Kapitel 1
Tina Gründlich saß mit ihrer Lebensgefährtin und Kollegin Bärbel Kürzinger am Mittagstisch. Das Radio lief, und die beiden hörten den Nachrichten zu. Tina war vor allem auf den Wetterbericht gespannt, da es in den letzten Tagen ausgiebig geregnet hatte. Die beiden planten an diesem Nachmittag eine kleine Feier für Bärbel. Diese war erst gestern von einem dreimonatigen Lehrgang in Großgmain zurückgekommen. Freunde und Kollegen waren eingeladen, und in den letzten Tagen war bereits gutes Wetter für diesen Samstag angesagt worden. Aber man wusste ja nie, wie das Wetter wirklich werden würde. Vor allem hier in den Bergen des Salzburger Landes konnte es oft von einer zur anderen Stunde umschlagen.
Der dreizehnjährige Tommy und die neunjährige Kathi, Tinas Kinder aus ihrer Ehe mit Günther, saßen mit am Tisch. Günther und Tina hatten sich vor einigen Jahren getrennt, da sie feststellen mussten, dass sich ihre Berufe nicht mit der Familie vereinbaren ließen. Auch der Umstand, dass Günthers zehn Jahre ältere Schwester Frieda immer einsprang, wenn sie einen Babysitter brauchten, hatte die Trennung nicht verhindern können. Trotzdem kümmerte sich Frieda weiterhin liebevoll um die beiden Kinder, wenn Tina und Günther unterwegs waren. Tinas Arbeit als Polizeimajorin nahm sie häufig kurzfristig in Anspruch, und sie war froh, ihre Kinder dann in guten Händen zu wissen.
Tina und Günther hatten, als Tommy zur Schule kam, auf Anraten der Lehrer vereinbart, dass sie mit den Kindern und in deren Anwesenheit nur Hochdeutsch sprechen würden. So würde es den beiden leichter fallen, schreiben zu lernen, als wenn sie nur den österreichischen Dialekt kannten. Auch Bärbel hielt sich an diese Regel. Meist funktionierte das auch. Nur in Ausnahmefällen kam es vor, dass Tina und Bärbel in den Dialekt verfielen, wenn sie mit ihnen redeten.
Die Kinder unterhielten sich lautstark darüber, wie sie sowohl Bärbel als auch Tina bei den Vorbereitungen zum Fest helfen könnten.
»Ich übernehm die Getränke!«, verkündete Kathi.
»Nein, das mach ich! Dazu bist du noch zu klein! Schließlich gibt's da auch Bier und Wein«, widersprach Tommy.
»Dann mach ich eben die Tischdeko«, erklärte Kathi.
»Nein, die machen Tante Bärbel und Mama«, erwiderte Tommy.
»Seid mal ruhig!«, ermahnte Tina die beiden, denn soeben kam im Radio eine Nachricht, die sie sehr interessierte.
Der Nachrichtensprecher sagte: »Wie wir aus der Pressekonferenz heute Vormittag erfuhren, ist der Tod der vorgestern beim Paragliding abgestürzten Frau des Landgerichtspräsidenten Magister Mai noch nicht abschließend geklärt. Chefinspektor Hallermeier von der Dienststelle Zell am See teilte mit, dass es noch unklar ist, ob ein Unfall oder Selbstmord infrage kommt. Ein Fremdverschulden konnte bislang ausgeschlossen werden. Ein tödlicher Unfall auf der Bundesstraße .«
»Ist das nicht der Fall, den du grad auf dem Tisch hast?«, fragte Bärbel.
»Ja, aber der scheint sich erledigt zu haben. Wir wissen zwar noch nichts Genaues darüber, was passiert ist, aber es deutet immer mehr auf Selbstmord hin«, antwortete Tina.
»Nun das Wetter«, sagte der Nachrichtensprecher, als Bärbel einwarf: »Fangen wir gleich mit dem Herrichten an?«
»Pscht! Sei still! Das Wetter«, unterbrach Tina sie.
