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In der aufgeregten Atmosphäre des Systemwechsels, wie ihn ganz Mittelosteuropa in den ausgehenden 1980er und zu Beginn der 1990er Jahren durchlief, war die Sehnsucht groß nach einer Stunde null, einem Neubeginn, der möglichst unberührt von Kontinuitäten aus dem alten System geprägt sein sollte. Was in der Volksrepublik entstanden war, sollte über Bord geworfen werden, da es - so erwartete man - den Aufbau einer neuen Ordnung nur in Mitleidenschaft ziehen würde. Tatsächlich gab es jedoch auch Bereiche, in denen die Dritte Republik auf Institutionen aufbauen konnte, die bereits zuvor entstanden waren. Anders als in der Ukraine und in Weißrussland, wo der formale Staatsaufbau mit Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit die Entscheidungsmechanismen innerhalb der KPdSU nur verschleierte, erbten die Dissidenten, die in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei ans Ruder kamen, Institutionen, die sofort funktionstüchtig wurden, wenn man aus ihnen nur die jeweilige kommunistische Partei mit ihren Verbindungen zur KPdSU eliminierte. Was Polen hier von anderen Ländern der Region unterschied, war die Tatsache, dass der Reformprozess, der zum Systemwechsel von 1989 führte, langwierig war. In der Tschechoslowakei und Rumänien verlor der kommunistische Staatsapparat gewissermaßen über Nacht die Macht. In Polen verlor er sie schrittweise und versuchte dabei stets, einem radikalen Machtverlust durch teilweise Zugeständnisse an die Opposition und die westliche Staatengemeinschaft, wo Polen hochverschuldet war, zuvorzukommen.
Als im Dezember 1981 General Wojciech Jaruzelski mit einer Junta aus kommunistischen Generälen die Macht an sich riss, die Opposition in den Untergrund trieb und große Teile des Parteiapparats entmachtete, ließ er viele der zuvor vorgenommenen Reformen in Kraft treten. Dazu gehörten die sogenannten Belegschaftsräte, die demokratisch von den Beschäftigten der Staatsbetriebe gewählt wurden, Einfluss auf das Management hatten und sogar das Recht hatten, Fabrikdirektoren abzusetzen oder die Umwandlung der Außenhandelsbetriebe in Kapitalgesellschaften zu veranlassen. Alle diese Versuche, das Management der unterkapitalisierten Staatsbetriebe mit ihren oft demoralisierten Belegschaften zu modernisieren, waren dem Bemühen nach mehr Effizienz geschuldet. Nach der Verhängung des Kriegsrechts herrschte in Polen eine geradezu erdrückend depressive Stimmung, die Städte waren verwahrlost, von den Fassaden fiel der Putz und in den Straßenbahnen und Bussen, die mehrere Jahrzehnte alt waren, drängten sich klagende Menschen in abgetragenen Kleidern. Auf dem Land begegneten westlichen Besuchern Pferdefuhrwerke und Traktoren, die aus Industrieabfällen und Ersatzteilen zusammengebastelt waren. Nach der Verhängung des Kriegszustandes hatte die westliche Staatengemeinschaft Sanktionen gegen das Land verhängt, das aufgehört hatte, seine immensen Auslandsschulden zu bedienen. So kamen jahrelang weder Investitionen noch Devisenimporte ins Land, der Wert des Zloty war so sehr gesunken, dass Auslandsreisen nur noch in andere Volksrepubliken möglich waren. Wer konnte, wanderte aus, entweder legal als politischer Flüchtling oder indem er vorgab, deutscher Abstammung zu sein, oder illegal als Arbeitsmigrant, der in Wien, Berlin oder in Westdeutschland durch Schwarzarbeit oder Handel Devisen verdiente, mit der er seiner Familie in Polen ein besseres Auskommen verschaffen konnte. Frei konvertierbar war der Zloty nie gewesen, doch in den 1980er Jahren lagen Schwarzmarktkurs und offizieller Umtauschkurs so weit auseinander, dass selbst auf den Dörfern eine florierende Branche von illegalen Devisenhändlern entstanden war. Wer in der immer schneller steigenden Inflation etwas sparen konnte, wechselte seine Zloty so schnell es ging in US-Dollar und D-Mark. Wer zu viel davon hatte, konnte in den Devisenläden einkaufen, die anders als in der DDR auch für Einheimische frei zugänglich waren. Dort gab es dann oft nicht nur Waren aus dem Westen, sondern auch Exportwaren aus Polen selbst, was immer wieder zu Protesten und Frustration führte: Schinken, hergestellt in Polen für den Export in den Westen, wurde so in den Devisenläden an Polen verkauft, aber für Preise, die sich niemand, der nur in Polen seiner Arbeit nachging, leisten konnte.
