Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das Gebäude der Polizeidirektion Tübingen befand sich in einer Sackgasse. Kurz hinter dem roten Backsteingebäude des Regierungspräsidiums erhob sich der hohe Plattenbau aus den siebziger Jahren mit blasser blaugrauer Fassade und ausladender Antenne auf dem Dach. Die gelben Fensterrahmen verstärkten den Eindruck, vor einem verblichenen, hochkant gestellten Schwimmbad zu stehen. Gleich links neben dem hohen viereckigen Bau gab es einen kleinen Ableger, dreistöckig, in ähnlich anmutendem Stil und mit überdimensionierter Antenne. Wahrlich keine Schönheiten.
Ein Kunstobjekt in Form einer modernen Pyramide in dezentem Grau stand im Zentrum der Einfahrt, trug jedoch nicht dazu bei, dem Ort eine einladendere Atmosphäre zu verleihen.
Das Büro von Kriminalhauptkommissar Andreas Brander lag in der ersten Etage. Der Fünfundvierzigjährige saß an seinem Schreibtisch, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte grübelnd vor sich hin, während seine Kollegin Persephone Pachatourides ihrem Zorn mit griechischem Temperament verbalen Auslauf verschaffte. Energisch blies sie sich gerade eine ihrer schwarzen Locken aus dem Gesicht. Obwohl sie ein Jahr älter war als Brander, hatte sich noch kein graues Haar in ihrer Mähne hervorgewagt. Bei Brander selbst waren die kurzen grauen lediglich deshalb kaum sichtbar, da er ohnehin nur noch eine geringe Haarpracht besaß.
Auf dem Besucherstuhl saß der Kollege Hendrik Marquardt, vornübergebeugt, die gut trainierten Unterarme auf den Oberschenkeln abgelegt, und ließ die Knöchel seiner Finger knacken. Das Hemd spannte sich an den breiten Schultern.
Es war eine Frage der Zeit, wie lange sie in dieser Besetzung noch zusammenarbeiten würden. Zu wenig Zeit, fand Brander, während er versuchte, die Gedanken in seinem Kopf zu sortieren, um nach den positiven Aspekten zu suchen und sich nicht ganz und gar in ohnmächtiger Wut zu verlieren. Vergeblich.
»Verdammt noch mal, Andi, jetzt sag du doch auch mal was!«, verlangte Peppi, während ihre Arme wild durch die Luft fuchtelten. »Sind wir Menschen oder Marionetten? Wie stellen die sich das vor? Welcher Stubenhocker hat sich diesen Scheiß ausgedacht?«
»Die werden sich schon was dabei gedacht haben«, gab Brander schwach von sich.
»Gar nichts haben die sich gedacht! Das waren doch irgendwelche Theoretiker, die von unserer Arbeit keinen blassen Schimmer haben. Hat mit dir mal jemand gesprochen? Hat dich irgendjemand irgendwann jemals gefragt, was du für sinnvoll hältst? Mich hat keiner gefragt. Aber das lass ich mit mir nicht machen!«
»Du bist Beamtin, du hast gar keine andere Wahl«, erinnerte Hendrik Marquardt die Kollegin an den Eid, den sie geschworen hatte. »Du wirst sowieso eine der Ersten sein, die gehen darf. Du hast keine Familie, keine Kinder. Eine unabhängige Frau .«
»Ich habe eine Eigentumswohnung in Tübingen. Die habe ich mir nicht gekauft, um jeden Tag auf der B 27 stundenlang im Stau zu stehen.« Peppi schnaufte zornig. »Esslingen! Wenn ich in Esslingen arbeiten wollte, hätte ich mich dahin beworben!«
»So schlimm ist Esslingen ja nun auch wieder nicht«, versuchte Hendrik, ein wenig Optimismus zu verbreiten.
»Wir sprechen uns wieder, wenn du ein halbes Jahr zwischen Tübingen und Esslingen hin- und hergependelt bist. Du wirst dich freuen, wenn dein Kind bei der Tagesmutter wartet, während du auf der Aichtalbrücke im Stau stehst und die Aussicht auf die Alb genießt. Und du, Andi? Du hast dich extra von Stuttgart nach Tübingen versetzen lassen, weil Ceci hier arbeitet, und demnächst darfst du täglich nach Esslingen kutschieren. Da wärst du doch besser in Stuttgart geblieben. Von Entringen ist das ja noch eine viel elendere Fahrerei.« Peppi streckte die Hände zur Decke. »Ich könnte kotzen!«
Die Reorganisation der Polizei Baden-Württemberg hatte die Polizeidirektion Tübingen hart getroffen. Sie hatten mit Einschnitten gerechnet, nachdem erste Informationen im Rahmen einer Kick-off-Veranstaltung in Balingen an die Beamten gegeben worden waren, aber keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass die Veränderungen so gravierend sein würden. Insgeheim hatten sie alle gehofft, dass der Standort Tübingen verschont bleiben würde. Eine utopische Wunschvorstellung bei der Zielvorgabe, dass die insgesamt vierunddreißig Polizeidirektionen in Baden-Württemberg auf gerade mal zwölf Regionaldirektionen reduziert werden sollten.
