Kapitel 2
Das Telefon in der Diele schellte laut und durchdringend. Poldi gab seinen Kommentar dazu, indem er laut aufheulte. Er mochte dieses Geräusch offenbar nicht leiden, denn er jaulte jedes Mal, wenn er das Klingeln hörte. »Entweder er gwöhnt sich dran oder ich muss ein anderes Telefon kaufen«, hatte Tina schon des Öfteren gesagt. Nun nahm sie den Anruf an: »Gründlich?«
»Polizeizentrale Zell, Frau Gründlich. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie am Wochenend stör, aber wir haben hier einen Todesfall mit ungeklärter Ursach. Könnten Sie sich drum kümmern? Die Kollegen sind anderweitig eingsetzt«, vermeldete der Anrufer.
»Schon gut. Wir haben eh schlechts Wetter«, erwiderte Tina. »Worum geht's denn?«
»In Neukirchen ist ein junges Mädchen tot von einem Stuhl gefallen. Die Ursache, so meinte der Notarzt, ist unklar.«
»Vom Stuhl gfalln? Einfach so? Wo ist das denn? Wo müssen wir hin?«
»Nach Neukirchen zum Heiler Gallenberger. Das Maderl ist augenscheinlich tatsächlich einfach tot umgfalln. So sagt ihre Mutter wenigstens.«
Tina ließ sich noch die Adresse geben und rief Bärbel, die einstweilen damit begonnen hatte, den Fußboden im Wohnzimmer zu wischen: »Bärbel! Mia miassn los! Es gibt Oabat!«
»I kumm schon! Lass mi des no firti mochn!«
»Jetz dummel di! Mia miassn noch Neikircha!«
»Jaja, so pressant werds aa nit sein.«
Obwohl sich Bärbel sichtlich beeilte, ging es Tina immer noch zu langsam: »Iatz mach endlich!«
»I muass mi aa no umziang! Du übrigens aa. Schau di amoi an. So konnst nit unter die Leit geh.«
Tina blickte an sich herunter und stellte fest, dass Bärbel durchaus recht hatte. So konnte sie wirklich nicht zu einem Tatort, wenn es denn einer war, fahren. Ihre Jeans waren schmutzig und ein Bein hatte sogar ein Loch. Ihr Sweatshirt hatte offenbar auch schon bessere Zeiten gesehen, denn es war über und über mit geflickten Stellen übersät.
»Du host recht. Gehng ma uns umziahng«, bestätigte sie und ging mit Bärbel ins Schlafzimmer, um dort ihre Kleidung zu wechseln. »Wos is jetz? Host as scho boid?«, trieb sie Bärbel an, die sinnierend vor ihrem Kleiderschrank stand.
»Glei! I hobs ja glei. I waaß blos nit, wos i anziahng soi.«
»Nimm oafach des blaue Kostüm, des passt dann scho.«
Bärbel nahm das Kostüm, das ihr Tina empfohlen hatte, aus dem Schrank und zog es an. Auch Tina hatte sich ein neues Kostüm aus dem Schrank geholt und angezogen. Bärbel hatte Mühe, den Reißverschluss am Rock zu schließen, worauf ihr Tina lachend half: »Du soitast wirkli amoi obnehma. Du werst ganz schee rund.«
»Rund und gsund«, erwiderte Bärbel und lachte ebenfalls.
»Naa ohne Gspass. Du muasst endlich amoi wos fia dei Figur doa.«
Bärbel schaute bedauernd in ihren Schrank. »Vielleicht host ja recht. De meistn Sochan do drin passn mir eh scho nimma.«
»Siehgst as? Obnehma is billiger ois wia ois nei kaffn.«
»Überredt! As nächste moi geh i mit dia ins Fitnessstudio«, gab Bärbel nach.
»Bist jetz fertig?«, fragte Tina, die sich soeben noch ihr Kostüm glattstrich.
