Kapitel 1
»Lass, ich mach das schon .« Mit diesen Worten erhob sich Anna seufzend von dem großen Eichenesstisch, an den sie sich soeben gesetzt hatte. Sie griff nach der Jeansjacke, die über der Stuhllehne hing.
»Hast du eine Idee, wo ich anfangen soll, zu suchen?«, fragte sie.
Ihre Mutter Monika, die mit der Gesamtsituation unglücklich wirkte, zuckte die Achseln. »Er kann überall sein.« Sie sah an sich herunter bis zu dem Bein, das sie auf einem der Stühle, von denen keiner zum anderen passte, hochgelegt hatte. Es steckte in einem unförmigen skischuhartigen Gipsverband.
Annas Blick folgte dem ihrer Mutter. Für die quirlige Fünfundfünzigjährige war die Unbeweglichkeit, zu der sie verdammt worden war, schwer zu ertragen.
Mit mehr Enthusiasmus als sie tatsächlich verspürte, versicherte Anna ihr: »Er kann ja nicht weit sein. Ich finde ihn schon.«
»Wenn er nur nicht wieder zum Hotel rüber gelaufen ist .«
Anna verließ das Haus, wobei sie instinktiv den Kopf einzog. Die Türrahmen des Bauernhauses waren eindeutig nicht für heutige Menschen gemacht. Alles an dem alten Haus war nach Annas Empfinden zu eng und irgendwie bedrückend. Genauso wie der riesige Holzküchenherd, der gleichzeitig die einzige Wärmequelle im Winter war. Ihre Mutter hingegen fand das gemütlich.
Draußen blähte ein scharfer Wind Annas Kleidung auf und riss an ihren Haaren. Sie knöpfte die Jeansjacke zu und stellte den Kragen auf. Das Letzte, worauf sie jetzt Lust hatte, war den dämlichen Esel zu suchen. Trotzdem blieb ihr nichts anderes übrig.
Seufzend stapfte sie am Stall vorbei über den Kiesweg, der zur Straße hinunterführte. Wo mochte das Tier wieder sein? Während die anderen Esel bereits mit entspannt hängenden Ohren über den Heuraufen standen, trieb dieser eine sich wieder einmal draußen herum.
Erste Regentropfen trafen Anna im Gesicht.
Auch das noch. Bis sie den Ausreißer gefunden hatte, würde sie tropfnass sein. Anna beschleunigte ihren Schritt und trabte den Feldweg hinauf Richtung Wald.
Esel mochten ebenso keinen Regen, das hatte sie inzwischen über sie gelernt. Weil ihr Fell nicht wasserabweisend war, wie das von Schafen oder Pferden zum Beispiel. Ihnen fehlten irgendwelche Drüsen dafür.
Der ansteigende Weg brachte Anna ins Schnaufen. Es regnete inzwischen kontinuierlich. Auf dem hellblauen Jeansstoff bildeten sich dunkelblaue Flecken.
Alles, was Anna über Esel wusste, hatte sie nicht freiwillig gelernt. Sie musste sich diese Dinge jedoch aneignen, wenn sie ihrer Mutter zur Hand gehen wollte. Monika hatte sich nämlich bei einer ähnlichen Suche nach dem sturen Eselhengst die Außenbänder am Knöchel gerissen. Sie hatte operiert werden müssen und von dem Arzt gesagt bekommen, dass sie für längere Zeit ausfallen würde. Sie konnte weder den Hof noch sich selbst versorgen. Aus diesem Grund hatte Anna ihre Zelte in München abgebrochen und war zu ihrer Mutter ins tiefste Niederbayern in den Bayerischen Wald gefahren. Als Grafikdesignerin konnte sie auch eine Weile vom Küchentisch aus arbeiten. Vorausgesetzt, die Internetverbindung war einigermaßen stabil.
Unter den Bäumen war Anna zumindest etwas vom Regen geschützt. Als sie den Waldrand erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte. »Don Quijote!«, rief sie so laut sie konnte. »Don Quijote! Wo bist du?«
Sie hätte besser ein paar Möhrenstücke einstecken sollen, oder irgendetwas anderes, womit sie den Esel nach Hause locken hätte können, wenn sie ihn fand.
