Schweitzer Fachinformationen
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Das Bett eines Intensivpatienten ist sein Lebens- und Erlebensraum in einer Situation, in der um sein körperliches Überleben gekämpft wird. Seine Präsenz entfaltet sich auf gut 1,5 Quadratmetern. Er zeigt sich, drückt sich aus und interagiert mit den Behandelnden und denen, die ihn besuchen.
Die Intensivstation ist potenziell ein Ort der Entfremdung. Die technische Fähigkeit zur Manipulation der Vitalfunktionen eines Menschen ist hoch. Man kann die Atmung unterstützen und detailliert steuern oder Organersatzverfahren einsetzen, die einzelne Organfunktionen oder sogar ganze Organe zumindest zeitweise ersetzen können. Alles in allem bedeutet dies weniger oder mehr Intervention zum körperlichen Überleben. Dabei müssen Eingriffe in einer hohen Distanz zur leiblichen und seelischen Einheit und Unversehrtheit des Menschen durchgeführt werden. Die Handelnden agieren in emotionalem Abstand, um durch maximale Manipulation und Überbrückung von Dysfunktionen die Körperlichkeit des Menschen zu retten. Der zu Rettende ist in einem Bewusstseinszustand, der unterschiedlich beschrieben werden kann: Sein Bewusstseinszustand ist vom Wachbewusstsein unterschieden, er ist bewusstlos, er ist in die Bewusstlosigkeit gefallen, ist sediert worden, wurde ins Koma gelegt oder ist ins Koma gefallen. Schon die Unterschiedlichkeit, wie über den Zustand der Abwesenheit einer reflektierenden geistigen Präsenz gesprochen werden kann, verdeutlicht, dass dabei nicht die Rede von der Auflösung des Subjekts sein kann: »Er bekommt nichts mehr mit« beschreibt eine Vereinfachung, die die maximale Manipulation erleichtert oder gar erst möglich macht. Damit ist aber keine Aussage über den Persönlichkeitszustand, in dem sich der Mensch befindet, gemacht. Wenn ein Mensch im Moment der Intubation oder der Anlage eines Organersatzverfahrens dem Objekthaften näher scheint als seiner Subjekthaftigkeit, ist er aus seiner untrennbaren wechselseitigen Bezogenheit und Verbundenheit von Subjekt und Welt nicht herauslösbar oder herausgelöst. Im Innersten gibt es in den Behandelnden ein Bewusstsein, dass hier nicht um eine Abstraktion, sondern um einen Menschen gekämpft wird. Es gibt eine wechselseitige Anteilnahme, die auf der einen Seite professionell kontrolliert und zurückgehalten wird und auf der anderen Seite nicht abgefragt oder wahrgenommen wird. Wenn aber die Erstversorgung erledigt ist und jener Zustand erreicht ist, der in der intensivmedizinischen Sprache eine Zufriedenheit ausdrückt: dass nämlich der Patient stabil4 ist, dann tritt der Prozess in eine andere Phase, in der der scheinbar objekthafte Patient in eine mindestens subjekthafte Position wechselt. Die Wahrnehmung der Werte über Monitore und Blutgasanalysen bis hin zu der Beobachtung der Verstoffwechselung eröffnen ein dialogisches Geschehen. Dabei geht es um die Frage, wie der Patient zeigt, in welcher Weise er die Intervention und Hilfe rezipiert. Obwohl also der Mensch an sich, spricht man ihn an, in der Regel stumm bleibt, geht es um Resonanz mit Fokus auf körperliche und objektive Kriterien. Die Gefahr steht dabei im Raum, die Subjekthaftigkeit des behandelten Menschen zu vernachlässigen. Doch auch der stumm leidende Mensch nimmt am Leben teil und teilt sich dem Leben mit.
Schließlich werden Menschen, egal auf welcher Seite des Geschehens, mit Macht und Ohnmacht konfrontiert: »Machen Sie bitte alles!«, »Wir können nichts mehr machen ...« oder »Er wollte nie so (an Maschinen) weiterleben.« sind Sätze, die hier oft zu hören sind. Während das Intensivpersonal alles für den Patienten macht, wissen die Angehörigen in den schwersten Momenten nicht mehr, was sie machen sollen und haben zugleich oft eine enge innere Verbundenheit mit dem Patienten. Die Struktur zur Tiefenwahrnehmung ist ein Instrument, den Blick auf Handlungsräume zwischen Macht und Ohnmacht zu eröffnen. Jeder kann sich damit in seiner Weise als Wahrnehmender einbringen.
»Ich ahne, warum ich hier bin«, sagt ein Patient. Vor einigen Monaten wurde er mit einer Lungenerkrankung auf die Intensivstation gebracht. Dort hat er Koma, Erwachen und einen Kampf um die Atemluft erfahren. Als äußeres Zeichen ist ihm ein Tracheostoma geblieben. Damit kann er zeitweise ohne Gerät atmen und mit einem entsprechenden Aufsatz wieder sprechen. Den größten Teil des Tages verbringt er noch an einem Beatmungsgerät. Immerhin muss ihn dieses nur noch unterstützen; die Atemzüge kann er weitgehend schon selbst tun.
