Schweitzer Fachinformationen
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Silke Es war ein wunderschöner Tag Mitte Juni 2018. Monatelang hatte es bei uns auf Pellworm geschüttet wie aus Kübeln. Nun sah es so aus, als ob wir alle endlich ein wenig durchatmen könnten. Langsam, aber sicher trockneten die überschwemmten Wiesen und Felder. Unsere Rinder konnten wieder auf die Weide, die Schafe auf den Deich.
Ich hatte mein Auto am Straßenrand abgestellt. Die Sonne schien, ich saß im Wagen und hielt mit dem Fernglas Ausschau nach Wiesenvögeln. Wie die meisten Bewohner*innen von Pellworm habe auch ich mehrere Berufe. Damals war ich nicht nur Mutter von vier Kindern, kümmerte mich um die Schafe und betreute die fünf Ferienwohnungen auf unserem Biobauernhof auf der Edenswarf im Süden Pellworms. Seit 2012 war ich auch für den Naturschutzbund (NABU) als Biologin im Wiesenvogelschutz unterwegs. Die Inseln Föhr und Pellworm haben hier eine besondere Bedeutung, ja Verantwortung, weil es auf ihnen keine für die Vögel gefährlichen Kleinsäuger wie Füchse oder Hermeline gibt. Und so halte ich im Frühjahr tagelang Ausschau nach Kiebitzen, Uferschnepfen, Austernfischern und anderen geschützten Wiesenvögeln. Sobald ich irgendwo Brutpaare entdecke, spreche ich mit den Bauern und Bäuerinnen und finde gemeinsam mit ihnen eine Möglichkeit, wie wir die Vögel und ihre Gelege schützen können.
Die Regenmassen der zurückliegenden Monate waren nicht nur ungewöhnlich gewesen, sondern besorgniserregend. Natürlich ist Wetter nicht gleich Klima. Schon immer hat es besonders nasse, verregnete Winter gegeben. Dennoch war mir als Biologin klar, dass derart extreme Wetterereignisse inzwischen immer deutlicher auf einen Zusammenhang mit der Klimakrise hinwiesen: Weil die Erwärmung durch den Klimawandel sich auch besonders stark auf die Arktis auswirkt, wird der Temperaturunterschied zum Äquator kleiner und das vermindert die Stärke der Jetstreams. Das sind starke Windbänder, die in Schlangenlinien rund um die Erde wehen und auf diese Weise Hoch- und Tiefdruckgebiete erzeugen. Lässt ihre Dynamik nach, bleiben zum Beispiel Tiefdruckgebiete wesentlich länger hängen, als wir das bislang gewohnt sind. Bereits in den Jahren zuvor hatte ich beobachtet, dass die Stürme, die uns früher stets im Herbst getroffen hatten, das Meer nun immer öfter schon im späten Frühjahr oder im Frühsommer an die Deiche peitschten. Mit fatalen Folgen für Vögel wie die Austernfischer, die vor den Deichen im Vorland - also zur Meerseite hin - brüten. Ihre Gelege wurden von dem unerwartet hohen Wasserstand dieser Sommerhochwasser einfach fortgespült. Da halfen auch keine Extraschichten und Sondereinsätze, bei denen ich versuchte, die Eier irgendwie abzufangen und zu retten. Doch in diesem Jahr war es noch mal anders. Es war schlimmer. Vom Herbst 2017 bis zum Frühling 2018 regnete es auf der Insel so unvorstellbar heftig und anhaltend, wie wir es alle bisher noch nicht erlebt hatten.
Pellworm hat sich schon immer verändert - manchmal auch radikal. Vor Ende des 11. Jahrhunderts war es beispielsweise noch gar keine Insel, sondern Teil einer großen Ebene. Die nordfriesischen Inseln existierten damals noch nicht. Husum war eine kleine Siedlung im Hinterland. Von Sylt bis zur Höhe der Eidermündung zog sich ein natürlicher Wall aus Sanddünen, die von der letzten Eiszeit angeschwemmt worden waren und das tiefliegende Marschland von der Nordsee abschirmten. Doch sicher war ihr Schutz nicht. Große Sturmfluten rissen immer wieder Teile der Ebene weg. Vor allem die Sturmfluten der Jahre 1362 und 1634, auch bekannt als die »Groten Mandränken« (das große Ertrinken), veränderten die deutsche Nordseeküste von Ostfriesland bis Nordfriesland massiv. Während der ersten Groten Mandränke im Januar 1362 ging die sagenumwobene Siedlung Rungholt zusammen mit sieben anderen Gemeinden in den eiskalten Fluten unter. Noch heute kann man bei einem Spaziergang im Wattenmeer rund um Pellworm alte Scherben, Knochen und andere Überreste dieser früheren Siedlungen finden. Denn auch in der Gegend, in der heute unsere Insel liegt, verloren die Marschbauern und Marschbäuerinnen große Flächen ihres Landes. Deshalb reagierten sie. Zum einen versuchten sie durch bessere Deiche dem Meer das verloren gegangene Land wieder abzuringen. Zum anderen bauten die Menschen ihre Häuser nun auf sogenannten Warften.
