Schweitzer Fachinformationen
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Noch nie hatte sie eine Frau gesehen, die einen langen weißen Zopf trug. Ältere Frauen trugen Kurzhaarfrisuren oder allenfalls schulterlang, zumindest hier, in der Kleinstadt. Susanne konnte ihren Blick von der trotz ihres Alters sehr aufrecht gehenden Frau nicht abwenden. Der Zopf war dick, ging ihr fast bis zum Po und passte farblich genau zu dem übergroßen blau-weiß-rot-karierten Tuch, das sie sich um die Schultern gelegt hatte.
Susanne stellte gebrauchtes Geschirr auf ein Tablett, putzte die Tische und bemerkte, wie die Frau sich langsam umdrehte und ihr Blick auf das große Schild fiel, das über der Eingangstür befestigt war. Café Rieger stand in altmodischer Schreibschrift darauf, und Susanne fragte sich, wann ihr Bruder dieses uralte Schild endlich austauschen würde.
Die Frau schien zu zögern, dann trat sie durch die geöffnete Tür in das Café. Auch das noch, dachte Susanne, jetzt musste sie nicht nur draußen, sondern auch drinnen bedienen. Aber die alte Dame würde warten müssen, zuerst würde Susanne sich um die Kunden kümmern, die gerade eben auf den Rattanstühlen Platz genommen hatten und bereits ungeduldig die Hand hoben, um ihre Bestellungen aufzugeben.
Das frühlingshafte Wetter hatte an diesem Sonntagnachmittag zahlreiche Cafégäste angelockt. Mit geöffneten Jacken saßen sie unter dem noch blattlosen Kastanienbaum, um dessen dicken Stamm vereinzelt die ersten Krokusse blühten, und streckten ihre Gesichter der wärmenden Märzsonne entgegen. Am danebenliegenden Rossmarkt-Brunnen, in dem erst seit ein paar Tagen wieder Wasser floss, spielten Kinder oder aßen das erste Eis des Jahres. In den nächsten Minuten rückte Susanne die Stühle für die neuen Gäste zurecht, nahm Bestellungen auf und servierte mit geübten Handgriffen Cappuccinos, Säfte, Rhabarberkuchen und Muffins. Einem kleinen Rauhaardackel stellte sie eine Wasserschale vor die Schnauze und brachte der Besitzerin den gewünschten Orangensaft. Während sie drei Espressi nach draußen trug, warf sie erneut einen Blick auf die alte Dame, die sich im Innenraum an einen Tisch am Fenster gesetzt hatte. Sie schien noch immer zufrieden zu sein, denn sie kehrte ihr den Rücken zu und beobachtete durch die Fensterscheibe das rege Treiben in der Fußgängerzone.
Heute war verkaufsoffener Sonntag, und die Kirchheimer nutzten diesen Tag wie immer zum Bummeln, zum Schnäppchen-Jagen und um Ostergeschenke einzukaufen.
Immer noch hatte die Frau ihre Jacke an und auch das große, buntkarierte Tuch legte sie nicht ab. Wahrscheinlich wollte sie gar nichts bestellen, sondern sich nur aufwärmen, dachte Susanne. Sie bemerkte den kritischen Blick ihres Bruders hinter der Theke, der sie mit einer kleinen Kopfbewegung auf die Frau am Fenster aufmerksam machte. Susanne nickte.
Sie bediente heute alleine. Seit letztem Jahr ließ der Umsatz des Cafés zu wünschen übrig, und Martin, ihr Bruder, der vor fünfzehn Jahren mit seiner Frau das traditionsreiche Café Rieger von ihrer Mutter übernommen hatte, hatte sie Anfang des Jahres gebeten, zumindest halbtags als Bedienung einzuspringen, um die Personalkosten zu senken. In den letzten Jahren war die Konkurrenz in der Kleinstadt am Fuß der Schwäbischen Alb immer größer geworden, und es kamen immer weniger Gäste. Susanne hatte nicht lange gezögert und den Wunsch ihres Bruders gerne erfüllt. Zu Hause wartete niemand auf sie. Zudem war sie froh über die Ablenkung, denn die Krankheit ihrer Mutter, die erst seit Dezember in einem Heim für Demenzkranke wohnte, hatte sie im letzten halben Jahr sehr mitgenommen.
Susanne reichte Martin, der heute ungewöhnlich fröhlich wirkte, eine neue Bestellung entgegen. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass die alte Frau inzwischen aufmerksam die Karte studierte, aber sie schien nicht fündig zu werden. Immer wieder blätterte sie unschlüssig zwischen den Seiten. Doch jetzt hob sie die Hand, und Susanne trat an ihren Tisch. »Was darf ich Ihnen bringen?«
»Entschuldigung.« Die Frau lächelte sie an. Auf ihren Wangen wurden zahlreiche Fältchen sichtbar.
»Es steht nicht auf der Karte, aber .«
Susanne bemerkte einen Akzent, den sie nicht einordnen konnte. Die Frau hatte das Wort »Karte« ungewöhnlich dumpf ausgesprochen. Ein A, das wie ein O klang.
»Könnte ich bitte ein Kännchen Kaffee bekommen?« Und auch Kaffee betonte sie anders, auf der ersten Silbe.
»Kännchen gibt's nur draußen«, kam es spontan aus Susannes Mund, doch sogleich schüttelte sie den Kopf. Was für ein blöder Ausspruch! Ihre Mutter hatte ihn früher immer verwendet.
