Kapitel 1
Es war heiß an diesem Samstagnachmittag. Die Sonne brannte vom stahlblauen Himmel, an dem kein einziges Wölkchen hing. Von den kühlenden Winden, die hier sonst durchs Tal zogen, war nichts zu spüren. Die Luft stand über den Wiesen, von denen ein angenehmer Duft nach frisch gemähtem Gras und Kräutern aufstieg. Hoch oben kreiste ein Adlerpaar, das vermutlich irgendwo in der Nähe seinen Horst hatte. Man sah die beiden kaum, nur zwei schwarze Punkte, die sich im Kreis bewegten und ab und zu einen Laut ausstießen. Aus der Ferne hörte man das donnernde Rauschen der Krimmler Wasserfälle, die dort seit Millionen von Jahren ihren Weg von den Gletschern der Venedigergruppe zunächst als kleines Rinnsal suchten, dann, gespeist von zahlreichen Bächen und Quellen, als Krimmler Ache aus einer Höhe von dreihundertachtzig Metern herunterstürzten.
Wenn man den Blick in nördliche Richtung wandte, sah man über dem Wildkogel vier, fünf, nein, sechs Bartgeier kreisen. Sie flogen weitaus tiefer als die Adler. Augenscheinlich war dort oben ein Schaf oder eine Kuh abgestürzt, denn schon bald gingen die Geier in den Sinkflug über und waren vom Krimmler Achental aus nicht mehr zu sehen. Das kleine Einfamilienhaus, das mit inzwischen angegrautem Lärchenholz verkleidet war, stand in Wenns, einem Ortsteil von Bramberg am Wildkogel. Es war umgeben von einem schön angelegten Garten mit vielen Obstbäumen und Blumenrabatten, die zeigten, dass sie von den Händen einer Blumenliebhaberin gepflegt wurden. Der Rasen war frisch geschnitten und die Hecken um den Garten umgaben ihn blickdicht. Ein schmaler Weg, abgegrenzt durch eine niedere Buchshecke und mit grüngrauem Schotter belegt, führte in eine Ecke des Gartens. Dort zierte ein großer schmiedeeiserner Rosenbogen, an dem rote Kletterrosen hochrankten, den Eingang in eine natürliche Laube aus Goldregen.
Aus dem kleinen Anbau neben dem Haus drangen Musik und der fröhliche Gesang einer jungen Frau. Don't let me down von den Beatles klang laut und aufmunternd heraus. Untermalt wurde die Musik von einem seltsamen Geräusch. Es hörte sich an wie ein immer wiederkehrendes Schleifen und Schaben. Der Anbau, man erkannte es an der Größe, war eigentlich als Garage gedacht. Jedoch war das Tor zugemauert und durch eine Stahltür ersetzt worden, die nun weit offen stand. Die junge Frau in der zur Werkstatt umfunktionierten Garage sang laut und inbrünstig. Das Schleifen hörte auf und es waren nur noch ihre Stimme und die Musik zu hören. Nach einer kurzen Pause setzte das Schleifen und Schaben wieder ein.
Tina trat einen Schritt zurück, um ihr Werk zu begutachten. Fesch wird er wieder dachte sie, als sie den alten Gusseisenstuhl von Weitem ansah. Sie nahm den Bogen Sandpapier, den sie gekauft hatte, um den Rost abzuschleifen, der sich auf dem Rahmen des Gartenstuhls gebildet hatte. Der Stuhl war Teil einer kleinen Sitzgruppe, die sie sich gemeinsam mit ihrem Mann gekauft hatte, als sie noch verheiratet waren: Da ist noch ein wenig Rost. Der muss auch noch weg Sie riss ein kleines Stück von dem Bogen und schliff den noch vorhandenen Rost weg. Fesch muss er werden! Genauso fesch wie der andere, dachte sie. Na ja, fesch ist etwas anderes, überlegte sie, als ihr einfiel, dass am ersten Stuhl, den sie bereits fertig im Garten stehen hatte, noch eine Farbträne vorhanden war. Daran waren aber nur die Kinder schuld, die sie abgelenkt hatten, weil sie wieder mal ein Eis haben wollten.
Noch einmal trat sie einen Schritt zurück und ging um den Stuhl herum, der auf einem Tisch stand, den sie sich selbst zusammengebastelt hatte. Er bestand lediglich aus zwei Holzböcken, auf die sie einen Schalungsdeckel gelegt hatte. An der Rückenlehne fiel ihr ein Fleck auf. Noch einmal begann sie, mit dem feinkörnigen Papier den noch übrigen Rost wegzuschleifen. Zufrieden trat sie wieder zurück und begutachtete ihr Werk. Sie legte das Sandpapier beiseite und ging zu dem Regal, das sich an der Rückwand der kleinen Werkstatt befand. Von dort nahm sie eine Dose schwarzer Farbe und einen Pinsel, den sie schon benutzt hatte. Er war zwar sauber, aber trotzdem noch etwas steif. Sie versuchte, ihn wieder weich zu bekommen, indem sie ihn ein paar Mal auf die Werkbank schlug. Nichts. Den kann ich wegschmeißen!, Einen neuen Pinsel hatte sie sich unlängst gekauft, denn damit hatte sie gerechnet. An diesem war allerdings noch die Plastikschutzhülle, die sie jetzt mühsam herunterpulte. »Glumpert!«, schimpfte sie. »Muss man denn alles in Plastik verpacken?«
Nachdem sie die Farbdose mit einem Schraubenzieher geöffnet hatte, rührte sie die Farbe darin mit einem kleinen Holzstöckchen durch. Vorsichtig tupfte sie den Pinsel in die Dose und begann damit, die Lehne zu streichen. Erst ein Grundanstrich, dann trocknen lassen. Erst danach der finale Anstrich! So hatte es ihr der Nachbar erklärt. Also begann sie damit, den Pinsel nur leicht über die Lehne des Stuhles zu ziehen. Dabei sang sie wieder aus voller Kehle: »Don't let me down.«
Sie hörte nicht die Kinderstimme, die von der Tür her vernehmbar war: »Mama! Mama! Telefon!«
Die Stimme wurde lauter: »Mama! Herrschaftszeitn noch mal, Mama!«
Wieder reagierte sie nicht, denn die Musik war zu laut.