». Der Nachmittag ist im Salzburger Land wolkenlos. Die Temperaturen steigen auf bis zu dreißig Grad. In Vorarlberg .«
»Das passt doch! Hoffentlich hält es an«, sagte Tina freudig und stand auf. Sie begann, den Tisch abzuräumen. Kathi und Tommy halfen ihr dabei.
Schon am frühen Morgen hatten sie mit den Vorbereitungen begonnen. Erdäpfelsalat, Paradeisersalat und verschiedene andere standen schon bereit. Die Zutaten dafür hatten sie größtenteils aus Tinas Garten geholt. Besonders die Gurken gediehen in diesem Jahr hervorragend. Sie stellten die Biertischgarnituren auf. Diese liehen sie sich immer vom Getränkehändler des Dorfes aus. Für ihn war es kein Problem, er brachte sie ihnen sogar bis in den Garten. Schließlich kaufte Tina das ganze Jahr über bei ihm ein, und auch für das Fest hatte sie die Getränke bei ihm besorgt. Günther, Tinas Exmann, kam mit seiner neuen Freundin Lisbeth zu ihnen. Er brachte eine große Wanne mit Fleisch mit, da er sich bereit erklärt hatte, das Grillen zu übernehmen. Die Grills, die bereits im Garten standen, liehen Tina und Bärbel sich meist von den Nachbarn aus, denn sie selbst verfügten über keinen ausreichend großen Grill. Die Sonnenschirme, ebenfalls von den Nachbarn, standen noch in Tinas kleiner Werkstatt. Sie sollten erst zum Schluss aufgestellt werden. Tommy und Kathi würden dann die kleinen Blumensträuße, die sie auf den umliegenden Wiesen gesammelt hatten, auf den Tischen verteilen.
Schließlich standen alle Tische und Bänke dort, wo sie Tinas Meinung nach zu stehen hatten - nicht direkt in der Sonne, sondern ein wenig im Schatten unter den Apfelbäumen, an denen schon kleine grüne Früchte hingen. Bärbel brachte die Teller zu Günther, der dafür einen Extratisch aufgestellt hatte. Als er die Teller sah, rief er aufgebracht in Tinas Richtung: »Muss das denn sein? Das teure Geschirr? Das haben wir doch von meiner Mutter zur Hochzeit bekommen. Wenn da jetzt einer kaputtgeht!«
»Dann kaufen wir ihn eben nach. Anderes Geschirr hab ich leider nicht«, erwiderte Tina. Frieda brachte noch Besteck. Tante Frieda war die gute Seele der Familie. Auch Poldi, Tommys kleiner Langhaardackel, war häufig bei ihr zu Gast. Sie legte das Besteck in einen kleinen Korb neben die Teller und meinte: »So, das muss jetzt nur noch gewickelt werden.«
»Darf ich das machen?«, fragte Kathi.
»Gerne! Wart, ich zeig dir, wie es geht«, antwortete Frieda lächelnd. Sie nahm den Korb und trug ihn zu einem der Tische. Kathi griff sich die Papierservietten und setzte sich neben ihre Tante. Geduldig, weil es nicht auf Anhieb klappte, zeigte Frieda Kathi, wie sie das Besteck in die Servietten einwickeln sollte. »Das kannst du aber gut!«, lobte Frieda ihre Nichte nach einer Weile.
Obwohl Kathi wusste, dass das nicht so ganz stimmte, meinte sie: »Ich hab ja eine gute Lehrerin.«
»Poldi! Jetzt langt's aba! Geh in dei Körberl!«, hörte man Bärbel von der Terrasse her, die beinahe mit einem Tablett voller Gläser über den Hund gestolpert wäre. Poldi wuselte zwischen den Tischen und Bänken herum, ohne darauf zu achten, ob er nicht jemandem in den Weg kam. Für ihn war das alles neu und deshalb sehr interessant. Bärbels Befehl missachtend lief er weiter und kam nun zu Günthers Fleischwanne.
