Angela Lautenschläger
DER FALSCHE WEIHNACHTSMANN
»Wie viele Windeln hast du eingepackt?«
»Ich? Gar keine, wieso?« Nicolas hielt den Blick konzentriert auf die Fahrbahn gerichtet.
»Weil ich dir von unten zugerufen habe, dass du welche mitnehmen sollst. Na, macht nichts.« Friedelinde klappte das Handschuhfach auf. »Wir haben ja noch die Notfallwindel.« Sie wühlte eine Weile erfolglos zwischen CD-Hüllen, der Parkscheibe und dem Eiskratzer herum.
»Die hab ich gestern benutzt, nachdem wir Spinat hatten.«
Friedelinde klappte das Fach zu und wandte sich zur Rückbank um, wo Moritz glucksend in seinem Kindersitz saß und die Welt betrachtete. Er freute sich über alles, und die Weihnachtszeit, in der man sich über Lichterketten, Schneeflocken und zu viele Plätzchen freuen konnte, gefiel ihm besonders gut.
»Dann bleiben wir eben nur eine Windellänge«, sagte Nicolas.
»Das wird nicht reichen. Aber Gernot und Betty können uns sicher eine abgeben.« Erstaunlicherweise hatte die Weihnachtszeit auch auf Friedelinde eine beruhigende Wirkung. Unter normalen Umständen hätte Nicolas' Vergesslichkeit sie auf die Palme gebracht. Heute drehte sie nur die Heizung etwas höher und kuschelte sich in ihren Sitz.
Eine halbe Stunde später hielten sie vor dem Waschsalon in Friedelindes alter Heimat Altona. In einer anderen Zeit, in der es Kommissar Nicolas Sander in ihrem Leben noch nicht gegeben hatte und Moritz noch in weiter Ferne lag, hatte sie gegenüber ihr altes Büro gehabt. Dort war sie als Nachlasspflegerin tätig gewesen. Jedenfalls im Wesentlichen. Mancher Todesfall hatte sich als nicht natürlich entpuppt, und schon beim ersten, als sich herausstellte, dass die verstorbene Hannelore Weber ein dunkles Geheimnis mit ins Grab genommen hatte, war sie Nicolas begegnet. Der hatte sich zu Beginn derart grässlich aufgeführt, dass sie ihn gern auf irgendeinen Planeten für unangenehme Kommissare geschossen hätte. Glücklicherweise gab es solche weit entfernten Sterne nicht, und sie hatte die Gelegenheit genutzt, herauszukriegen, dass er ein ziemlich witziger, liebenswerter Kerl war, in den man sich einfach verlieben musste. Jetzt waren sie sogar verheiratet, und Friedelinde, die sich nie Gedanken über Familienplanung gemacht hatte, war Mutter geworden. Was bei alledem ein wenig zu kurz kam, war ihre Arbeit als Nachlasspflegerin. Daran, Nicolas davon zu überzeugen, dass sie wieder arbeiten wollte, musste sie noch arbeiten.
Während Nicolas ihren Sohn aus dem Kindersitz befreite, fiel Friedelindes Blick auf den Mann, der neben der Tür zum Waschsalon auf dem Gehweg saß. Er trug einen roten Weihnachtsmannmantel, einen weißen Bart und schwarze Stiefel. Unter seiner roten Mütze guckten weiße Locken hervor. Von seinem Gesicht waren nur zwei dunkle Augen und die Nase zu erkennen. Wie der richtige Weihnachtsmann eben. Nur, dass der schwarze Hut vor ihm, in den die Leute Münzen werfen sollten, nicht ins Bild passte. Geduldig wartete sie ab, bis Nicolas seinen üblichen Kampf mit dem Sicherheitsgurt des Kindersitzes abgeschlossen hatte. Friedelinde dachte darüber nach, ob nicht eigentlich der Weihnachtsmann die Geschenke bringen sollte, statt sie entgegenzunehmen, als Knecht Ruprecht um die Ecke bog. Er beugte sich zu dem Weihnachtsmann hinunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Auf keinen Fall!«, rief der Weihnachtsmann. »Irgendwann muss es auch mal gut sein. Das ist gegen die Abmachung.« Er wollte sich erheben, was mit dem Mantel und der übrigen Weihnachtsmannkostümierung offenbar nicht so einfach war. Knecht Ruprecht nutzte die Gelegenheit und eilte um die Hausecke davon, bevor sein Partner ihm nachsetzen konnte.
Friedelinde öffnete den Mund, um Nicolas, der immer noch mit dem Oberkörper im Innenraum des Autos steckte, von ihrer eigenartigen Beobachtung zu berichten, aber in diesem Augenblick tauchte ihr Gatte wieder auf und drückte ihr Moritz in die Arme. Der gluckste erfreut über die Befreiung aus dem Kindersitz.
Nicolas schlug die Wagentür zu.
»Hast du die Babytasche?«, fragte Friedelinde.
Nicolas öffnete den Wagen und kramte die Tasche vom Rücksitz.
»Und die Geschenke?«, fragte Friedelinde, als Nicolas die Tür erneut zugeschlagen hatte.
Nicolas holte auch die Geschenke aus dem Auto. »Ich weiß sowieso nicht, was dieser Quatsch mit dem Julklapp soll«, motzte er.
»Du wolltest doch den scheußlichen Kerzenleuchter loswerden. Und heute bietet sich eine gute Gelegenheit dafür.«
»Dafür hätte die Mülltonne auch ausgereicht, und ich hätte das Spiel sehen können.«
Friedelinde stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Die können auch mal ohne dich verlieren. Und du siehst deine Freunde mal wieder.«
Nicolas verzog das Gesicht und öffnete die Tür zum Waschsalon. Stimmengewirr füllte den Raum, aber bevor sie sich umsehen konnten, kam Nicolas' Kollege Gernot auf sie zu.
