Prolog
Ein lauter, markerschütternder Schrei weckte ihn. Ein Schrei, den man nicht genau definieren konnte. Martin schreckte hoch und blickte um sich. Es war dunkel in seinem Zimmer und nur der Lichtschein des Mondes schimmerte unter den Vorhängen durch, die Leni, seine Frau, aufgehängt hatte. Müde und erschöpft saß er aufrecht im Bett und spürte die Feuchtigkeit seines durchgeschwitzten Schlafanzugs. Auch die Decke war vollkommen durchnässt. Aber Leni würde das schon richten. Sie würde den Schlafanzug waschen und die Bettdecke zum Trocknen draußen aufhängen.
Leni? Er griff hinüber nach rechts zur anderen Bettseite. Leer! Nein, Leni würde das nicht machen! Sie würde das nie mehr machen! Nie wieder würde sie seine Wäsche waschen, für ihn und die beiden Buben kochen! Nie wieder würde sie für ihn da sein! Nie wieder .! Langsam kam die Erinnerung. Die Erinnerung an den Schrei. Er hatte geschrien. Er war es selbst gewesen, der diesen Schrei ausstieß. Es war der Schmerzensschrei eines zutiefst verwundeten Mannes, dem man alles genommen hatte, was er liebte. Leni. Seine Leni. Damals, ja damals war die Welt noch in Ordnung gewesen. Damals, als Leni in seine Welt getreten war, wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Wie ein Engel war sie da. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel war sie in sein Leben getreten und bei ihm geblieben. Sie war eine Schönheit, wie sie sonst nur in seinen Träumen vorkam. Sie war das Mädchen, auf das er gewartet hatte. Die Erinnerung an sie ließ ihn leise lächeln. Blonde Haare hatte sie gehabt, lange, blonde, gelockte Haare, beinahe wie ein Rauschgoldengel. Blaue Augen, tief wie der tiefste See, und ihr Gesicht schien aus Porzellan zu sein, fein gezeichnet, ebenmäßig und doch ausdruckskräftig.
Ihr Mund, zart wie eine Rose und ihre Stimme, als wäre sie ein Engel in einem himmlischen Chor. Klein war sie, klein und zierlich. Beinahe fürchtete er um sie, wenn er sie anfasste, so klein und zerbrechlich, wie eine kostbare Vase. Musik hatte sie studiert und spielte Geige. Immer, wenn sie zu Hause übte und spielte, war ihm, als trügen ihn die feinen Klänge der Geige hinweg in eine andere Welt. Ihre Finger tanzten dann auf den Saiten einen eigenwilligen Tanz und ihre Augen, die sie dabei geschlossen hatte, blickten ihn hin und wieder an, als würde sie ihn locken: »Komm, spiel mit mir. Tanz mit mir.« Am liebsten spielte sie Mozart und Strauß. Der Klang ihrer Geige schwebte durch den Raum und umhüllte die Zuhörer wie eine flauschige Decke, um dann gleich in einem heftigen Stakkato über die Köpfe hinwegzufliegen. Manchmal kamen sogar die Nachbarn herüber, um ihrem Spiel zu lauschen. Da war die dicke Frau Obermeier, die mit ihrem spindeldürren Mann meist als Erste kam, um sich den Platz ganz in der Nähe Lenis zu sichern. Martin stellte die Stühle der beiden aber absichtlich so, dass sie möglichst weit entfernt von den anderen saßen. Sie bemerkten dies aber nicht, sondern fühlten sich, als ob sie in einer Loge säßen.
Der Grund dafür war der Gestank, der von Frau Obermeier ausging. Sie schwitzte stark und offenbar litt sie nicht nur unter Diabetes, sondern auch noch unter einer Inkontinenz.
Herr Holziger. Von Beruf war er Fachlehrer für Physik an der Zeller Volksschule. Am liebsten saß er in Martins altem Fauteuil. Stocksteif mit gestärktem Hemd und einer Fliege. Zwischen den Beinen, die Hände auf den silbernen Knauf gestützt, hielt er seinen Spazierstock wie eine Gehhilfe. Inzwischen pensioniert, machte er immer den Eindruck, als würde er mit seinem strengen Blick, den er ständig auf sie richtete, Leni durchbohren. Seine stahlgrauen Augen bewegten sich hinter seiner runden Nickelbrille ständig hin und her, so als ob er seine Augen wie gebannt auf Lenis Hand, die den Bogen hielt, richten würde. Wobei sein Kopf sich nicht einen Millimeter bewegte. Leni fühlte sich in seiner Anwesenheit sehr unwohl, was sie auch dazu veranlasste, schwierige Stücke nicht zu spielen, wenn er dabei war. Noch immer machte er den Eindruck, als ob er jeden Streich Lenis auf der Geige aufs Peinlichste genau analysieren und bewerten würde.
Allerdings steckte er bei jedem Besuch einen ansehnlichen Geldschein in die Spendenbüchse, die Martin herumreichte.
Die augenscheinlich schwerreiche alte Frau Professor Lackner, die in ihrer Villa unten am Ende der Straße lebte und der ehemalige Oberpostrat Schweiger, der mit seiner Frau das kleine Häuschen gleich neben ihnen bewohnte. Oft kamen sie ungeladen und erwarteten doch, dass sie auch bewirtet wurden - der Herr Chefinspektor hats ja. Der ist Beamter und bekommt sicher ein gutes Salär.
