Schweitzer Fachinformationen
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Bald war der dunkelste Punkt der Nacht erreicht.
Die Straße war leer gefegt, keine Menschenseele weit und breit. Nebel zog in Schleierfetzen durch die Luft, am Straßenrand dauerparkten rostige und verbeulte Autowracks wie sommerliches Fallobst. Über den Asphalt verteilt lag eine Streu aus Glasscherben, zerbrochenen Dachziegeln, Rattenkot und durchfeuchtetem Abfall.
In der aschgrauen Stille der Straße flackerte eine einzelne Birne. Die übrigen Straßenlaternen waren längst gezielten Steinwürfen, dem unbarmherzigen Frost oder dem selbstmörderischen Appetit der Nager auf Kabelgummi zum Opfer gefallen. Und in diesem Teil der Stadt würden auch keine Birnen mehr ausgetauscht werden. Offiziell deklariert als Sparmaßnahme von Temeswars Verkehrsaufsichtsbehörde, da der gewissenlose Vandalismus der Bewohner große Löcher in die Kommunalkasse riss. Inoffiziell beließ man manche gesellschaftlichen Probleme besser im Dunkeln.
Dieser einsame Laternenpfahl aber hatte jahrelangen Steinbewurf und Pistolenschüsse überlebt. War bei Sonnenuntergang treu angegangen, wenn die Straße sich den Regeln der Nacht beugte. Und jahrelang hatte sein goldenes Licht den Schauplatz für Schießereien und Prügeleien beleuchtet, darunter zwei Hinrichtungen, ungezählte Vergewaltigungen und ein einzelnes Ereignis unbeschreiblicher Grausamkeit.
Das war die Funktion des Laternenpfahls: Licht zu spenden, ohne zu urteilen, egal was sich unter ihm abspielte.
In dieser Nacht jedoch verabschiedete sich das Licht in kurzen Zuckungen wie eine im Meer versinkende Münze. Die Birne gab den letzten Rest an Energie frei, die der angefressene Halbleiter noch transportierte. Aber bevor die Glühbirne sich in die finstere Parade der Straßenlaternen einreihte, setzte sie noch ein letztes Drama in Szene.
Es hatte den ganzen Tag geregnet, bevor ein plötzlicher Wind die Wolken auseinandergerissen und einen sternlosen Mitternachtshimmel freigelegt hatte. Ein widerlich süßer Gestank stieg aus den Gullydeckeln auf, und die Lokale im Plopi-Viertel hatten längst die Hoffnung auf einen abendlichen Umsatz aufgegeben und die Türen zu den ausgestorbenen Straßen geschlossen.
Radu Romanescu versuchte mit Macht, nicht daran zu denken, dass er alleine war.
Alleine mit den schwarzen Trainingsanzügen.
Die Luft, die einige Grade unter dem Gefrierpunkt war, stach wie Nadeln in den Lungen. Seine Kleidung war schweißnass, klamm und kalt wie das Handtuch in seiner Sporttasche, die er irgendwo auf der Straße von sich geworfen hatte. Seine locker sitzenden Stiefel klammerten sich vergeblich an seine Fersen und zwangen ihn zu einem kräftezehrenden Trampelstil.
Aus dem Augenwinkel suchte er nach möglichen Verstecken. Einem Treppenhaus. Einem Park. Er konnte es nicht mehr ignorieren. Seine Beine wurden schwächer. Wie auf den letzten Bahnen im Becken, wenn die fließenden Schwimmzüge zunehmend brachialer wurden in dem zähflüssigen, wie Treibsand bremsenden Wasser. Auf den letzten fünf, sechs Bahnen, bevor der Körper kurzschloss.
Er biss die Zähne aufeinander. Jetzt ging es nur noch um eins. Ausdauer.
Vor ein paar Minuten war er mit brennenden Muskeln und einer Chlorwolke um den Kopf aus dem Hallenbad gekommen. Auf dem Weg zum Parkplatz hatte er einen kurzen Lichtblitz wahrgenommen. Wie Licht, das von einer Armbanduhr reflektiert wird. Er hatte sie weder gesehen noch gehört. Fünf Männer in schwarzen Trainingsanzügen. Neben einem Lieferwagen unter einem der kaputten Laternenpfähle.
Radu hatte sich auf die Jackentaschen geklopft, als hätte er was vergessen, und war zum erleuchteten Hallenbadeingang zurückgegangen. In einer Autoscheibe hatte er ihre Schatten zwischen den Fahrzeugen hervorgleiten und sich von hinten nähern sehen. Als er sich zu ihnen umgedreht hatte, waren sie stehen geblieben. Lässig entspannte Körpersprache, offene Handflächen, keine hastigen Bewegungen. Aber Radu hatte ihre Augen gesehen, die Informationen sammelten, die Situation analysierten, ihn analysierten.
Sie waren nicht entspannt. Sie waren vorbereitet.
Radu war normalerweise rund um die Uhr bewaffnet, außer beim Schwimmtraining, wenn er seine Dienstwaffe nicht im Spind in der Umkleidekabine liegen lassen wollte.
Der größte der Männer hatte angefangen zu reden. Radu hatte der irren, aber klaren Logik gelauscht und gedacht, dass seine müden Muskeln jetzt besser um ihr Leben laufen sollten.
Er hatte nach seiner Tasche gegriffen wie nach einer Schusswaffe. Die Männer waren auf seinen Bluff hereingefallen und zur Seite gesprungen, und Radu war losgestürmt.
Die Straße machte eine scharfe Kurve. Er rannte über den nassen Asphalt. Die Stiefel stauchten sich über seinen Knöcheln. Er schüttelte sie ab und lief auf Socken weiter.
