Steffi von Wolff
OMA HANNIS WEIHNACHTSÜBERRASCHUNG
17. Dezember
Dicke Schneeflocken fallen leise vom Himmel und lassen sich schweigend auf dem Rasen nieder. Schnee im Hamburg. Schnee, der tatsächlich liegen bleibt. Ich könnte stundenlang am Fenster stehen und »Schneeflöckchen, Weißröckchen« trällern und beschließe, so bald wie möglich die alten Weihnachts-CDs herauszusuchen, passend zur festlichen Stimmung, die sich langsam in mir breitmacht. Dazu riecht es in der ganzen Wohnung nach Zimtsternen und Haselnussmakronen, eine Mischung, die mich einfach glücklich macht. Ich seufze leise und konzentriere mich wieder auf mein Telefonat.
»Ich weiß, Mutti«, sage ich zum hundertsten Mal und bereue es mal wieder, dass wir Weihnachten in diesem Jahr mit der ganzen Familie bei uns feiern.
Normalerweise verbringen wir die Zeit vom 23. bis zum 27. Dezember bei meinen Eltern, in deren nettem Häuschen in Hessen, aber weil es einen Wasserrohrbruch gegeben hat, kommen sie diesmal nach Hamburg - und die ganze Verwandtschaft mit dazu.
Es ist nicht nur mit meinen Eltern kompliziert. Meine ganze Familie ist recht schwierig zu händeln, und deswegen . aber ich greife vor.
»Ich finde, dieser vegane Kram gehört gesetzlich verboten«, blökt meine Mutter nun entnervt aus dem Hörer. »Was kommt denn als Nächstes? Soll ich mich denn mein Leben lang nur noch von Salatblättern und Sojabrocken ernähren? Wenn man das deiner Großmutter erzählen würde, dann wäre was los. Sie hat als Trümmerfrau nach dem Zweiten Weltkrieg alles wieder mit aufgebaut und ist jedes Wochenende zum Hamstern aufs Land gefahren. Was glaubst du, was passiert wäre, wenn man den Frauen damals gesagt hätte, sie möchten kein Fleisch essen?«
Oma Hanni ist mittlerweile neunundneunzig Jahre alt und hat den Wunsch geäußert, ihren hundertsten Geburtstag am zweiten Weihnachtsfeiertag in einer verruchten Kneipe auf der Reeperbahn zu feiern.
In der Familie wunderte sich schon lange niemand mehr über die ungewöhnlichen Ideen der alten Frau. Zu ihrem 90. Geburtstag hatte sie darauf bestanden, dass die ganze Familie mit ihr zusammen einen Roadtrip durch das italienische Hinterland machte, wobei niemand der Einheimischen ein Wort Deutsch verstand und wir kein Italienisch. Und zu ihrem achtzigsten war ich von ihr zu einem gemeinsamen Fallschirmsprung gezwungen worden. Ein Erlebnis, das sie nur zu gern und ich keinesfalls wiederholen möchte.
Nun also die Reeperbahn. »Einmal war ich da mit eurem Großvater, was hatten wir für einen Spaß. Es gab sogar eine Schießerei in einer Kneipe, die hieß Elbschlosskeller. Erst dachte ich, ein Musikstück beginnt mit großem Tamtam, aber dann ging es los! Die Hälfte der Fenster haben sie denen zerschossen. Kurt sagte noch, ich solle mich unter den Tisch verkriechen, aber diese zwei Möchtegernschützen haben eh alles getroffen außer ihr Ziel. Was haben wir danach gelacht! In den Elbschlosskeller will ich unbedingt noch mal. Mit euch allen.«
Als sie das sagte, haben wir alle nur betreten genickt und gehofft, sie würde sich in zwei Wochen nicht mehr an ihre tolle Idee erinnern.
Leider ist Oma Hanni nicht das geringste bisschen vergesslich, nein, nein, sie hat ein Gedächtnis wie eine Zwanzigjährige. Und nun, kurz vor Weihnachten, hat sie verlauten lassen, dass sie uns an Heiligabend etwas Wichtiges verkünden will.