Manchmal, nach Martins Meinung dennoch zu oft, gab Leni ein Konzert für wohltätige Zwecke. Das Geld, das eingesammelt wurde, kam einem Waisenhaus in Salzburg zugute. Martin musste lachen, als er an die säuerliche Miene von Frau Lackner dachte. Immer, wenn er ihr die Spendenbüchse hinhielt und sie eine Münze oder einen Schein hineinwerfen sollte, was sie dann auch gezwungenermaßen tat, benahm sie sich, als wäre sie eine arme, alte Frau. Einmal gab Leni zusammen mit Kollegen ein Konzert mit Kammermusik im Porsche Kongresszentrum, das sich gleich neben der Polizeistation an der Brucker Bundesstraße in Zell am See befindet.
Als die Nachbarn davon hörten, kamen sie natürlich angerannt. »Frau Egger, gibts vielleicht Freikarten? Mein Mann und ich möchten so gern in Ihr Konzert gehen. Wir lieben doch die klassische Musik. Ich hab Ihnen auch ein Stück Jausenspeck mitgebracht«, bat Frau Obermeier. Die geizige Frau Lackner gab Leni gar ein Kuvert: »Hier, noch eine kleine Spende für ihr Waisenhaus.« Als Leni es später öffnete, kam ein Geldschein zum Vorschein, der geradezu lächerlich war. Der Eintritt hätte das Dreifache gekostet. Irgendwann waren natürlich auch alle Freikarten weg und so musste der Herr Oberpostrat mit Frau zu Hause bleiben oder aber den vollen Eintritt bezahlen. Erfreut waren sie natürlich nicht darüber, aber sie versprachen immerhin, beim nächsten Konzert, das Leni gab, auch anwesend zu sein und eine ordentliche Spende abzuliefern. Martins Aufgabe war es, bei jeder Vorführung genügend Stühle zu besorgen, damit auch ja jeder einen Sitzplatz bekam. Diese holte er beim Italiener um die Ecke, bei dem Leni, sozusagen als kleines Dankeschön, auch ab und zu eine kostenlose Aufführung mit Kompositionen von Paganini, Vivaldi und Rossini gab.
Obwohl Martin mit klassischer Musik vor seiner Bekanntschaft mit Leni wenig am Hut gehabt hatte, hörte er ihr nun mit wachsender Begeisterung zu, wenn sie spielte. Auch auf dem Klavier, das immer noch im Wohnzimmer stand, spielte sie virtuos. Allerdings meist Chopin. Oft war er mit ihr in einem Konzert gewesen. Immer dann, wenn sie spielfrei hatte und er keinen Dienst. Am faszinierendsten war für ihn der Besuch der Salzburger Festspiele, wenn »Jedermann« aufgeführt wurde. Er bekam die begehrten und selten zu habenden Karten von seinem Vorgesetzten Herrn Hofrat Gmeiner. Leni war auch bei seinen Freunden und Kollegen beliebt, da sie immer ein nettes Wort und ein offenes Ohr für sie hatte, wenn sie mal ein Problem mit sich herumtrugen. Natürlich hatte auch Leni ihren eigenen Freundeskreis, der hauptsächlich aus Musikern bestand. Bei ihrer Hochzeit spielte eine Gruppe von ihnen den Hochzeitsmarsch von Felix Mendelsson Bartholdy.
Ein Mitglied dieser Musikgruppe machte für Leni dann auch den Trauzeugen. Für Martin übernahm das Josef Faltermeier, einer seiner Kollegen, mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband. Die Hochzeit selbst wurde in der Kirche von Adnet abgehalten, da Leni von dort stammte und ihre Eltern bei Adnet einen großen Bauernhof besaßen. Die Feier war eine Veranstaltung, die sicher noch lange in den Köpfen der Adneter Bauern blieb. Nicht nur, weil die Musik vom Mozarteumorchester gestaltet wurde. Es mutete auch irgendwie seltsam an, als die Studienkollegen Lenis in Frack und Ballkleid erschienen. Neben den Bauern in ihren Festtagstrachten sahen sie aus, wie von einem anderen Stern. Trotz allem war die Hochzeit, wie der Pfarrer betonte, eine der schönsten, die je in Adnet abgehalten wurden. Zunächst war Martin als Schwiegersohn nicht sehr willkommen, denn Lenis Eltern hatten sich einen Schwiegersohn erhofft, der etwas von Ackerbau und Viehzucht verstand. Leni war ihr einziges Kind und so war es nur verständlich, dass sie diesen Wunsch hegten. Schließlich sollte der Hof ja in ihrem Sinne weitergeführt werden, und das konnte ihrer Meinung nach nur einer, der sein Leben lang mit dieser Arbeit zu tun hatte. Kein Beamter, nein ein Bauer sollte er sein. Mit der Zeit aber fanden sie sich mit Martin ab, denn er entwickelte sich dann doch noch zu einem Wunschpartner für ihre Tochter. Als Leni dann noch schwanger wurde und Zwillinge bekam, war der Familienfrieden perfekt.
Die Schwiegereltern waren, genau wie Leni, tiefgläubige Katholiken und beharrten darauf, dass Leni und Martin ein Versprechen abgeben sollten, damit die Kinder gesund zur Welt kämen. Leni und Martin gelobten also vor der Muttergottes, dass sie einmal jährlich am Geburtstag der Kinder von Maria Alm nach St. Bartholomä pilgern würden, wenn bei der Geburt alles gutginge. Diese Wallfahrt, die alljährlich abgehalten wird, gibt es bereits seit sechszehnhundertfünfunddreißig. Natürlich war Leni und Martin bewusst, dass sie an dem traditionell vorgesehenen Termin nicht mitgehen konnten. Schließlich wollten sie ja am Geburtstag ihrer Kinder wallfahren. Als die Kinder, zwei Buben, inzwischen neun Jahre alt, zur Welt kamen, verlief alles planmäßig. Die Buben waren gesund und so lösten Leni und Martin alljährlich ihr Versprechen ein. Auch die Taufpaten, zwei Geiger aus Lenis Orchester, und die Trauzeugen gingen...