Kapitel 1
Langsam schob sich der Lauf eines Gewehrs zwischen zwei Bretter des Schalllochs im Turm der Krimmler Kirche. Niemand sah das dünne schwarze Rohr, auf dem sich das Korn befand. Das Rohr schwankte nur leicht und schien auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet zu sein. Noch tat sich nichts. Der Schütze wartete ab, bis er ein bestimmtes Zeichen bekam. Wieder zog er den Lauf der Flinte zurück. Der Kapellmeister, der sich vor der Blaskapelle aufgestellt hatte, hob seinen Tambourstab und gab ein kurzes Kommando, das oben nicht zu hören war.
Erneut schob sich der Lauf zwischen den Brettern hindurch und wurde auf ein imaginäres Ziel ausgerichtet. Der Schütze wartete. Er war ungeduldig. Der Lauf der Waffe schwankte leicht hin und her. So als ob er ein Ziel verfolgte. Er beobachtete den Kapellmeister genau, als dieser seinen Tambourstab in die Höhe hielt. Er atmete langsam, ganz bewusst und tief. Nur die Ruhe bewahren! Der erste Schuss muss sitzen. Nur ja keinen Fehlschuss!
Der Kapellmeister hob seinen Fuß, und ehe er den ersten Schritt machte, senkte er den Stab. Schnell, so schnell, dass ihm kein Auge folgen konnte. Der Schütze im Turm behielt die Ruhe. Einatmen - ausatmen - gaanz langsam. Die Musik begann zu spielen. Der Finger am Abzug krümmte sich leicht. Noch nicht! Jetzt noch nicht! Das wäre zu früh. Wieder justierte der Schütze sein Gewehr auf das Ziel. Einatmen - ausatmen - einatmen. Noch nicht! Jetzt noch nicht schießen! Er besann sich auf das Gewehr. Eine Waffe aus den Beständen der deutschen Bundeswehr. Niemand konnte es ihm zuordnen. Auch wenn er die Waffe hier liegen ließe. Die Nummer würde zwar zu einer Liste führen, die angelegt worden war, als die Waffe zusammen mit etlichen anderen aus den Beständen verschwunden war. Aber niemand wusste, dass er jetzt diese Waffe in den Händen hielt, um damit zu schießen. Geladen mit einer speziellen Patrone. Das Geschoss würde sich in tausend kleine Teile zerlegen, wenn es auf das Ziel traf. Die Patrone hatte er selbst hergestellt. Dadurch konnte auch keiner herausfinden, wer sie wann und wo gekauft hatte.
Er beobachtete die Szenerie, die sich da gute hundert Meter unter seinen Füßen abspielte. Der Standartenträger saß stolz aufgerichtet auf seinem Pferd und hielt die Fahnenstange kerzengerade hoch. Dahinter die Blasmusiker und gleich danach das hübscheste Mädchen aus dem ganzen Pinzgau. Die Tochter des Bürgermeisters. Wie stolz sie doch aussah, auf ihrer Fuchsstute. Stolz wie eine Gräfin. Das Haar geflochten, die Haut . Ihm wurde der Kragen eng, als er sie sah. Wie gerne wäre er in ihrer Nähe gewesen. Wie gerne hätte er sie auf dieses Fest begleitet. Aber . Nein. Das ging nicht! Er hatte hier und jetzt etwas zu erledigen. Der Wagen des Bürgermeisters und seiner Frau kam in Sicht. Zwei stolze Noriker zogen den Wagen, der, so geschmückt, fast einem Kaiser würdig gewesen wäre. Gleich dahinter kamen drei Reiter auf Pferden. Ebenfalls Noriker, wie die meisten auf diesem Umzug. Die Reiter in Tiroler Tracht hielten lange Peitschen in den Händen und schienen auf ein Kommando zu warten. Genauso wie er. Es konnte nicht mehr allzu lange dauern, deshalb richtete er sein Zielfernrohr noch einmal neu aus. Über die Visierlinie sah er ganz deutlich sein Opfer.
Es war heiß da oben. Sehr heiß. Der Schweiß lief in Strömen über seine Stirn und in seine Augen. Wie Feuer brannte es. Schließlich wischte er sich mit dem Arm über sein Gesicht, was zur Folge hatte, dass er sein Ziel nicht mehr über die Visierung hinweg sah. Erneut richtete er die Waffe aus, und ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er den Kopf seines Opfers im Visier hatte. Der Knall der Peitschen, die die Goaßlschnoizer schwangen, übertönte den Schuss.
Wieder einmal hatten sie Glück mit dem Wetter gehabt. Es schien, als ob Petrus diesen kleinen Fleck Erde besonders schätzen würde. Obwohl schon Ende September war, wartete Petrus mit Temperaturen von über zwanzig Grad auf. Aus der Ferne war das Donnern der Krimmler Wasserfälle zu hören, die schon seit Millionen von Jahren ihr Wasser vom Krimmlerkees bezogen und in drei Fällen unterschiedlicher Höhe ins Tal brachten. Bis in den Ort hinein sah man die Gischt aufsteigen, die sich wie ein feiner Nebel wieder in das Tal legte. Eifrig bauten die Handwerker und Bauern ihre Stände auf, da der große Bauernherbst, der alljährlich im Herbst zum Almabtrieb stattfand, auch heuer wieder ein Erfolg werden sollte. Nur wenige Touristen flanierten an den eifrig arbeitenden Männern und Frauen vorbei, in der Hoffnung, schon jetzt ein besonderes Schnäppchen oder ein Mitbringsel für die Daheimgebliebenen zu ergattern. Zu ihrem Bedauern verkauften weder die Fieranten noch die Bauern und Handwerker schon jetzt ihre selbst hergestellten Artikel, da sie untereinander die Vereinbarung hatten, nichts zu verkaufen, ehe der offizielle Startschuss gegeben wurde. Es wäre auch durchaus nicht fair den anderen gegenüber gewesen, wenn ein Stand geöffnet hätte und seine Waren verkaufte, während die anderen noch beim Aufbau waren.