Neugierig richtete er sich auf und schnüffelte am Rand der Wanne.
»Poldi! Jetzt geh aber in dein Körbchen!«, sagte Lisbeth zu ihm.
Poldi sah sie nur beleidigt an und trollte sich.
Tina verstand sich gut mit Lisbeth. Ganz anders als mit den früheren Freundinnen Günthers, von denen sie der Meinung war, dass sie nicht zu ihm gepasst hatten. Günther war aber ganz anderer Ansicht gewesen. Er führte Tinas Ablehnung auf Eifersucht zurück. Meist, eigentlich immer, hatte sich schon nach kurzer Zeit herausgestellt, dass Tina recht hatte. Sie dachte oft zurück an Melanie, die Günther ständig in Beschlag genommen und rumkommandiert hatte, was er absolut nicht leiden konnte. Ständig hieß es: »Günther, mach dies, Günther, mach das, Günter, lass das!« Schon nach ein paar Wochen war es mit Melanie vorbei gewesen. Danach war Edeltraud gekommen. Sie war kein Stück besser gewesen als Melanie, allerdings auf eine ganz andere Art und Weise. Vor allem in Tinas Nähe hatte sie oft gesäuselt: »Schatzi, gibst du mir mal das Salz? Liebling, reichst du mir mal die Butter? Bärli, wann gehen wir mal wieder aus? Hasi, lass das Fleisch, das tut dir nicht gut!« Tina hatte sich dabei immer köstlich amüsiert, denn sie wusste, dass Günther solche Sachen ebenfalls nicht ausstehen konnte. Einmal, und daran dachte Tina mit Vergnügen, hatte Edeltraud sich bei ihm eingehakt und zu Tina gesagt: »Mein Mäuseschwänzchen und ich fahren demnächst für drei Wochen nach Gran Canaria, das macht dir doch nichts aus?« Aber auch diese Beziehung war bald Geschichte gewesen. Nach nur einer Woche war Günther wieder daheim gewesen. Tina hatte ihn sogar vom Salzburger Flughafen abholen müssen. Auf der Heimfahrt hatte er ihr sein Herz ausgeschüttet und ihr erzählt, dass »Edeltraud«, die er sonst nur »Traudl« genannt hatte, ihn auf der Insel komplett blamiert hatte. Ständig hatte sie an seinem zwar vorhandenen, aber trotzdem nicht zu dicken Bauch etwas auszusetzen gehabt. »Hasilein, du musst mehr Sport treiben, Hasilein, lass doch mal die Steaks weg! Mäuseschwänzchen, iss doch nicht immer so viel!«, hatte sie gesagt. Irgendwann hatte es Günther gereicht. Er hatte sich in den nächsten Flieger gesetzt und war nach Hause geflogen. Edeltraud hatte er allein zurückgelassen.
Lisbeth aber war ganz und gar auf Tinas Wellenlänge. Sie hatten sich vom ersten Tag an, als Günther sie Tina vorgestellt hatte, verstanden. Lisbeth war eine Frau ganz nach ihrem Geschmack. Sie verwendete weder Kosenamen, noch kritisierte sie an Günther herum. Auch vom Aussehen her ähnelte sie Tina. Sie könnten glatt als Schwestern durchgehen, wenn man sie gefragt hätte. Manchmal, wenn sie glaubten, dass Günther nicht in der Nähe war, erzählten sie sich kleine und größere Begebenheiten, die sie mit ihm erlebt hatten. Dabei amüsierten sie sich so, dass Günther, wenn er es mal mitbekam, beleidigt reagierte. »Ihr zwei Waschweiber! Lasst das doch endlich! Ständig zieht ihr über mich her!«
Da...