»Ja, i hobs aa schon. Mia kennan foahn.«
»An Poldi miass ma aa mitnehma. Den bring ma zur Frieda. De konn scho auf eahm aufpassn«, sagte Tina. Tante Frieda war die Schwester von Günther, Tinas Exmann. Sie freute sich immer, wenn sie Tinas Kinder oder Poldi zum Aufpassen bekam. So hatte ihr ansonsten eher langweiliger Tag ein wenig Abwechslung.
Die Frauen verließen das Schlafzimmer und gingen in Tinas Büro, wo sie ihre Waffen in einem kleinen Tresor aufbewahrten. Das diente der Sicherheit, vor allem der Kinder wegen. Diese wussten zwar, dass die Pistolen kein Spielzeug waren, aber sicher ist nun mal sicher.
Tina holte die Hundeleine vom Haken in der Diele, wo sie sie kurz zuvor aufgehängt hatte. Schon kam Poldi angerannt, der annahm, dass er jetzt Gassi gehen durfte und sich entsprechend freudig benahm. Tina und Bärbel zogen ihre Jacken an, steckten die Waffen in ihre Taschen und verließen das Haus. Eilig rannten sie zu Tinas Dienstfahrzeug, denn es regnete noch immer in Strömen. Der Wind hatte zwar nachgelassen, aber das Gewitter selbst tobte in dem kleinen Tal. Das Echo der Donnerschläge hallte an den Bergen ringsum wider, als würde die Welt untergehen. Tina öffnete die hintere Türe, durch die Poldi auf den Rücksitz springen konnte. Tina hatte ihm dort schon vor einiger Zeit eine alte Decke hingelegt, da er des Öfteren mitfahren durfte und so die Sitze nicht so stark verschmutzten. Schließlich war das Auto ja ein Dienstfahrzeug und Tina als Fahrerin war verantwortlich für den Zustand des Wagens.
Als sie im Wagen saßen, fuhr Tina zuerst zu Tante Frieda. Dort stand Günthers Auto.
»Was macht der denn hier?«, wunderte sich Tina. Als sie vor dem Hoftor anhielt, wurde die Haustüre geöffnet und die Kinder kamen heraus. Sie blieben aber vor der Türe stehen, denn es regnete immer noch stark. Tina stieg aus und holte Poldi vom Rücksitz. Sie brachte ihn mit der Leine zu den Kindern und sah sie erstaunt an: »Was macht ihr denn hier? Wo ist euer Vater?«
»Wir waren auf dem Spielplatz drüben und wie es angfangen hat zu regnen, sind wir mit Papa einfach zu Tante Frieda gegangen. Das ist ja nicht weit gwesen«, erklärte Kathi.
Tina hielt Kathi die Hundeleine hin: »Da, passt gut auf ihn auf. Tante Bärbel und ich müssen arbeiten. Ich weiß noch nicht, wann wir wieder daheim sind.«
Nun kam auch Tante Frieda an die Türe: »Hallo Tina. Wollt ihr reinkommen, eine Tasse Kaffee trinken?«
»Nein danke Frieda. Ich muss gleich weiter. Wir haben eine Tote drüben in Neukirchen.«
Frieda schlug die Hand vor den Mund: »Um Gotts wülln! Wea is es denn? Is sie umbracht wordn? Waaß ma scho wers woar?«
»Nein, Frieda. Wir wissen noch gar nichts. Außerdem . du weißt ja.«
»Jaja, i waaß scho. Du derfst as mia nit song.«
»Genau! Jetzt muss ich aber los. Bis später.«
»Jo, bis spater.«
Tina wandte sich noch den Kindern zu: »Ihr seid schön brav und folgt der Tante.«
»Das machen wir doch immer. Außerdem ist der Papa ja auch noch da«, antwortete Tommy, der hinter Kathi stand. Tina wandte sich um und ging zum Auto.