Aufgeregt rannte der Touristikchef Walter Stiegler durch die Straße und feuerte die Leute an, doch schneller zu arbeiten, da nur noch wenig Zeit verblieb, bis der Umzug beginnen sollte. Aus den einzelnen Biergärten waren die Musikkapellen zu hören, die sich bereits jetzt einspielten. Weit hinter der Kirche stellten sich die einzelnen Themenwägen auf, die das Brauchtum und das Handwerk im Pinzgau beschrieben. Die schwarzen Noriker, die die Wägen ziehen sollten, schnaubten und scharrten mit den Hufen. Auch hier spielten sich ein paar Musikkapellen ein. Bei den Rössern standen ein paar Touristen und diskutierten mit den Besitzern der Pferde. Offenbar waren dies fachkundige Leute, denn die Bauern, denen die Pferde augenscheinlich gehörten, nickten häufig zustimmend. Nur ab und zu schienen sie dem Gesagten etwas entgegenzusetzen, denn sie redeten eindringlich mit ihren Gesprächspartnern.
Ein Mann lief geschäftig zwischen den Wägen umher und hatte beinahe bei jedem etwas zu sagen oder auszusetzen. Er trug einen hellgrauen Trachtenanzug mit etlichen Abzeichen am Revers und einem ortsüblichem Filzhut auf dem Kopf, an dem eine Feder, eine Spielhahnfeder, bei jeder Kopfbewegung nickte. Darunter sahen graue, mit ein paar Resten schwarzer Strähnen durchzogene gelockte Haare hervor. Er war groß und eine stattliche Erscheinung. Sein grauer Schnäuzer war sauber gestutzt, und aus seinen graublauen Augen blitzte ein gefährliches Glitzern. Der Mann war sicher gute fünfzig Jahre alt.
In seiner Begleitung befand sich ein junges Mädchen, etwa zwanzig Jahre alt, kastanienbraune, lange Haare, auf dem Kopf eine Krone aus ebendiesen Haaren geflochten. In dieser Krone steckten kleine Blümchen. Eines rot, das nächste weiß, wie die Farben Österreichs. Ein Gesicht wie eine Madonna, fein und ebenmäßig gezeichnet. Grüne Augen, die funkelten wie Edelsteine, und ein Mund zartrosa, frisch aufgeblüht wie eine junge Rose. Zwischen den Lippen blitzten zwei blendend weiße Zahnreihen hervor, während sie lächelte. Ihre Haut war feinweiß und scheinbar durchsichtig wie chinesisches Porzellan. Um den Hals trug sie eine augenscheinlich echte silberne Kropfkette, die mit grünen Smaragden und roten Steinen, wahrscheinlich Rubinen, besetzt war. Sie trug ein schweres Dirndl aus grünem Brokat, unter dem die weißen Spitzen eines Unterrocks hervorlugten. An den Füßen, die klein und zierlich waren, trug sie schwarze Schnallenschuhe mit silbernen Schnallen, die so sauber poliert waren, dass sie in der Sonne blitzten. Eine weinrote Schürze rundete das Gesamtbild ab. Das Mädchen führte eine rotbraune Fuchsstute mit sich, die geduldig hinter ihm herlief.
Einige der Bauern, an denen der Mann vorbeiging, zogen grüßend und devot den Hut. Andere wiederum hatten nur ein verächtliches Grinsen im Gesicht und wandten sich ab, als er in ihre Nähe kam. Er drehte sich um, als er jemanden rufen hörte: »Buagamoasta! Buagamoasta! Herrschaftszeiten Anderl! Iatz bleib hoit amoi steh!«
Erwartungsvoll blickte der Mann, der offenbar der Bürgermeister von Krimml war, dem Mann entgegen, der ihm kurz darauf atemlos gegenüberstand. »Ja? Wos wüst?«, fragte Anderl herablassend und steckte seine Finger in die kleinen Taschen seines Gilets.
»Des Bier! Des wo du mitbrocht host!«
»Ja? Wos is damit?«
»Des langt heier nit!«
»Worum soy des nit langa? Des is grod sovü wia olle Joahr!«
»Mia hamma aba heier a poar Wang mehra!«, erklärte der Mann, der augenscheinlich zum Inventar des Umzugs gehörte. Er trug wie viele andere auch eine kurze Lederhose, graue Wadlstrümpfe und über einem rot-weiß karierten Hemd ein blaues Gilet. Auf eine Jacke hatte er wahrscheinlich der Wärme wegen verzichtet. Er war gut einen Kopf kleiner als der Bürgermeister, hatte halblange, strähnige blonde Haare, denen eine Wäsche nicht geschadet hätte. Das Gesicht war schmal, und seine wasserblauen Augen blickten unstet hin und her. Es war ganz offensichtlich, dass er den Bürgermeister scheute, ja vielleicht sogar Angst vor ihm hatte.
Vielleicht nicht ganz zu unrecht, da ihn dieser anfauchte: »Wenns Bier nit langt, nacha miaßts hoit oans nochkaffn!«
»Aba .«, versuchte der Mann einen Widerspruch, den der Bürgermeister sofort abblockte:
»I kon nit füa olle as Bier zoihn! Es miaßts do scho aa a bisserl wos beisteiern! Es langt des scho, wos i sunst oiwei zoih!«
Er drehte sich um und ging weiter. Er lächelte alle an, an denen er vorbeiging. Aber sobald ihn niemand sah,...