In den 1980er Jahren war der Schwarzmarkt allgegenwärtig und so bedeutend für die Versorgung der Menschen, dass selbst die Regierung - allen ideologischen Vorbehalten zum Trotz - allmählich ihren Frieden damit machte. Ein Dreiklassen-Preisrecht wurde eingeführt: Ein Teil der Preise (meist für Industrieprodukte) wurde vom Staat festgelegt. Da Umfragen ergeben hatten, dass die Bevölkerung Rationierungsmaßnahmen einer Preisfreigabe vorzog, waren diese staatlichen Festpreise meist niedrig und die Abgabemenge der entsprechenden Waren limitiert. Kaum wurden solche Güter, wie Kühlschränke oder Waschmaschinen irgendwo angeboten, bildeten sich lange Warteschlangen und jeder versuchte, so viele zu kaufen, wie er sich leisten konnte. Niemand brauchte drei Waschmaschinen, aber man konnte sie danach zu einem Vielfachen des Ladenpreises unter der Hand an Bekannte und Verwandte weiter verkaufen.
Eine zweite Preisklasse waren die sogenannten Verhandlungspreise, die in bestimmtem Rahmen von den Produzenten festgelegt werden konnten. So konnte man bei privaten Händlern Lebensmittel ohne Rationierungskarten aber zu höheren Preisen als in staatlichen Läden kaufen. Noch teurer wurde es dann, wenn etwas für »freie Preise« verkauft wurde - hier mischte sich der Staat nicht mehr ein, aber die Bürger zogen es in der Regel vor, Schokolade nach langem Schlange Stehen zu Festpreisen zu erwerben. Ein Einkauf zu freien Preisen würde ziemlich genau dem Dollarpreis in einem Devisenladen zum Schwarzmarktkurs des Zloty betragen. Die besseren Restaurants, in denen sich Köche und Kellner um die Kunden bemühten, befanden sich meist in Devisenhotels und waren Devisenausländern vorbehalten. Wer sie betreten wollte, musste sich als solcher ausgeben, etwa indem er Deutsch oder Englisch sprach. Wer das nicht wollte oder konnte, für den gab es sogenannte Milchbars, fleischlose Garküchen mit Massenabfertigung und Genossenschaftskneipen in der Provinz, die häufig für Familienfeste gemietet und dann von den Gastgebern für einen Tag in Eigenregie übernommen wurden. Diese brachten häufig ihre Speisen selbst mit, wobei sie das obligatorische Fleisch und Wurstangebot meist selbst geschlachtet, gepökelt und geräuchert hatten, legal oder illegal.
Mitte der 1980er Jahre war ein Ausweg aus dieser trostlosen Lage nicht sichtbar. Die Obristen-Junta unter Jaruzelski saß zu fest im Sattel, als dass die Opposition in der Lage gewesen wäre, sie zu Zugeständnissen zu bewegen oder zu stürzen. Letzteres war schon deshalb unmöglich, weil im ganzen Land sowjetische Truppen stationiert waren, die Verbände in den Nachbarstaaten bereit zum Eingreifen standen und der polnische Geheimdienst aufs engste mit dem KGB verflochten war. Allerdings war die Gewerkschaft Solidarnosc, deren Führung im Dezember 1981 interniert worden war, immer noch stark genug, die Regierung an Wirtschaftsreformen zu hindern. Und so verschlechterte sich die Wirtschaftslage immer weiter.
Um die Bauern von Streiks abzuhalten, wurde die Landwirtschaft hoch subventioniert. Um die Stadtbevölkerung und besonders die Minen- und Industriearbeiterschaft von Streiks abzuhalten, wurden die Verbraucherpreise subventioniert. Beides führte zu einem immer höheren Defizit, steigender Inflation und einem Schwinden der Investitionen. Auch führte es zu solchen Absurditäten wie dem Verfüttern von Brot an Schweine, weil das Brot durch die Subventionswirtschaft zeitweise billiger geworden war als das Getreide, aus dem es hergestellt worden war. Die meisten Polen reagierten auf diese Absurditäten, die bürokratischen Schikanen und das weitverbreitete Ohnmachtsgefühl ihres Alltags mit einem Rückzug ins Private. Man feierte oft nicht nur nach Feierabend und am Wochenende, sondern auch bei der Arbeit, buk Kuchen, tischte auf dem Schwarzmarkt eingekaufte Delikatessen auf und trank, vor allem einheimischen Wodka. Er floss in Strömen trotz der vormittäglichen Prohibition, es gab meist genug private (oft selbstgebrannte) Vorräte, Nachschub aus Devisenläden und im Notfall die melina in der Nachbarschaft, wie jene Schwarzmarktverkaufsstellen hießen, in der man hauptsächlich Alkohol aus oft dubiosen Quellen erstehen konnte, aber auch alles andere, was nicht erlaubt war.
Der Rückzug ins Private wurde Mitte der 1980er Jahre unterbrochen. Es ist nicht völlig klar, was der Auslöser dafür war, aber mangels anderer wichtiger Ereignisse aus dieser Zeit, kann man annehmen, dass es der Amtsantritt Michail Gorbatschows als Generalsekretär der KPdSU und die Verkündung von Glasnost und Perestrojka waren.1 Gorbatschow hatte erkannt, dass eine Modernisierung der Sowjetunion nur...
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