Da es von Wenns nicht weit bis nach Neukirchen war, trafen sie kurz darauf bei der angegebenen Adresse ein. Das Haus, nein, eigentlich war es eine großzügige Villa, stand am Hang. Eine breite Treppen aus Marmor führte hinauf. Vor den Garagen, die unten an der Straße waren, standen zwei Streifenwagen und das Fahrzeug der Spurensicherung. Tina stellte ihr Auto hinter den anderen Fahrzeugen ab. Bärbel folgte ihr, als sie die Treppen nach oben stieg. An der mächtigen Haustüre, die aus geschnitzter Eiche war, erwartete sie bereits Dienstgruppenleiter Hutterer, der militärisch grüßte: »Guten Tag, Frau Major. Guten Tag Frau Kommissär.«
»Guten Tag, Herr Hutterer«, grüßten ihn die beiden Frauen unisono.
Hutterer öffnete die Türe und zeigte in den Flur: »Ganz hinten, am Ende des Ganges. Im letzten Zimmer rechts liegt das Opfer.«
»Opfer?«, fragte Tina verwundert. »Wieso Opfer? Ist es denn schon sicher, dass ihr Gewalt angetan wurde?«
»Das nicht, aber sie ist jedenfalls tot und keiner weiß warum.«
»Na, dann handelt es sich wahrscheinlich doch zumindest vorerst eher um eine weibliche Leiche und nicht um ein Mordopfer. Meinens nicht auch, Herr Hutterer?«
Hutterer nahm seine Dienstmütze ab und kratzte sich am Kopf: »Ja, da könntens schon recht haben, Frau Major.«
Tina betrat gemeinsam mit Bärbel den langen Flur. Schon bei den ersten Schritten dachte sie, sie ginge auf Wolken. Sie blickte nach unten und erkannte, dass sie auf einem weichen Berberteppich lief, der sicher handgeknüpft und daher nicht billig war. Entlang des Flures standen alte, beinahe schon antik wirkende Bauernmöbel und an den Wänden hingen offensichtlich sehr wertvolle alte Gemälde, denen ihr vergoldeter Stuckrahmen ein noch edleres Aussehen verliehen. Tina und Bärbel liefen weiter, bis sie an der von Hutterer bezeichneten Türe ankamen.
Bei dem Zimmer handelte es sich offenbar um das Esszimmer, denn hier standen neben einer barocken Anrichte auch etliche mit rotem Samt bespannte Stühle vor einem mit Porzellangeschirr gedeckten Tisch. Vor dem Tisch kniete Otto, der Gerichtsmediziner, neben einer weiblichen Leiche, die er soeben einer peniblen Untersuchung unterzog. Dazu hatte er die Bluse des Mädchens aufgeknöpft und ihr eine lange Nadel etwas oberhalb des rechten Hüftknochens hineingestochen. Diese Nadel, an der sich am oberen Ende ein Thermometer befand, zeigte offenbar die Temperatur der Leber an, anhand derer sich die ungefähre Todeszeit bestimmen ließ. Tina und Bärbel ließen sich von einem der Spurensicherungsbeamten Latexhandschuhe geben und beugten sich zu der Leiche. Tina nahm den Kopf vorsichtig zwischen ihre Hände und wendete ihn sanft in ihre Richtung. Sie blickte dabei in ein Gesicht, das sicher noch vor wenigen Stunden lachen, reden und singen konnte. Goldblondes Haar umrahmte die Gesichtszüge, die Augen, sicherlich blau, waren geschlossen und den zartrosa, fein gezeichneten Mund umspielte ein leises Lächeln, so als ob sie den Himmel sehen würde.
Tina war zunächst fassungslos, behielt aber die Ruhe. »Wie lange ist sie tot?«, fragte sie Otto. »So ein zwei Stunden vielleicht?«
Auch Bärbel beugte sich hinunter und betrachtete das Kind, das sie eigentlich noch...