Kapitel 1
»Alan Pell kommt in fünf Minuten«, verkündete Keisha.
»Du Glückliche«, sagte ich freudlos.
»Yeah.« Keisha hatte sich herausgeputzt und streckte ihren schlanken schwarzen Rücken wie eine preisgekrönte Siamkatze. »Er sagt, bei Up and Running wird ein Job frei.« Missbilligend zog sie die winzige Gucci-Jacke wieder von den glänzenden, ebenholzfarbenen Schultern und warf einen vielsagenden Blick auf meinen Arbeitsbereich, der mit Tonbrocken und Bonbonpapieren meiner neuesten Avantgarde-Kreation übersät war. »Wenn du so weitermachst, schlägt er dir vielleicht die Mitarbeit bei Blue Peter vor.«
»Ich bring das schon in Ordnung«, sagte ich düster. Mein Werk sah wirklich aus, als entstamme es dem Ausschuss der Bastelabteilung in der Kinder-TV-Sendung Play School.
»Und dich selbst am besten auch«, sagte Keisha, aber nicht unfreundlich. Vielmehr wie jemand, der es mit einer glücklosen Kreatur zu tun hatte. »Ich kann dir mein schwarzes Ghost-Kleid leihen.«
»Und was ist hier dran auszusetzen?«, knurrte ich.
Ihr Blick auf meine abgerissenen Jeans und das farbbekleckste Hemd sprach Bände. Meine Fingernägel waren abgebrochen, die Haare standen mir wirr vom Kopf und meine Kleidung entbehrte jeden Stils.
»Er arbeitet bei einer großen Plattenfirma ... er kennt eine Menge Fernsehleute«, lockte Keisha. »Interessante Leute ... mit Geld. Und Macht.«
»Ich interessiere mich nicht für Leute mit Geld und Macht!«, log ich aufgebracht. »Ich interessiere mich nur für Oliver.«
Meine letzte große Liebe hatte mir erst gestern den Laufpass gegeben. Per Fax, vom Drehort seines neuen Films aus. Er hatte allerdings keine Zeit gehabt, es selbst zu schreiben. Ich bin wahrscheinlich die einzige Frau in der Geschichte der Zweierbeziehungen, die von einer Sekretärin abserviert wurde.
»Oliver ist ein Loser. Und du wirst genauso enden, wenn du dich weiter anziehst wie eine Demonstrantin auf Protestmärschen«, beharrte Keisha. Sie öffnete ihren Kleiderschrank und holte einen kleinen schwarzen Fummel heraus, makellos sauber unter der Plastikhaube der Reinigung. »Wenn du das dreckig machst, musst du's bezahlen.«
»Was hat es denn gekostet?«, fragte ich verbittert.
Keisha errötete. »Zwei achtzig.«
»Zweihundert und achtzig Pfund?« Ich schnappte nach Luft. Mein Herz schlug wild bei der Vorstellung, wie viel Keisha für Kleidung ausgab. Und zwar ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte zwar nie Geld, sah aber immer todschick aus. Ich spreche hier von einer Frau, die einmal das Stempelgeld eines ganzen Monats für ein Armani-Jackett hingeblättert hat. Die Männer sahen Keisha nur an, und schon eilten sie in den nächsten Prada- oder Rolex-Laden. Vielleicht verkaufte sie ja all die Rolex-Uhren, die sie nicht brauchte, um sich die Designerklamotten leisten zu können. Jedenfalls war es mir ein absolutes Rätsel, wie sie das alles bezahlte.
Ich hatte schon Schuldgefühle, wenn ich mir ein Sandwich bei Marks & Spencers kaufte, anstatt es mir selbst zu machen.
»Ich kann mit dir zu Neville Daniels gehen«, schlug Keisha freudig vor, »und zu Liberty's, um dich herrichten zu lassen ... für dreihundert Mäuse könnten wir eine solide Grundlage schaffen.«
»Dreihundert Pfund!«, stieß ich hervor.
»Na ja, vielleicht vierhundert«, gab Keisha zu.
Ich zog das Kleid an und dachte deprimiert über ihren Vorschlag nach. Für vierhundert Pfund würde ich also vorzeigbar sein. Klasse. Und wo sollte ich die hernehmen? Ich wohnte seit drei Monaten in London, meine Eltern übernahmen noch immer meine Miete, ich hatte keinen festen Freund, der mir Taxis und Abendessen spendierte, und eine Mitleid erregende Zukunft als Tippse vor mir.
Die Tür ging auf, und Gail, meine jüngere Schwester, kam herein. Sie war mit mehreren Tüten aus dem Naturkostladen beladen und wirkte strahlend und zart in ihrem Kleid aus reiner Naturfaser. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass ich mit Gail zusammenwohnte, aber als mir das Wasser bis zum Hals stand, hatte ich mich schließlich dem Willen meiner Eltern gebeugt. Ich bezahlte keine Miete und sollte in Kürze eine feste Arbeit in der City beginnen.
Noch vor zwei Jahren hätten mich keine zehn Pferde dazu gebracht, hier zu wohnen.
Ich war die großartige Alexandra Wilde, deren wildes Naturell sich sogar im Namen niederschlug. Ich versagte in der Schule - besonders verglichen mit der Einser-Produzentin Gail Wilde. Doch wen juckte das schon? Ich war kreativ. Seit meinem ersten Lebensjahr hatte ich Schlamm-Skulpturen im Sandkasten gebaut, ich hatte an allen Wettbewerben für junge Künstler teilgenommen und sechs Landespreise gewonnen. Ich hatte eine strahlende Zukunft vor mir, sah mich schon geadelt wie Dame Elizabeth Frink. Damien Hirst würde mir nicht das Wasser reichen können. Ich schaffte mit Ach und Krach meine Mathe- und Englischprüfungen und ging nach Oxford. Aber nicht, um Akademikerin zu werden. O nein, ich machte einen Abschluss in bildender Kunst - Malerei und Bildhauerei, mit ein wenig Kunstgeschichte nebenher.