»Wie bitte?«
»Tut mir leid, das ist mir so herausgerutscht. Nein, Kännchen führen wir nicht mehr.«
»Oh!« Die alte Dame schien enttäuscht zu sein. »Warum das? Schmeckt Kaffee in Kännchen nicht mehr?«
Susanne lachte auf. »Aber nein. Kännchen sind nicht mehr zeitgemäß.«
»Schade!« Die Frau nahm die Karte noch einmal zur Hand.
Susanne fielen ihre ungewöhnlich breiten, abgearbeiteten Hände auf, die nicht so recht zu ihrer schlanken Gestalt und dem schmalen Gesicht passten. Sie musste in ihrem Leben viel gearbeitet haben.
»Dann vielleicht ganz einfach eine Tasse Filterkaffee. Aber bitte sehr stark.«
»Gerne.« Susanne nickte freundlich und gab die Bestellung an ihren Bruder weiter, der sich sofort an die Arbeit machte.
Ungewöhnlich. Meist verlangten ältere Damen nach magenfreundlichem, koffeinfreiem Kaffee. Aber extra stark?
Susanne wartete am Tresen und betrachtete die Frau, die sich jetzt von Tuch und Jacke befreit hatte und sich interessiert im Café umschaute. Ihr Blick blieb an den verblichenen, gerahmten Fotos an der Wand hängen. Die Frau stand auf und betrachtete die Schwarzweißfotos, auf denen Susannes und Martins Eltern zu sehen waren, genauer. Sie waren kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen worden, als ihre Mutter, gerade frisch verheiratet, das Café von Susannes Großmutter übernommen hatte. Wäre es ihr Lokal gewesen, hätte Susanne die alten Fotos schon längst abgehängt. Aber Martin und seine Frau waren sehr traditionsbewusst. Deshalb war auch die Inneneinrichtung des Cafés immer noch wie früher. Die Wände waren in plüschigem roten Samt gehalten, vergoldete Wand- und Stehlampen verbreiteten ein schummriges Licht, während draußen die Sonne vom Himmel strahlte. Susanne fand den großen Innenraum mit der hohen Stuckdecke, in dem sicher an die fünfzig Personen Platz fanden, unglaublich kitschig. Wenigstens hatte sie ihren Bruder und ihre Schwägerin davon überzeugen können, für draußen moderneres Mobiliar anzuschaffen.
Susanne bemerkte, wie die alte Frau vorsichtig über den roten Samt an den Wänden strich und sich wieder auf ihren Platz setzte.
»Was für eine schöne Einrichtung«, meinte sie, als Susanne ihr den Kaffee servierte.
Susanne versuchte, den Blick von dem dunkelroten Feuermal abzuwenden, das sich vom offenen Blusenkragen bis knapp unter das Kinn der Frau schlängelte.
»Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Meine Großmutter hat das Café Mitte der zwanziger Jahre eröffnet. In ein paar Jahren können wir 80-jähriges Jubiläum feiern.« Hoffentlich, dachte Susanne im Stillen, wenn der neue Kredit von der Bank genehmigt werden würde, den Martin beantragt hatte.
»Sind das Ihre Großeltern?«, fragte die Frau und deutete mit dem Kopf auf das gerahmte Foto.
»Nein, das sind meine Mutter und mein Vater, als sie das Café übernommen haben. Beziehungsweise, meine Mutter hat es übernommen. Mein Vater hat in der Industrie gearbeitet.«
»Aha.«
»Kannten Sie die beiden?«
»Ich? Nein, nein.« Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Sie umfasste die Kaffeetasse, als wolle sie beide Hände wärmen, und schaute aus dem Fenster.
Verwundert betrachtete Susanne die alte Dame, die etwas zu schnell geantwortet hatte, aber dann hob draußen ein neuer Gast die Hand, und sie hatte keine Zeit mehr, sich über die Frau mit dem Feuermal Gedanken zu machen.
Kurz nach 16Uhr schloss Martin das Café.
Susanne knöpfte die Jacke zu und nahm ihre Handtasche. Sie bemerkte trotz seiner guten Laune die Falten auf seiner Stirn, die in letzter Zeit immer tiefer zu werden schienen. »Wie war der Umsatz heute?«
»Hundert solche Tage und wir sind gerettet.«
Schon seit seiner Jugend beherrschte Martin die Kunst des vagen Ausdrucks. Sie wusste, er würde nie über Zahlen reden.
»Hast du Mama in den letzten Tagen besucht?«, lenkte er gekonnt ab.
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht morgen.«
»Bringt ja nichts. Sie erkennt uns ja nicht mehr.«
War es wirklich so? Vor ein paar Tagen hatte Susanne einen anderen Eindruck gehabt. Ihre Mutter hatte so einen mürrischen Gesichtsausdruck gemacht, wie früher, als sie sie als Kind wegen irgendeines kleinen Vergehens gescholten hatte.
»Es wäre gut, wenn es bald vorbei wäre, oder?«
Sie gab ihm keine Antwort. Eine unangenehme Stille entstand zwischen ihnen.
»Was machst du heute Abend?« Martin hatte einen lockeren Ton angeschlagen.
Sie zuckte die Achseln.
»Ist Udo weg?«
Sie nickte. »Ich habe heute ja gearbeitet. Und Udo wollte noch was für die Firma vorbereiten.«
»Warum musste er ausgerechnet einen Job in München annehmen?«
Susanne runzelte die Stirn. Seit wann mischte sich Martin in ihre Ehe ein? »Du weißt doch genau, wie froh Udo war, als er mit über fünfzig noch solch einen Job angeboten bekam. Vertriebsleiter bei BMW. Eine so gutbezahlte Stelle hätte er in unserer Gegend nie...
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