»Was kochst du denn nun?«, fragt meine Mutter am Telefon.
»Ich wollte einen Rehrücken und eine Hirschkeule machen, wir sind doch recht viele Leute«, erkläre ich.
»Mach bitte genügend Klöße, damit Tante Hiltrud satt wird.«
»Ich wollte eigentlich Kroketten .«
»Ja, auch, von allem viel. Nicht dass Hiltrud ihre Zustände bekommt. Sie hat doch immer Angst, nicht satt zu werden. Und denk auch an stilles Wasser für Leonor.«
Leonor ist die verwöhnte Enkelin meines Bruders Magnus. Ihre Mutter Natascha ist keine einfache Helikoptermutter, sondern eine ausgewachsene Wahnsinnige, die hinter allem und jedem eine Gefahr wittert. Angeblich verträgt Leonor nur stilles Wasser, weil sonst ihr Mägelchen rebelliert - doch dann brüllt Leonor jedes Mal los, dass sie Cola will, und Natascha sagt mit engelsgleicher Stimme, dass Cola den Magen auffresse und was solle man denn ohne Magen machen? Natürlich gibt's dann doch Cola, weil man seine Nerven behalten und nicht zum Mörder werden möchte.
»Ich muss jetzt zum Yoga«, sagt Mama nun. »Kräfte sammeln, Energien bündeln. Papa sagt, das würde nichts nützen, aber man soll ja nichts unversucht lassen. Was deine Oma uns wohl sagen will?«
Mama und ihr Yoga. Ich kriege regelmäßig ein schlechtes Gewissen, weil ich am liebsten auf dem Sofa liege. Wie Oma Hanni ist auch meine Mutter erstaunlich jung geblieben. Mit fünfundsiebzig nimmt sie immer noch regelmäßig Yoga-Stunden und fährt überall mit ihrem Mountainbike hin. Ich bin leider aus der Art geschlagen und frage mich manchmal mit Anfang fünfzig schon, ob eine halbe Stunde Sport in der Woche nicht ausreicht. Wenn überhaupt.
»Wir werden es schon noch rechtzeitig erfahren«, sage ich nun. »Wahrscheinlich hat sie den Motorradführerschein gemacht oder ihre Liebe zum Freeclimben entdeckt und ich muss im Frühjahr mit ihr auf die Zugspitze klettern und in so einem komischen Zelt übernachten, das in die Wand eingehakt wird und frei über einer Schlucht baumelt.«
Bei Oma weiß man nie.
»Tschüs, Mama.« Ich lege auf und sehe weiter dem Schneefall zu, der mittlerweile stärker geworden ist. Wenigstens das. Dann suche ich die Weihnachts-CDs aus dem Regal, lege eine von den Kastelruther Spatzen ein, weil ich jetzt etwas Kitschiges brauche, und gehe zurück in die Küche, um die Mandeln in die Bethmännchen zu drücken. Es wird schon alles werden.
23. Dezember
»Wie schön, dass ihr alle da seid!« Mein Mann erhebt sein Sherryglas und schaut in die Runde. Ich liebe ihn allein schon dafür, dass er das alles mitmacht, Jahr für Jahr aufs Neue, und diesmal auch noch bei uns zu Hause. Ich sehe meine Familie an. Da sitzen mein Bruder Magnus mit seiner Frau Rose und seiner Tochter Natascha. Daneben Leonor, die ständig von ihrer Mutter gestreichelt wird, damit ihre zarten Nerven es verkraften, dass der Vater zum ersten Mal an Weihnachten nicht präsent ist, denn Natascha hat vor einem halben Jahr die Scheidung eingereicht. Leonor hingegen scheint mit der neuen Situation wunderbar klarzukommen und rückt nur augenrollend von ihrer Mutter ab, um in Ruhe weiter auf ihrem neuen Smartphone herumzutippen. Neben ihr sitzt meine Schwester Anni mit ihrer Lebensgefährtin Katrin, die darauf besteht, Jockel genannt zu werden. Jockel trägt grundsätzlich Latzhosen, so auch heute, und liebt Gesichtspiercings. Ihr neuestes ist ein Nasenring, mit dem sie wie ein wütender Stier ausschaut.