Oxford war zu schön, um wahr zu sein. Während ich mich in der Schule mit gewichtigen Werken der Weltliteratur wie Die Dornenvögel oder Middlemarch hatte rumplagen müssen, glich mein Unileben einer aufwendigen Merchant-Ivory-Verfilmung, mit Bootsfahrten auf der Themse und Picknicks auf der Christ-Church-Wiese. Meine Freunde, allesamt selbstgefällige Stipendiaten-Typen, die dem vulgären Comic Viz entsprungen schienen, behandelten mich von oben herab. Doch das war mir egal. Ich kaufte den Socialist Worker und beteiligte mich an Mietstreiks. Meine Vorbilder waren Vanessa Redgrave und Tony Benn - radikal, aber irgendwie trotzdem reich. Ich wollte meine Mäuse und Vögel für viel Geld in schicken Londoner Galerien verkaufen.
Meine Freunde lachten darüber, aber ich glaubte an mich.
Das war ein Fehler.
Niemand kaufte meine Skulpturen, und nach sechs Monaten in einem möblierten Zimmer mit Kakerlaken und defekten Heizöfen war ich total demoralisiert. Ich war nicht dafür geschaffen, von Galerie zu Galerie zu ziehen und meine Kunst feilzubieten. Mein Freund Oliver, seines Zeichens Regisseur und Bohemien, hatte mich für eine kalifornische Barbie-Puppe sitzen lassen, gleich bei seinem ersten Job in Amerika. Außer von meinen Eltern erhielt ich keinerlei Unterstützung und fand schon bald heraus, dass man mit einem Abschluss in bildender Kunst sowie einem Sortiment Tonfiguren in dieser Stadt nicht weit kommt.
»Mein Gott, Alex die Bleiche, siehst du müde aus«, sagte Gail, wohlwissend, dass mich das ärgerte. In Gegenwart meiner coolen Freunde wollte ich wirklich nicht bei meinem Spitznamen aus Kindheitstagen genannt werden. »Du brauchst dringend eine Extradosis Vitamin B.«
»Und dein Gesicht braucht eine neue Politur«, erwiderte ich knurrend.
»Tolles Kleid«, sagte Gail unbeeindruckt. »Eine Verschwendung angesichts der restlichen Erscheinung. Oh, Keisha, ich hoffe, du hast nicht das ganze heiße Wasser verbraucht, ich bin total verspannt, sicher wegen dem ganzen Stress. Vielleicht sollte ich es mal mit Prozak versuchen.« Sie warf ihrem waisenkindhaften, hirschkuhäugigen Spiegelbild einen selbstgefälligen Blick zu und eilte ins Badezimmer. Gail war eine hypochondrische Naturkostfanatikerin, aber sie kam damit durch, weil sie so lieblich und zerbrechlich wirkte. Selbst ihre blöden Klamotten aus purer Naturfaser waren irgendwie unglaublich attraktiv. Und wie Keisha hatte auch Gail einen Job: Sie war Redaktionsassistentin bei Organic Food Weekly, verdiente so gut wie nichts und wartete wohlgemut auf den Richtigen, der sie auf seinen Landsitz in Gloucestershire entführte, wo sie ihrer Liebe zur Natur mit einem kleinen Kräutergarten oder dergleichen frönen konnte.
Außerdem bildete Gail sich ein, der nächste Martin Amis zu sein. Sie schrieb an ihrem so genannten Der Große Naturroman, weigerte sich aber, mir den Plot zu erzählen - als interessierte er mich! -, damit ich ihn ja nicht klauen konnte. Sie hatte absolut kein Vertrauen zu mir, was echt ironisch war. Denn als ich in Oxford lebte und Gail in Reading Soziologie studierte, kam sie mich permanent besuchen und ging mit sämtlichen verfügbaren Männern aus. Nur nicht mit Tom Drummond, der sie links liegen ließ, aber von Tom werde ich später noch erzählen.
Als ich Keisha kennen lernte, war sie gerade arbeitslos, aber dank ihres angeborenen Selbstbewusstseins bekam sie schnell einen Job beim Radio und bald darauf beim Fernsehen. Sie tat Dinge, die ich nicht im Traum wagen würde. So fuhr sie zum Beispiel mit ihrem Mercedes-Coupé zum Arbeitsamt, um das Stempelgeld abzuholen, und sie fälschte ihren Lebenslauf. Für den Radiojob etwa musste Keisha Berufserfahrung vorweisen, die sie ohne mit der Wimper zu zucken erfand. Und jetzt bemühte sie sich um ihre erste feste Stelle: Alan wollte ein gutes Wort für sie bei Up and Running einlegen, der samstäglichen Kinderkultsendung der BBC. Tausende bewarben sich alljährlich auf die Recherche-Positionen beim Sender.
»Wenn Alan kommt, kannst du dann den Brief für mich schreiben, Alex?«, fragte Keisha ausgesprochen liebenswürdig.
Ich seufzte. Ich schrieb Briefe für sämtliche Bewohner in diesem Haus - Beschwerdebriefe, Dankesschreiben, Bewerbungen, was immer gerade anfiel. Es war neben Bildhauen das Einzige, was ich wirklich gut konnte.
Großartig, dachte ich, als mein Blick in den Spiegel fiel. Gail hatte Recht: Ich sah absolut uncool aus - eine mollige, verlotterte Alex in einem schicken schwarzen Kleid.
Morgen war mein erster Tag in einem...