An diesem Morgen hatten sie erfahren, dass ein Großteil der Kriminalpolizei Tübingen nach Esslingen umziehen würde. Wenn es wenigstens Reutlingen gewesen wäre, die Entfernung hätte man noch ohne großes Murren akzeptieren können. Aber Peppi hatte recht, für die Fahrt von Entringen nach Esslingen würde Brander täglich mindestens eine Stunde pro Weg im Auto sitzen, bei dem Verkehrsaufkommen in der Region waren anderthalb Stunden realistischer. Mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren, konnte er vollends vergessen.
Ein Umzug wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht günstig. Zum einen hatte er vor einigen Jahren in Entringen eine Doppelhaushälfte gekauft, in der Cecilia und er sich sehr wohlfühlten. Zum anderen konnte er eine erneute Umstellung unmöglich der fünfzehnjährigen Nathalie zumuten, für die er und seine Frau vor wenigen Monaten die Pflegschaft übernommen hatten. Das Mädchen brauchte Beständigkeit in seinem Leben.
»Es ist ja nicht nur die Fahrerei«, fuhr Peppi energisch fort. »Unsere Arbeit lebt doch davon, dass wir die Menschen hier kennen. Wenn es vor einer Kneipe eine Schlägerei gab, dann wissen wir, bei welchem unserer Pappenheimer wir an die Tür klopfen müssen, um herauszufinden, wer es war. Wie soll das denn funktionieren, wenn wir kaum noch vor Ort sind?«
»Erzähl das nicht uns, erzähl das denen da oben«, kam es frustriert von Hendrik.
»Jetzt macht euch mal nicht verrückt. Es ist doch noch nichts entschieden«, bemühte Brander sich, den eigenen Pessimismus zu vertreiben. »Ein kleiner Teil der Kripo bleibt schließlich hier.«
»Ja, und das sind ausgerechnet wir drei.« Peppi verzog grimmig den Mund. »Weißt du was? Ich gründe meine eigene Polizeidienststelle, und dann können die mich alle mal.« Mit der Idee entlockte sie Hendrik ein Schmunzeln. »Polizeiposten Persephone Pachatourides. Ich würde mich glatt bei dir bewerben.« Er richtete sich auf, ließ die steifen Schultern kreisen. »Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee. Darf ich der zukünftigen Polizeipostenleiterin eine Tasse mitbringen?«
»Ja, bitte. Schleim dich ruhig schon mal bei mir ein. Wer weiß, was noch alles kommt.«
***
Brander hatte pünktlich Feierabend gemacht. Der Frust vom Vormittag war geblieben, hatte sich wie ein Schwammtuch auf seine Gehirnzellen gelegt und alle anderen Gedanken aufgesaugt. Dienst nach Vorschrift, so gut es ging. Dann wechselte er Jeans und Hemd gegen atmungsaktive Radbekleidung, ließ Tübingen samt Polizeidirektion hinter sich und fuhr in Rekordzeit über die Landwirtschaftswege nach Entringen. Zu Hause angekommen fand er Nathalie, die im Wohnzimmer auf dem Sofa lag und durch das Fernsehprogramm zappte.
»Bist du allein?«, wunderte sich Brander.
»Cecilia ist einkaufen«, kam es mürrisch von dem Mädchen. Cecilia. Anscheinend hatten die beiden sich gestritten, sonst hätte Nathalie von »Ceci« gesprochen. »Und sie hat dir erlaubt, hier abzuhängen und Fernsehen zu gucken?«
»Mhm.« Sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen.
Und ich glaub noch an den Weihnachtsmann, dachte Brander schlecht gelaunt. »Hast du deine Hausaufgaben gemacht?«
»Mhm.« Der Blick blieb auf den Bildschirm geheftet. Lüge Nummer zwei. Brander zwang sich zur Ruhe. Er hatte Sorgen, er war wütend und übellaunig, und jetzt log Nathalie ihn so naiv an, als wäre er ein Volltrottel, dem man auch sagen könnte, die Erde sei ein Zauberwürfel.
»Nathalie, würdest du mir bitte ins Gesicht sehen und meine Fragen noch einmal beantworten?«
Sie verdrehte genervt die Augen. »Ey, könnt ihr mich hier nicht einfach mal in Ruhe chillen lassen? Mann, ey!«
»Ey, kannst du vielleicht mal aufhören, mich anzulügen?«, konterte Brander.
»Oh, fuck. Lass doch nicht immer den Kackbullen raushängen. Solltest auch mal 'n bisschen chillen.«
Brander biss die Zähne zusammen, um das Mädchen nicht anzubrüllen. Sie hatten Regeln aufgestellt, und seit Tagen hatte Nathalie es sich anscheinend in den Kopf gesetzt, diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ignorieren. Er ging zum Fernsehapparat, schaltete das Gerät aus und wandte sich dem Mädchen wieder zu.
Nathalie hatte sich aufgerichtet, blickte ihn mit zusammengepressten Lippen und einer Mischung aus Trotz und Schuldbewusstsein an. »Sorry .«
»Für den Kraftausdruck ziehe ich dir zwei Euro vom Taschengeld ab, für die Lügerei übernimmst du am Wochenende ohne Murren den Spüldienst. Und jetzt machst du deine Hausaufgaben. Wenn ich geduscht habe, will ich sehen, wie weit du...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.