Doch auch das konnte sie nicht vor der zweiten Groten Mandränke im Oktober 1634 bewahren. Diese war noch schrecklicher als die erste und verwüstete die Küste bis hinunter zur Elbmündung. Das Wasser soll damals rund vier Meter über dem Tidehochwasser gestanden haben. Das entspricht in etwa dem Stand der Flut von 1976, die als eine der größten Sturmfluten in der Geschichte der deutschen Nordseeküste gilt. Obwohl die Menschen ihre Dämme verbessert hatten, brachen sie an mehreren Hundert Stellen. Nach historischen Belegen ertranken damals rund 8000 Menschen allein in Nordfriesland.
Die ganze Landschaft veränderte sich grundlegend: Husum lag auf einmal nicht mehr im Landesinneren, sondern an der Küste. Die Menschen bauten einen Hafen, und die Siedlung entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einer bedeutenden Handelsstadt. Außerdem zerrissen die Wassermassen die Insel Strand in die Halbinsel Nordstrand, die Hallig Nordstrandischmoor und die Insel Pellworm. Dazwischen fließt seitdem der Priel Norderhever, also ein Wattstrom, der sich bis zu 30 Meter tief ins Watt eingegraben hat. Viele verließen damals ihre Heimat. Doch es gab auch welche, die blieben und sich daranmachten, das Stück Land dem Meer auf Dauer abzutrotzen. Drei Jahre später, 1637, hatten sie es mit Hilfe niederländischer Siedler*innen geschafft: Ein knapp 30 Kilometer langer Deich schützt bis heute das trockengelegte Marschland, die sogenannten Köge, vor Überflutungen. Unser Hof steht auf der Edenswarf und liegt im Großen Koog der Insel. Heute ist Pellworm die drittgrößte nordfriesische Insel mitten im Nationalpark Wattenmeer und im Biosphärenreservat Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Deich um Pellworm bereits mehrmals erhöht - auf heute acht bis neun Meter.[1] Durch die Klimakrise dürfte der Meeresspiegel bei uns an der Küste Schleswig-Holsteins nach derzeitigen Schätzungen bis Ende dieses Jahrhunderts um rund 0,75 bis 0,8 Meter steigen, sodass wir die Deiche in Zukunft noch weiter erhöhen müssen. Das alleine ist aber vermutlich nicht die größte Gefahr. Das Problem ist vielmehr, dass durch die Erderwärmung auch die Zahl großer Sturmfluten zunimmt. Der steigende mittlere Meeresspiegel plus weitere große Sturmfluten könnten dafür sorgen, dass extreme Wasserstände künftig deutlich höher liegen als bei den beiden Groten Mandränken und anderen historischen Sturmfluten. Modellberechnungen zeigen, dass wir Menschen an der südlichen Nordsee schon bei einem mittleren Meeresspiegelanstieg von rund einem halben Meter mit zehnmal mehr extremen Wasserständen zu rechnen haben. Den größten Anstieg prognostiziert die Wissenschaft bei uns an der schleswig-holsteinischen Küste.[2] Um sich darauf vorzubereiten, sollen auch auf Pellworm sogenannte Klimadeiche gebaut werden. Sie sind nicht nur höher und stärker als die bisherigen Deiche. Sie sind mit rund 100 Metern im Querschnitt auch wesentlich breiter als früher. Dank ihrer besonders flachen Böschungen sollen sie dafür sorgen, dass die Wellen einer Sturmflut langsam auslaufen können. Sie prallen also nicht mit voller Wucht auf den Deich und höhlen diesen daher nicht aus. Auch die Krone der Klimadeiche ist deutlich breiter. So gibt es eine Baureserve für künftige Aufstockungen. Technisch ist es heutzutage also noch möglich, unsere Deiche an den steigenden Meeresspiegel und die immer stärkeren Sturmfluten anzupassen. Die Frage ist nur, wie lange und wie oft wir das noch tun können.
Dass der Meeresspiegel als Folge der Klimakrise steigt, ist ein eingängiges Bild, das sich in Kinofilmen actionreich inszenieren lässt. Man kann sich die Konsequenzen gut ausmalen: Zahlreiche Großstädte weltweit liegen an Küsten und sehen sich von dem steigenden Meeresspiegel bedroht. Viele Menschen sind in Gefahr. Solche Szenarien können einem schon Angst machen.
Zugleich ist der Anstieg des Meeresspiegels ein komplexer Vorgang. Gerade im Wattenmeer wird sich die Veränderung vermutlich über so viele Jahrzehnte erstrecken, dass die Deiche von Pellworm zu meinen Lebzeiten noch standhalten. Aber für meine Kinder sieht die Sache schon anders aus. Sturmfluten haben das Leben der Menschen an der schleswig-holsteinischen Küste zwar schon immer geprägt, und so wird es auch in Zukunft sein. Doch wir Menschen beschleunigen die Erderwärmung momentan in einem enormen Tempo, bei dem niemand die Konsequenzen richtig abschätzen kann. Das ist für uns Pellwormer*innen umso bedrohlicher, als die Gefahr durch den Klimawandel nicht nur vom Meer kommt. Für uns kommt sie auch von oben, in Form von Starkregen.
Was das bedeutet, konnten meine Familie und ich zwischen Herbst 2017 und Frühsommer 2018 gewissermaßen im Zeitraffer beobachten. Dazu mussten wir nur in unserer Küche aus den Fenstern blicken: Seit Wochen regnete es bei uns auf der Insel - und zwar heftig. Nach vorne raus standen...
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