Die Straße vor ihm sah aus wie der Eingang zu einem eingestürzten Tunnel. Autowracks, ausgeschossene Straßenlaternen, und dahinter ein schwarzes Loch. Er hielt das Tempo, auch als die Sicht auf wenige Meter schrumpfte. Der Verwesungsgestank war überwältigend. Er tastete sich zwischen den Wracks vor, die er mehr ahnte als sah. Etwas Spitzes bohrte sich durch seine Socken und weiter in die Haut.
Radu stöhnte vor Schmerz. Der Abfall war mit Glassplittern durchsetzt. Das Blut breitete sich warm unter seinen Fußsohlen aus.
Er beschwor ein inneres Bild von Alina herauf, ihre schönen Augen, ihre freundliche, lebensbejahende Art. Sie würde es ihm niemals verzeihen, wenn er sie zur Witwe machte.
Kämpf, du Idiot!
Aber sein Körper verweigerte den Dienst. Er schlang die Arme um einen Laternenpfahl und holte keuchend Luft, ohne die geringste Ahnung, wo er sich befand.
Er atmete tief ein und aus. Sein Herzschlag wurde langsamer. Um sich herum hörte er das Rascheln von Nagern auf ihrer nächtlichen Jagd.
Er schob die Hand in seine Tasche, um das Handy herauszunehmen, als dasselbe metallische Geräusch ertönte, wie wenn sein Onkel Mihai eine leere Bierdose an der Stirn zerdrückte.
Radu stierte auf die undurchdringliche, dunkle Wand vor sich. Da war etwas Großes da draußen.
Er hörte ihre knirschenden Stiefel. Die Gruppe pirschte sich heran, hatte Beute gewittert, verstand, dass sie Verstecken spielten.
Die Schritte verstummten.
Er hielt die Luft an. Lauschte.
Die Schritte setzten sich wieder in Gang, entfernten sich.
Radu atmete aus.
Im nächsten Augenblick badete er in Licht. Er starrte ungläubig zu dem gelben Auge der Straßenlaterne hoch, in der offenbar doch ein Rest Leben steckte.
»On je tamo!«, rief einer der schwarzen Trainingsanzüge.
Radu zögerte nicht. Er warf sich mit der Schulter gegen die Umrisse einer Tür, hörte das trockene Knacken der Angeln und landete auf dem Boden eines verrotteten Treppenaufgangs. Der Gestank von Urin und Schimmel war betäubend.
Er stapfte die Stufen hoch, rutschte in seinem eigenen Blut aus, schürfte sich das Schienbein auf, spürte seine Zehennägel brechen ohne ein Schmerzsignal aus dem Gehirn, das nur schrie, dass er zu langsam war, dass seine Lungen Sauerstoff brauchten, dass seine Beine nicht mehr wollten.
Die Stimmen der Männer schallten durch den Treppenaufgang. Ein feindliches Echo, das ihm bis zu einer verbeulten Stahltür folgte. Unter einem samtschwarzen Himmel stolperte er ins Freie. Etwas Pelziges wischte über seine Füße, als er sich nach einem Fluchtweg umsah. Das Flachdach war von wirren Kabelsträngen und verrußten Lüftungskästen überzogen.
Es gab keinen anderen Ausgang.
Er hörte das Getrampel aus dem Treppenhaus. Wie eine große Maschine, die sich zu ihm hocharbeitete. Die schwarzen Trainingsanzüge würden nicht aufgeben. Selbst wenn er jetzt entkam, würden sie ihn weiter verfolgen. Womöglich auch Alina.
Das durfte nicht passieren.
Er musste ihnen einen Riegel vorschieben.
Er trat an die Dachkante und schaute in das dunkle Vakuum unter sich. Die Luft war wohltuend frisch. Der Puls pochte in seinen Schläfen, aber er war nicht mehr so atemlos. Es war schön hier, schön, am Leben zu sein. Vor ihm strahlte das Stadtzentrum. Die kleinen Lichter standen ganz still, so wie die Zeit für ihn gleich stillstehen würde.
Er umfasste den Anhänger um seinen Hals, ein Goldkreuz, und spürte Alinas Nähe. Er dachte an all die großen und kleinen Dinge, die er gerne noch mit ihr zusammen erlebt hätte. Zusammen reisen, Großeltern von einem Haufen reizender Enkel werden, miteinander faltiger und älter werden, ohne dass ihre Liebe alterte.
Gott, wie gerne hätte er noch ein bisschen länger gelebt. Nicht Jahre oder Stunden, nur ein paar Minuten.
Da hörte er sie hinter sich.
»Ne skaèi. Spring nicht.«
Radu drehte sich um. Die Blicke der Männer waren blanke Kreuze. Einer hielt seine Stiefel in den Händen. Radu verstand nicht, was sie damit wollten. So, wie er nicht verstand, was das hier zu bedeuten hatte. Er war ein tüchtiger Polizist, hatte das Herz auf dem rechten Fleck und ließ sich nicht bestechen. Aber ansonsten war er nichts Besonderes. Hatte sich nie besonders hervorgetan. Es gab größere und bedeutendere Fische bei der Polizei. Personen, deren Tod in den Medien sehr viel mehr Aufsehen erregen würde.
»Ne skaèi.« Die Stimme klang jetzt anders. Nicht mehr so schneidend. Auffordernd.
Radu schnaufte. Was spielte es für eine Rolle, ob er lebte oder nicht? Er hatte das große Messer mit den Blutrillen gesehen.
Aber sie würden ihn nicht kriegen. Er befand sich bereits im Fall, er war frei, auf dem Weg an einen Ort, an den Alina ihm eines Tages folgen würde und an dem sie sich wiedersahen.
Er schob seine blutigen Zehen über die Kante.
Die Lichter der Stadt streckten...
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