Er nutzt die halbe Stunde mit der Sprechkanüle und erzählt von seiner Partnerin. Die beiden haben den Kontakt zueinander verloren. Er beschreibt sie als streng und gewissenhaft; sich selbst kreativ, chaotisch und mit wenig Struktur. Dann kommen ihm die Tränen und er berührt seinen Brustkorb: »Ich weiß, dass die Krankheit mit meiner Lebensgeschichte zu tun hat.« Er berichtet von Sprachlosigkeit, Abtauchen in die Verständnislosigkeit und wie er »atemlos« wurde bei seinen Anstrengungen, sich wieder zu finden.
Was dieser Mensch innerlich und in seiner Sozial- und Weltbeziehung erlebt, sieht er in seinem körperlichen Ergehen abgebildet. Indem er sich mit dieser Spur auseinandersetzt, schafft er eine Deutungs- oder Integrationsleistung. So gelingen ihm erste Schritte einer Krankheitsbewältigung. Er nutzt dazu einen zwischenmenschlichen Kontakt, in dem ihm Verständnis, Zuhören und Wahrnehmen angeboten wird.
Wahrnehmung verändert den Schauenden und den, der gesehen wird. Sie ist ein Schauen ohne Werten und ein Gesehenwerden ohne Drängen, und eröffnet zwischen dem Greifbaren und Unbegreiflichen einen dritten Ort mit der Möglichkeit zur transpersonalen Kommunikation. Dort kann die Wirklichkeit als Wechselwirkung zwischen dem Gegebenen und dem Geschehenden erfahren werden. Man kann dieses Phänomen mit Eindruck, Atmosphäre oder Spirit treffender umschreiben als beschreiben. Es geht in erster Linie um ein erfahrungsbezogenes Geschehen. Wenn dieses auf die Ebene einer geistigen Reflexion gehoben wird, dann kann wechselweise Anteilnahme in einem unsicheren Geschehen entdeckt werden. Das ist ein nutzbarer stabilisierender Vorgang.
Was aber ist mit einem Patienten im Koma? Er kann nicht erzählen. Er ist in einem Zustand, in dem er existiert, aber nicht reflektiert - zumindest nicht so, wie es ein Mensch im Wachbewusstsein tun kann. Ihm fehlt die im Wort auszudrückende Resonanz auf eine Erfahrung. Auf der Ebene des gesprochenen Worts kann er sich nicht zeigen. Das bringt ein Ungleichgewicht in die Begegnung. Um ihn zu behandeln, spricht man über ihn. In dieser Lage wird deutlich, was das lateinische Wort Patient bedeutet: ein Leidender und Erduldender; er muss zulassen, dass ein anderer ihn behandelt.
Viele Patienten auf der Intensivstation können nicht sprechen. Wenn ich am Bett eines beatmeten Menschen oder eines Komapatienten sitze, erinnert mich das an eine Erfahrung aus meinem Leben, die wohl viele kennen. Ich lag krank im Bett und meine Mutter versorgte mich. Damals wurde sicherlich mehr ausgetauscht als Worte: leidende und besorgte Blicke, greifende oder beruhigend streichelnde Hände, Herzenswärme, vielleicht auch ein gesummtes Lied. Das alles kann als Kommunikation verstanden werden, also ein Austausch oder eine Übertragung von Informationen auf verschiedenen Arten und Wegen. (Röhner & Schütz 2020)
Die Begegnung mit einem Komapatienten ist von anderer Qualität als die zwischen Mutter und Kind. Aber der Patient kann mit seiner Form des Daseins eine existenzielle Frage anrühren: Wo bin ich in diesem Zustand, in dem sich Wachsein und Schlafen nicht mehr abwechseln? Wenn Existieren, Leiden, Schlafen und Schweigen scheinbar alles sind, was ich von mir zeige? Für seine Angehörigen stellt sich umgekehrt die Frage: Was ist mit ihm? Wo ist er? Können wir ihn erreichen und wird er uns wahrnehmen?
Die dritte Frage stellt sich für die meisten Angehörigen nicht wirklich. Sie wissen, dass Beziehung und Austausch mit dem Patienten möglich sind. Dabei sind sie sicher auch bewegt von der Überzeugung, dass es nicht anders sein kann, weil sie sonst verzweifeln würden. Das ist aber nur die eine Seite. Wenn Angehörige zugewandt und unterstützend begleitet werden und ein reflektiertes Gespräch möglich ist, dann wird ihre Kompetenz sichtbar, mit der sie feine Kanäle der Wahrnehmung und kommunikativen Interaktion aufspüren und nutzen. Damit zeigen sie, was der Kommunikationsforscher Paul Watzlawick (2017, Absatz 2.24) so beschreibt:
»Man kann nicht nicht kommunizieren, [denn] zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehungen zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit basieren.« (e.d., Absatz 2.64).
Jede Form des Daseins eines Menschen ist ein Angebot zur Kommunikation. Er ist Mensch, indem er...
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