Schließlich zupfte sie jemand an dem weißen Papieroverall, den sie sich besorgt hatte. Erschrocken ließ sie den Pinsel sinken und blickte nach unten. Vor ihr stand Kathi, ihre achtjährige Tochter, und hielt ihr das Mobilteil des Telefons hin. Kathi schrie beinahe, als Tina sie fragte: »Was ist los?«
»Der Herr Hofrat! Er ist am Telefon! Er will dich sprechen.«
Tina wischte sich die Hände an ihrem Overall ab, ging zu ihrer kleinen Stereoanlage und schaltete sie aus. Dann nahm sie Kathi das Telefon ab und hielt es an ihr Ohr. Da ihr schon schwante, was nun passieren würde, widersprach sie, ohne abzuwarten: »Naa! Des kummt gar ned infrag! Du brauchst gar ned weiter redn! Erstens is Samstog, oiso Wochenend, und zwoatens hab i no a ganze Woch Urlaub!«
»Aber Tinakind. Was regst dich so auf? Du waast doch gar ned, was i von dir will.«
»Du brauchst es auch goar ned song. I hob naa gsogt und dabei bleibt's!«, antwortete sie kategorisch.
Die Stimme des Mannes am anderen Ende versuchte, sie zu beruhigen: »Schau, Tina. Du bist doch unser Beste. I brauch di. Du musst a goar ned weg vo dahoam!«
»Ja, i bin dahoam und i hab Urlaub.«
»Ja, scho, aber .«
»Kruzinesa! Naa, naa und no amoi naa!«
»A geh, Tina. Sei ned so feinzig«, bettelte Hofrat Steiger am anderen Ende.
Hofrat Ernst Steiger war Tinas Vorgesetzter in der Direktion Salzburg. Die beiden verstanden sich gut, was sich auch auf ihre Zusammenarbeit auswirkte. Seit Tinas Scheidung machte er ihr Avancen, denn auch er war geschieden und Tina war aus seiner Sicht die richtige Frau für ihn.
»Sog amoi, kapierst des iatz ned? Ich hob meine Kinder vasprochn, mit eahna heit nach Ferleiten in den Wildtierpark zu foahrn. I konn meine Kinder ned scho wieder enttäuschn! Mir verbringan unser Zeit eh scho vü zu seltn mitanand!«
»Des konnst du doch später aa no!«
»Naa, hob i gsagt«, antwortete sie energisch, »naa, und dabei bleibt's aa!«
»Tina. Du derfst dir aa wos wünschn!«
»An wos hättst dabei denkcht?«, fragte sie schelmisch.
»Wia wars mit am Omdessen?«
»Im Stiftskeller?«
»No ja, ned grad im Stiftskeller, aber .«
»Dann vergiss es sofurt wieder.«
»Tina, du bist aber zaach. Muass es denn so ein teirer Ladn sein?«
Tina schnaufte tief durch. Jetzt hab ich wohl einen Fehler gemacht, dachte sie. »Im Stiftskeller und ois Unterstützung kriag i an Siegfried«, verlangte sie laut. Tina wusste, dass Ernst Siegfried nicht leiden konnte, was wahrscheinlich daran lag, dass sie mit Siegfried mehr als nur Freundschaft verband.
»Den Ladurner? Waast du, wos du da von mir verlangst?«
»Ja. I waas des. I waas aba aa, dass du des ned gern siechst, wenn da Sigi und i zsammarbatn! Oiso? Wos is?«
Ernst schnaufte laut und hörbar: »Na guat, wenn's denn sei muass? Aber den Stiftskeller? Do drüber soitn mia no amoi redn!«
»Den Stiftskeller und an Sigi. Sunst vergiss es sofurt.«
Ernst zögerte und Tina wusste das zu nutzen: »Wenn du ned wüst?« Sie legte auf und beendete damit das Gespräch. Kurz darauf klingelte das Telefon wieder. Tina war klar, dass es Ernst war, der anrief. Sie nahm das Gespräch entgegen: »Und wos is? Host as dir überlegt?«
»Des ist Erpressung. Da stehn mindestens fünf Joahr drauf. Wegen der Schwere des Verbrechens. Aber guat, du sollst dein Willn hom. An Sigi und den Stiftskeller.«
Tina grinste vor sich hin. »Oiso? Wos is passiert? Wo muass i hin?«
Erleichtert antwortete ihr Ernst: »Noch Krimml, zu de Wasserwunderwelten. Durt auf dem Parkplatz is a männliche Leich gefundn wurn. Furchtboar zuagricht, wie mir gsagt wurn is. Mach di aufs Schlimmste gfasst.«
»Wann kummt da Sigi?«
»I schick ihn sofurt los. Er müsst oiso in ungefähr zwaa Stundn bei dir sein.«
»Gut, sag ihm, dass i am Tatort bin.«
»Mach ich.«
Tina legte auf und blickte achselzuckend zu Kathi hinunter. »Tuat mir lad, i muass oarbeitn.«
Kathi war offenbar sehr enttäuscht, denn ihr standen Tränen in den Augen: »Ach, Mama. Du hast dir aber auch einen blöden Beruf ausgsucht. Ausgerechnet heit, wo wir doch .«
Tina versuchte, wann immer es ging, mit den...