Meine Tante Hiltrud und ihr Mann Gustaf sitzen da, mein Onkel Heribert mit seiner Frau Margot ebenfalls. Dann gibt's noch die Cousinen Lena und Vicky sowie die Cousins Sven und Oliver. Zwischen ihnen allen thront meine kleine Oma Hanni wie ein süßer Wurzelsepp, und ihre Augen blitzen schelmisch. Ich kann von Glück sagen, dass wir einen riesigen und noch dazu ausziehbaren Tisch besitzen, an dem die ganze Sippe bequem Platz hat - und den ich auch wirklich schön gedeckt habe: das alte Hutschenreuther-Service mit dem Goldrand, das meine Eltern zur Verlobung bekommen und mir wiederum zu meiner Hochzeit weitergegeben haben, die alten, kristallenen Weingläser, die ich auf dem Flohmarkt erstanden habe, die antiken Kerzenleuchter mit den dunkelgrünen Kerzen und die handbestickten Servietten, die ich in mühevoller Arbeit selbst hergestellt habe.
Oma trinkt ihren Sherry auf ex und lässt sich von meinem Mann nachschenken. »Man lebt nur einmal«, sagt sie dabei augenzwinkernd.
Ach, ich liebe Omi. Sie fährt mit ihren fast hundert Jahren immer noch jeden Tag mit dem Rad zum Einkaufen, versorgt ihre Kühe, Hühner und Ziegen und reitet auf ihrem Friesen Hektor zur medizinischen Fußpflege ins Nachbardorf.
»Jeden Tag Arbeit an der frischen Luft, viel Bewegung und Alkohol«, antwortet Ömchen, wenn man sie nach ihrem Geheimrezept fragt.
Ich besuche meine Oma so oft es geht in ihrem schönen Gutshof, den sie teilweise verpachtet hat. Das riesige Anwesen befindet sich nördlich von Frankfurt, und abgesehen von dem riesigen Herrenhaus gibt es noch zahlreiche Nebengebäude und unglaublich viele Wiesen, Felder und Wald drumherum, die ebenfalls in ihrem Besitz sind.
»Ich hoffe, du hast an meine Ernährungsumstellung gedacht«, sagt Hiltrud nun. »Ich lebe jetzt nach Paleo.«
»Ist das eine neue vegane Form?«, frage ich, denn ich habe noch nie von Paleo gehört. Hiltrud hat jedes Jahr eine neue Ernährungsform. Außerdem merke ich, dass mir schon jetzt der Kamm schwillt. Ich habe Tage in der Küche verbracht, um ein wunderbares Weihnachtsessen zu servieren, und das ist mir, mit Verlaub gesagt, auch gelungen, und nun kommt Hiltrud wieder mit irgendeinem neuen Diät-Mumpitz um die Ecke. Mein Mann schaut mich an, und ich weiß, was sein Blick bedeutet: Ruhig, ommm, ruhig .
Er hat ja recht. Ich atme tief durch und wende mich Hiltrud zu und warte ruhig auf ihre Antwort.
Sie sieht mich vorwurfsvoll an. »Allgemeinbildung ist von Vorteil. Nach Paleo zu leben, heißt, sich zu ernähren wie die Menschen in der Altsteinzeit. Kein Zucker, kein Getreide, aber viel Fleisch und Fisch, Beeren und Gemüse und Salat und .«
»Hatten die damals schon Salat?«, will Anni wissen.
»Salat ist ja auch Gemüse«, entgegnet Hiltrud, ohne die Frage zu beantworten. »Bekomme ich noch einen Sherry?«
»Ist der auch Paleo?«, schnaubt Jockel und...