Schweitzer Fachinformationen
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»Kazmaier mein Name, Dr. Vitus Kazmaier. Ich möchte ein Verbrechen anzeigen.«
Kriminalhauptkommissar Andreas Brander saß an seinem Schreibtisch in der Polizeidirektion Esslingen, Kriminalinspektion 1, erste Etage, Fenster zum Hof. Er hatte sich dem Mann, der an der kurzen Seite seines Tisches auf dem Besucherstuhl saß, zugewandt. Die Hände lagen locker in Branders Schoß, die blauen Augen musterten sein Gegenüber aufmerksam. Er schätzte den Mann auf Anfang oder Mitte fünfzig. Kazmaier war knapp einen Meter achtzig groß, hager, der graue Anzug glänzte an Ellenbogen und Knien. Das schüttere Haar war, passend zum Anzug, grau und dünn, die Haut blass, vereinzelte Bartstoppeln zeugten von einer nachlässigen Rasur. Eine dezente, aber doch unangenehme Schweißnote ging von ihm aus. Wäre das Fenster nicht bereits geöffnet gewesen, hätte es Branders Kollegin Peppi innerhalb der ersten dreißig Sekunden nach Erscheinen des Mannes aufgerissen.
Peppi saß auf der anderen Seite des kleinen Büros, verschanzt hinter Tastatur und Monitor, und bemühte sich, flach zu atmen. Sie hatte eine empfindliche Nase. Ihre dunklen Locken hatte sie im Nacken zusammengebunden, aber einige widerspenstige Strähnen hatten sich wieder befreit.
Kazmaier sah vom Kommissar zu Peppi, dann zur geöffneten Bürotür in seinem Rücken und wieder zu Brander. Die hellgrauen Augen wollten nicht stillstehen. Dennoch, an diesem Mann war alles so unscheinbar, wie es unscheinbarer nicht sein konnte, ging es Brander durch den Kopf. Ein Mensch, den man nicht wahrnahm, abgesehen von seinem Schweißgeruch. Der war vermutlich dem Wetter geschuldet. Es war bald Mitte Oktober und heiß wie im Hochsommer, tagsüber stiegen die Temperaturen fast bis an die Dreißig-Grad-Marke. Der Anzug des Mannes war viel zu warm. Brander selbst trug an diesem Tag ein beiges T-Shirt und Bluejeans.
»Könnten Sie die Tür bitte schließen?«, bat der Unscheinbare. Die Stimme des Mannes war ein eiliges Stakkato, leise und gehetzt. »Zu viele Menschen hier . Das lenkt ab. Konzentration. Konzentration ist wichtig.«
Brander, der näher zur Tür saß, stand auf und schloss sie. Dann kehrte er an seinen Platz zurück. »Was für ein Verbrechen möchten Sie denn zur Anzeige bringen?«
Kazmaier ließ sich einen Atemzug Zeit, bevor er eilig erklärte: »Es geht um ein Kapitalverbrechen. So nennen Sie das doch, nicht wahr? Kapitalverbrechen. Schwere Straftaten. Capitalis. Latein. Das Haupt betreffend. Eine Straftat, die einen Menschen den Kopf kosten kann. Früher . heute nicht mehr. Nicht mehr in Deutschland. In anderen Ländern schon. In Deutschland nur im übertragenen Sinne .«
Brander hob bremsend die Hand. »Herr Kazmaier. Was für ein Verbrechen möchten Sie melden?«
»Das sagte ich doch: ein Kapitalverbrechen.«
Brander lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Zu warm. Er löste sie wieder. Auf seiner Stirn bildeten sich ein paar Falten. »Sie sind also Zeuge der Tötung eines Menschen geworden?«
Vitus Kazmaiers Augen wurden rund. Der Blick hob sich schräg zur Decke und verharrte dort in unerwarteter Ruhe.
Brander sah ratlos zu Peppi. Was für einen schrägen Vogel hatten die Kollegen von der Wache ihnen da ins Büro gebracht? Als er sich wieder dem Besucher zuwandte, sah er die hellgrauen Augen auf sich gerichtet.
»Der Mensch muss also tot sein?«
»Wenn wir von einem Kapitalverbrechen sprechen, impliziert es das, ja«, schwafelte Brander. Aus den Augenwinkeln sah er Peppis Mundwinkel zucken.
Kazmaier blickte erneut konzentriert zur Decke, dann wieder zu Brander. »Ich muss gehen.«
»Sie wollten ein Kapitalverbrechen melden.«
»Ja . nein . ich bin mir nicht mehr sicher . muss darüber nachdenken.«
Brander beugte sich ein Stück näher zu seinem Gast. »Herr Kazmaier, worum geht es denn?«
»Nein.« Der Unscheinbare schüttelte energisch den Kopf. »Ich muss nachdenken.«
»Wenn Sie Zeuge eines Verbrechens wurden, egal ob Kapitalverbrechen oder ein anderes Vergehen, dann sollten Sie uns das sagen«, versuchte Brander, die Zweifel des Mannes zu zerstreuen. Anscheinend hatte er ja etwas gesehen, was ihm keine Ruhe ließ.