»Ah, da kommt ja der Experte.« Gernot trug eine Weihnachtsmütze und hatte etwas Glitzerndes im Gesicht.
»Du hättest dich wenigstens waschen können«, sagte Nicolas statt einer Begrüßung. Immerhin hatten sie sich gerade am Freitag zuletzt gesehen und würden am nächsten Morgen wieder gemeinsam ein Büro teilen.
»Wie?« Gernot fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Ach, du meinst den Engelsstaub«, erklärte Gernot. »Das gehört so.«
Gernot kniff Moritz in die speckige Wange, der daraufhin ebenfalls glitzerte und quiekte.
Friedelinde sah sich im Waschsalon um. Tatsächlich waren sie die Letzten. Gernot und seine Frau Betty waren mit ihrer kleinen Tochter Sissy bereits eingetroffen, die frühere Besitzerin des Waschsalons, Elvira, saß am Fenstertisch mit einem dicken Stück Torte vor sich, und die jetzige Inhaberin des Salons, Rosanna, stand hinter dem Tresen und stellte Kaffeebecher zusammen.
Seit Rosanna den Waschsalon übernommen hatte, war aus Elviras eher privatem Ausschank am Verkaufstresen ein richtiges kleines Bistro im vorderen Bereich der Ladenfläche geworden. Im hinteren Teil standen Waschmaschinen und Trockner, die ihre Arbeit taten, während die Kunden die Wartezeit mit etwas zu essen und zu trinken überbrücken konnten. Rosanna, die eigentlich eher zu schwarzer Magie neigte, hatte sich große Mühe gegeben und den Raum weihnachtlich geschmückt. Über dem Tresen hing eine blinkende Lichterkette, um die Deckenlampen hatte sie jede Menge Weihnachtskugeln drapiert.
Neben dem Tresen stand eine große, elegant gekleidete Frau. Friedelindes Nachbarin Theresa.
»Hallo Theresa, wir hätten auch zusammen fahren können«, begrüßte Friedelinde sie. »Deiner Seidenbluse wäre nichts passiert. Wir haben Moritz extra nichts zu essen gegeben vor der Fahrt.«
Theresa lächelte ihr zu. »Ich bin gar nicht von zu Hause aus gefahren. Trinkst du Kaffee oder etwas Gesundes?«
»Kaffee! Ich kann wieder alles essen und trinken, weil Moritz inzwischen eigenständig futtert. Und deshalb nehme ich auch alles.«
»Frohe Weihnachten, Friedelinde. Spekulatiustorte kommt sofort«, erklärte Rosanna.
Offenbar um weiteren Nachfragen zu entgehen, beeilte sich Theresa, die Becher zum Tisch zu bringen. Friedelinde fiel auf, dass sie sich früher sofort danach erkundigt hätte, woher Theresa an einem Sonntagnachmittag gekommen war, wenn nicht von zu Hause. Aber der Umgang mit einem Kleinkind hatte ihren Geist wohl etwas träge werden lassen.
Ihr Blick fiel auf den großen, schlanken Mann, der von Rosanna einen Keksteller entgegennahm. Was Nicolas' Kollege Lukas Kampmann hier machte, ließ sie schon seit dem Eintreten grübeln. Gemeinsam mit Theresa deckte er nun einträchtig den Kaffeetisch. Friedelinde warf Rosanna einen fragenden Blick zu, die nur vielsagend grinste. Hier gab es offenbar noch eine Menge aufzuklären.
Moritz wollte an dem allgemeinen Trubel aktiv teilnehmen und strampelte so lange, bis Friedelinde ihn auf den Boden stellte. Besonders sicher war er noch nicht auf seinen Beinchen, aber Moritz hatte sich eine nahezu unfehlbare Falltechnik angeeignet. Kaum hatten seine Füße den Boden berührt, setzte er sich in Bewegung und steuerte Gernots kleine Tochter Sissy an, die genauso alt war wie er. Die beiden giggelten und fanden Interesse an einer mit Weihnachtskugeln geschmückten Tannengirlande, der Friedelinde keine lange Lebensdauer voraussagte.
»Kann ich noch was zum Tisch bringen?«, fragte sie Rosanna.
»Möchtest du vielleicht auch noch etwas wissen?«, erkundigte sich die Gastgeberin mit einem Augenzwinkern und drückte ihr eine Teekanne in die Hand.
»Was macht denn Lukas Kampmann hier?«, flüsterte Friedelinde ihr zu. »Das ist hier ja schließlich nicht das Polizeifest.«
»Nein, aber jede Frau durfte den Polizisten ihres Herzens mitbringen.«
»Nee, ne!« Friedelinde beugte sich zu Rosanna hinüber. »Theresa wohnt direkt neben mir, aber ich habe ihn noch nie bei ihr gesehen.«
»Tja, dann darfst du deinen Beobachtungsposten eben niemals verlassen«, erklärte Rosanna. »Und ich glaube, die beiden wissen noch gar nicht so richtig, wie es weitergeht«, raunte sie.
»Hm.« Friedelinde rieb sich die Kinnspitze. »Wir sollten die beiden im Blick behalten, dann können wir ihnen sagen, wie es mit ihnen weitergeht.«
Rosanna rollte mit den Augen und klatschte in die Hände. »Zu Tisch, bitte.«
Friedelinde setzte sich auf den freien Platz neben Nicolas.
»Das ist sowieso nicht richtig, wie wir das machen«, beschwerte sich Nicolas gerade und hielt Gernot seinen Becher hin, damit der Kaffee einschenkte. »Wir hätten vorher Lose ziehen müssen, damit jeder weiß, wen er beschenkt.«
»Dann hätten wir...