beliebter Treffpunkt, und vor etwa zwei Jahren ließ der Gemeinderat einen dieser modernen Spielplätze mit abgerundeten Kanten am Nordende des Parks zusätzlich zum altersschwachen im Westen bauen, aber ich habe mir noch nie einfallen lassen, mit Ben herzukommen; hier lauern viel zu viele Erinnerungen für einen Sonntagnachmittagsausflug zum Spielplatz.
Leute in Joggingklamotten stehen in der Nähe beieinander und unterhalten sich leise, als ich vorbeigehe. Dann entdecke ich ihn. Detective Sergeant Felix McKinnon, mein Partner. Alles in mir blubbert weich, und wie immer kann ich nur staunen, was für eine Wirkung er auf mich hat. Mit gerunzelter Stirn bückt er sich zu einem Mann von der Spurensicherung, der direkt neben dem Weg auf dem Boden herumpinselt. Etwas weiter weg, beim Schilf, sehe ich eine weiße Plane. Casey, unser Fotograf, steht links davon und knipst wie wild drauflos.
Dass Rosalind Ryan tot ist, lasse ich langsam in mein Bewusstsein einsickern. Mit jähem Schrecken fällt mir auf, dass ich endgültig erwachsen bin. Ich weiß noch, wie sich ihr Sommerschulkleid an ihre kurvenreiche Figur schmiegte. Und wie mir meine eigene Uniform bis unter die Knie hing, wie ich versuchte, sie an Taille und Saum abzustecken, damit sie mehr wie ihre aussah. Ich atme tief ein und langsam aus. Auf dem Weg zum See hinunter setze ich eine neutrale Miene auf und versuche die altbekannten Bilder von Rosalind wegzuschieben, die sich in mein Gesichtsfeld drängen wollen. Ich versuche alles auszublenden. Die Sonne bricht durch die letzten Wolken und sengt wie Feuer. Die Luft ist geladen. Trocken. Wir werden uns beeilen müssen. Sie rasch von hier wegbringen.
»Hallo«, sage ich.
»Hey.« Felix schaut lächelnd zu mir hoch und blinzelt in die Sonne. »Alles okay?«
Weiße Flecken tanzen mir vor den Augen. »Jap.« Ich schüttele seine Frage mit einem Schulterzucken ab und zeige auf die weiße Plane. »Was meinst du?«
»Schwer zu sagen. Wir haben sie durch ein Portemonnaie in ihrer Jacke identifiziert, in dem ein Schulbüchereiausweis war. Sonst hatte sie nichts bei sich, bis auf ihre Schlüssel, ebenfalls in der Jacke. Handy oder Tasche konnten wir noch nicht finden.« Er wischt sich die Stirn, auf der schon der Schweiß steht. »Scheiße, ist das heiß.« Felix versucht immer noch, sich an die brutale...
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