Schweitzer Fachinformationen
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Als Angela aus dem Fenster sah, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: Eine feine Schneedecke lag über den Dächern der Altstadt. Dass es in den nahen Bergen schneite, kam vor. Doch nicht in Asenza, dazu war es viel zu mild im Veneto.
Im Innenhof der Seidenvilla musste sie achtgeben, auf dem alten Pflaster nicht auszugleiten. Das große, zweistöckige Gebäude war um einen rechteckigen Innenhof herum angelegt, ein Holztor führte hinaus zur Straße. In der Mitte befand sich ein betagter Maulbeerbaum. Er hatte sein Laub noch nicht vollständig abgeworfen, golden leuchtete es unter den weißen Häubchen aus Schnee.
Alles wirkte wie verzaubert, und Angela ging das Herz auf. Tief sog sie den Duft nach Schnee und Kälte in ihre Lungen ein. Sie lebte erst seit eineinhalb Jahren in Norditalien, und zum ersten Mal erfasste sie ein Anflug von Sehnsucht nach ihrer deutschen Heimat, nach den Winterlandschaften rund um den Ammersee, wo sie früher zu Hause gewesen war.
»Porca miseria!« Das Hoftor wurde aufgestoßen, und Nola kam mit ihrer Tochter Fioretta hereingestapft. »Was ist das für ein Mistwetter«, schimpfte die Weberin. Dann hatte sie ihre padrona entdeckt. »Buongiorno, Signora Angela. Haben Sie den Schnee bestellt?«
»Guten Morgen, Nola«, antwortete Angela mit einem Lachen. »Nein, meine Schuld ist das nicht.«
»San Colombano, la neve in mano«, verkündete Stefano, der mit seiner Frau Orsolina ebenfalls in den Hof drängte. »Heute ist der 23. November, der heilige Colombano bringt häufig Schnee, das sagt schon das Sprichwort .«
»Aber doch nicht hier bei uns!« Nola blickte sich empört im Innenhof um.
Plötzlich riss der Himmel auf. Ein Sonnenstrahl brachte die Krone des Maulbeerbaums zum Glitzern, und einen Augenblick lang schien alle ein großes Staunen zu erfassen.
»Der taut bestimmt bald wieder«, meinte Stefano schließlich und begab sich mit den anderen in den Flügel der Seidenvilla, in dessen erster Etage sich die Weberei befand. In einer Viertelstunde würden sie wie immer montags die Wochenbesprechung abhalten. Doch einen Moment lang noch wollte Angela diesen außergewöhnlichen Morgen genießen.
Eine schmale Gestalt, fast vollständig in ein großes Wolltuch gehüllt, huschte in den Hof.
»Buongiorno, Fania«, begrüßte Angela ihre junge Haushälterin erfreut. »Ist das dein erster Schnee?«
Die achtzehnjährige Fania kam aus Sizilien, und nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, war auch sie von diesem Naturereignis völlig überrumpelt.
»Ja«, sagte sie und folgte Angela eilig in die Wohnung. »Haben Sie denn schon gefrühstückt?« Die junge Frau schälte sich aus ihrem Wolltuch und legte ihren leichten Mantel ab.
»Nein, noch nicht.«
In der Küche brodelte die Espressokanne, und Angela nahm sie vom Herd.
»Das hat mir meine Tante für Sie mitgegeben.« Fania ließ ein duftendes Maisbrötchen auf einen Teller gleiten. »Sie lässt Ihnen ausrichten, Sie sollen von ihrem selbst gemachten Quittengelee daraufstreichen.« Sie holte das Glas mit dem Gelee und Besteck aus einem der Schränke und richtete alles auf der Küchentheke an.
»Emilia meint es zu gut mit mir«, sagte Angela und nahm auf einem der Thekenstühle Platz. »Mmh«, sagte sie genießerisch, als sie das Maisbrötchen aufschnitt. »Das ist ja noch warm!«
»Zia Emilia hat es vorhin erst aus dem Ofen geholt. Wie geht es Nathalie? Wann soll noch mal das Kind kommen?«
Angelas Tochter war hochschwanger und lebte seit einigen Wochen in der kleinen Gästewohnung im Parterre der Seidenvilla.
»In zwei Wochen«, antwortete Angela und kämpfte die Nervosität nieder, die sie beim Gedanken an die bevorstehende Geburt regelmäßig befiel. Sie würde Großmutter werden mit ihren siebenundvierzig Jahren und freute sich unbändig auf ihr Enkelkind. Dabei gab es keinen Grund zur Sorge, bislang war die Schwangerschaft ihrer Tochter vollkommen problemlos verlaufen. »Ich hab Nathalie heute noch nicht gesehen.« Angela biss in das leckere Brötchen. Emilia hatte recht. Mit ihrem Quittengelee schmeckte das Maisbrötchen einfach fantastisch. »Wahrscheinlich schläft sie noch. Machst du uns bitte für die Mitarbeiterbesprechung eine große Kanne Kaffee und bringst sie hoch?«
»Con piacere, Signora Angela«, sagte Fania.