»Ich muss erst noch einmal nachdenken. Ich möchte nicht durch Ungenauigkeit Verwirrung stiften.«
Was tun? War Kazmaier einer dieser Leute, die überall Verdächtiges ahnten und die Polizei mit unsinnigen Aussagen davon abhielten, dort zu sein, wo sie gebraucht wurde? War er einer, der Ufos am Himmel entdeckte und mit Menschen sprach, die niemand anders sah außer er selbst? Oder hatte er tatsächlich etwas beobachtet? Noch wusste Brander zu wenig, um zu entscheiden, wen er vor sich hatte.
»Um was für ein Verbrechen handelt es sich? Was haben Sie beobachtet? Ist ein Mensch in Not? Braucht jemand Hilfe?«
Kazmaier sah ihn erstaunt an. »Das müssen Sie doch eher wissen als ich.«
»Wir sind nicht allwissend.« Brander lehnte sich wieder zurück. »Anscheinend haben Sie etwas beobachtet. Bitte verraten Sie uns, was. Wenn ein Mensch in Gefahr ist, sollten Sie uns das sagen.«
»Ich sagte doch bereits, ich muss nachdenken. Ich bin mir nicht sicher.«
»Worin sind Sie sich nicht sicher?«
»Ob das, was ich gesehen haben, ein Kapitalverbrechen war.«
»Lassen Sie das doch uns entscheiden. Dafür sind wir da. Erzählen Sie uns einfach, was Sie gesehen haben.«
»Es geht nicht. Es sind noch zu viele offene Parameter.«
»Herr .«
»Rufen Sie mir bitte ein Taxi? Es ist zu hell . zu hell .« Kazmaier sprang auf.
Brander sah erneut zu Peppi. Die kratzte sich mit vielsagendem Blick mit dem Zeigefinger über die Schläfe.
»Ich begleite Sie nach unten«, erklärte Brander und stand ebenfalls auf. »Peppi, lässt du Herrn Kazmaier bitte ein Taxi rufen?«
»Was war denn das jetzt für 'ne Nummer?«, fragte Peppi, als Brander wieder ins Büro zurückkehrte.
»Herr Kazmaier hat mir auf dem Weg nach unten noch die Bedeutung und Herkunft des Wortes Taxi erläutert. Herleitung von Taxameter. Griechisch. Gebührenmesser. Taxieren. Der Preis ist festgelegt. Verstehen Sie?«, ahmte er den Telegrammstil des Mannes nach. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und ließ grübelnd einen Kugelschreiber durch die Finger kreisen. Warum war dieser Mann zu ihnen gekommen? War dieser Unscheinbare einfach nur ein seltsamer Kauz? Jemand, dem ein zu hoher IQ den Verstand geraubt hatte? Oder hatte er tatsächlich etwas beobachtet?
»Haben wir irgendetwas über diesen Kazmaier?«, fragte Brander seine Kollegin und startete dann selbst eine Personenabfrage. Vitus Kazmaier. Nichts.
»Wenn du mich fragst: Dem bekommt die Hitzewelle nicht.« Peppi blies sich eine Strähne aus der Stirn.
Brander wollte den Besuch dennoch nicht auf sich beruhen lassen. »Gab es in den letzten Tagen irgendeinen Vorfall, für den wir Zeugen suchen? Einen Unfall? Eine Schlägerei?«
Sie durchforsteten die aktuellen Meldungen. Peppi war schneller mit ihrer Zusammenfassung: »Beim >Dick< gab's letzten Samstag auf dem Parkplatz eine Prügelei zwischen ein paar Betrunkenen, keine ernsthaften Verletzungen. Dann habe ich noch zwei Fälle von häuslichen Streitigkeiten gestern und Montagnacht . ein schwerer Verkehrsunfall auf den Fildern am Dienstag . Ladendiebstahl können wir ausschließen, oder?«
»Mhm.« Brander rieb sich über das unrasierte Kinn. Cecilia würde sich am Abend beschweren, wenn er ihr einen Begrüßungskuss gab. Nach zwei rasurfreien Tagen waren die kurzen Stoppeln hart und borstig.
»Oh, hier, kam ganz frisch rein, Meldung vom Revier: Leichenfund in Esslingen, Maienwalterstraße. Todesursache ungeklärt. Kriminalpolizei angefordert.« Peppi sah grinsend auf. »Das sind wir. Mutmaßlich ein Kapitalverbrechen: Capitalus, das Haupt betreffend.« Sie zog die Handkante in einer schnellen Bewegung am Hals vorbei.
Exakt diesen Moment nutzte Käpten Huc - Inspektionsleiter Kriminaloberrat Hans Ulrich Clewer - zum Eintritt ins Büro der Kommissare. »Capita-lis, nicht Capita-lus, Frau Pachatourides. Capitis damnare- zum Tode verurteilen. Wen möchten Sie einen Kopf kürzer machen?«
Peppi räusperte sich. »Och, da gibt's einige. Möchten Sie eine Liste?«
»Bei Gelegenheit gern.« Für eine Millisekunde huschte ein Lächeln über das wettergegerbte Gesicht des Achtundfünfzigjährigen. Clewer war leidenschaftlicher Bergsteiger, drahtig, gewissenhaft und zielorientiert. Er wandte sich an Brander. »In einer Wohnung in der Maienwalterstraße gab es einen Leichenfund. Opfer weiblich, Todesursache ungeklärt. Es ist nicht sicher, ob es sich um ein Tötungsdelikt handelt. Die Kriminaltechniker sind bereits vor Ort. Fahren Sie bitte hin und machen Sie sich ein Bild vom Geschehen. Ein Marcel Schweikhard ist Mieter der...
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