»Und dann ist gestern noch eine dringende Bestellung aus den USA eingegangen. Mrs. Whitehouse ist eine gute Freundin von Signora Tessa«, sagte Angela und zog den Ausdruck der E-Mail aus ihrem Ordner. »Eine Stola in Bordeauxrot. Es soll ein Weihnachtsgeschenk werden. Ich weiß, das ist kurzfristig«, wehrte sie die Unmutslaute ihrer Mitarbeiterinnen ab. »Aber da uns Mrs. Whitehouse einige neue Kundinnen vermittelt hat, möchte ich gern, dass wir das einschieben.«
»Die hat Nerven«, murrte Nola halblaut. »Wir haben schließlich schon Ende November. Kann sie sich nicht eines der fertigen Tücher aussuchen, die wir im Internet anbieten? Da gibt es doch so viele .«
»Aber keines in Bordeaux«, entgegnete Angela entschieden. »Haben wir von dieser Farbe noch ausreichend Seide im Lager, Orsolina?«
Die Färberin überlegte. »Ich denke schon. Wie groß soll die Stola denn werden?«
»Achtzig auf zwei Meter zwanzig«, antwortete Angela nach einem Blick in ihre Unterlagen. »Maddalena«, wandte sie sich an eine andere Weberin, »deine Kette ist schwarz, das passt gut zu diesem dunklen Rot. Beendest du heute nicht die Bestellung aus Paris? Dann könntest du danach gleich mit dem Tuch in Bordeaux beginnen, nicht wahr?«
»Ma certo.« Die Weberin mit den sanften braunen Augen arbeitete, wie Angela wusste, ausgesprochen gern für die amerikanischen Bekannten von Tess, die hier viele Jahre zuvor ihren Alterssitz in einer der schönsten Villen des Städtchens genommen hatte. Die freundliche alte Dame, die eigentlich Teresa hieß, von allen jedoch nur Tess oder Tessa genannt wurde, war die beste Freundin von Angelas Mutter gewesen. Und ohne sie wäre sie niemals auf den Gedanken gekommen, ausgerechnet im Veneto diese Seidenweberei zu übernehmen. »Tessas Freundin soll ihr Weihnachtsgeschenk pünktlich bekommen«, schloss Maddalena.
»Danke.« Angela schenkte der Weberin ein Lächeln. Dann wurde sie ernst. »Ich wollte noch etwas anderes mit euch besprechen. In letzter Zeit häufen sich die Anfragen nach Modellkleidern.« Seit sie bei ihrer Verlobung mit Vittorio Fontarini, dem Erben eines der ältesten Adelsgeschlechter Venedigs, ein selbst entworfenes Kleid aus handgewobener Seide getragen hatte, konnte sie sich vor solchen Bestellungen nicht mehr retten. »Kennt jemand von euch eine richtig gute Schneiderin, die in der Lage ist, meine Entwürfe umzusetzen?« Sie sah in die Runde, doch keiner hatte einen Vorschlag.
»Ich kenne nur Eugenia«, sagte Nola. »Aber die ist Änderungsschneiderin. Unsere Seide würde ich ihr nicht in die Hand geben wollen.«
Angela seufzte. »Dann werde ich mal eine Zeitungsannonce .«
Ein entsetzlicher, lang gezogener Schrei erschütterte die Ruhe der Seidenvilla. Angela fuhr auf.
»Madonna«, flüsterte Orsolina. »Was war das denn?«
Ein weiterer Schrei ertönte. Nathalie! Der Schreck fuhr Angela durch alle Glieder. Sie sprang auf und rannte hinaus, die Treppe hinunter und in den Innenhof. So schnell sie konnte, durchquerte sie ihn. Nathalies kleines Reich lag der Werkstatt genau gegenüber. Sie riss die Tür auf und stürmte in das Zimmer ihrer Tochter.
»Sind es die Wehen?«, fragte Angela außer Atem. »Geht es los?«
Fania kam aus dem angrenzenden Badezimmer, auf ihrem Arm ein Handtuch.
»Die Fruchtblase ist geplatzt«, erklärte sie sanft und half Nathalie, das feuchte Nachthemd auszuziehen. Angela stellte fest, dass die junge Sizilianerin gefasster war als sie selbst. »Signora, Sie sollten mit ihr ins Krankenhaus .«
Doch Nathalie streckte ihren Rücken durch und stieß einen weiteren markerschütternden Schrei aus. »O mein Gott«, keuchte sie, als sie wieder zu Atem kam.
»Ich fahr den Wagen aus der Garage«, schlug Angela vor.
Doch Nathalie warf den Kopf in den Nacken und zog ihre Knie an. »Ich glaube«, stieß sie hervor, »dazu ist keine Zeit mehr.« Ihr Gesicht lief dunkelrot an.
»Lauf zu Dottore Spagulo«, wandte sich Angela an Fania. »Er soll sofort kommen.«
Fania nickte und rannte davon.
»So habe ich die Wehen nicht erwartet«, wimmerte Nathalie.
Der Schmerz hatte offenbar ein wenig nachgelassen, und Angela half ihrer Tochter, ein sauberes, weit geschnittenes Nachthemd anzuziehen, das vorne eine durchgängige Knopfleiste hatte.
»Erinnere dich daran, was du in der Geburtsvorbereitung gelernt hast«, versuchte Angela sie aus ihrer Panik zu holen. »Gleichmäßig atmen: durch die Nase ein, durch den Mund aus .«
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, als erneut eine ungeheure Wehe durch Nathalies Körper lief.
»Atme«, rief Angela und bettete Nathalies Kopf auf ihren Schoß. »Atme mit mir! Tief ein. Und jetzt langsam wieder aus«, versuchte sie, ihrer Tochter zu helfen.
»Das tut so weh, Mami!«, jammerte Nathalie. »Die haben gesagt, dass das langsam anfängt, verdammt!«
»Darf ich?« Nola war unbemerkt eingetreten und musterte Nathalie, die ihren Schmerz ein weiteres Mal laut herausschrie, besorgt.
»Kennen Sie eine Hebamme?«, stieß Angela hervor.
Nola schien fieberhaft...
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