Es war immer Don Quijote, der Ärger machte. Die anderen Esel ließen sich auf ihre Weide und danach anstandslos wieder zurück in den Stall treiben. Man konnte sie mit ein paar Möhren- oder Apfelstücken anlocken und schon ließen sie sich brav von Anna am Strick führen. Nur Don Quijote nicht. Don Quijote war auch der einzige unkastrierte Hengst in Monikas Herde und musste eigentlich von den Stuten getrennt gehalten werden. Auch das ignorierte er beizeiten, weshalb die Herde bereits ungeplant angewachsen war.
Anna durchquerte das kleine Waldstück, ohne auch nur die Spur eines Esels zu entdecken. Dahinter erstreckten sich Wiesen, die zu dem großen Hotelkomplex hin abfielen. Schon als sie mit ihrem Motorrad angekommen war, war Anna das moderne Gebäude ins Auge gestochen. Es dominierte die Senke, in der es lag, mit den Giebeln seines dreiseitigen Hauptgebäudes. Daneben gruppierten sich Anbauten und moderne Gebäudeteile mit begrünter Dachterrasse.
Von der Seite, von der Anna sich dem Hotelkomplex näherte, fiel dem Betrachter als Erstes der großzügige Parkplatz ins Auge. Eine Reihe teurer SUVs parkte vor dem Haupteingang. Die Fahrzeuge, mit denen die Gäste angereist kamen, ließen bereits Rückschlüsse darüber zu, welche Klientel hier abstieg.
Anna seufzte und lief über den Parkplatz. Inzwischen hatte sie sich damit abgefunden, dass sie patschnass nach Hause zurückkommen würde.
Viele Fenster des fünfstöckigen Gebäudes waren hell erleuchtet. Das Hotel kam ihr in dem Moment einladender vor als das alte Bauernhaus, das ihre Mutter bewohnte und das in einigen Pensionszimmern immer wieder Gäste beherbergte. Doch jetzt war nicht der richtige Augenblick, um das Luxushotel zu erkunden. Der abgängige Esel musste gefunden werden!
Früher oder später würde sie ohnehin dem Besitzer des Hotels zwangsweise über den Weg laufen, denn Anna wusste, dass ihre Mutter mit der Familie überkreuz lag. Unter anderem, weil Don Quijote sich gern den Hotelgarten und die Liegewiese als Ziel seiner Ausflüge aussuchte, was natürlich negativ auffiel.
In einem großen Bogen umrundete Anna die Gebäude und erreichte die Gartenseite der Anlage. Mehrere Pools und ein großer Schwimmteich lagen zwischen sorgfältig angelegten, gepflasterten Wegen - unterbrochen von Rasenstücken, die so weich und gleichmäßig aussahen, dass Anna versucht war, sich zu bücken, um festzustellen, ob es sich um echtes Gras handelte. Verstreut standen Liegen und Sitzplätze darauf - muschelförmige Sonnenbetten und großzügige Inseln, die auf einladenden Kissen für zwei Personen locker Platz boten. Im Augenblick glänzte alles nass und die Wasseroberfläche der Pools kräuselte sich von den darauf einschlagenden Regentropfen.
Weit und breit war kein Esel in Sicht.
Genervt stapfte Anna um den Schwimmteich herum. Es war alles ausgeklügelt angelegt worden. Sicherlich hatte hierauf ein ganzes Heer von Landschaftsgärtnern ihr Hirnschmalz verwendet.
Anna hatte nicht nur einen Blick für Formen und Gestaltung, sondern auch einen Sinn dafür. Immerhin verdiente sie als Grafikdesignerin ihr Geld damit, wenngleich sie ihre Entwürfe nur zweidimensional ausarbeitete und nicht in der Tiefe, wie es hier der Fall war.
Sie warf einen Blick zurück zum Hotelgebäude, das auch auf dieser Seite aus dem alten Haupthaus und deutlich moderneren Anbauten bestand. Die verschiedenen Bauabschnitte fügten sich harmonisch zu einem Ganzen zusammen. Die Architekten hatten hier ebenso gute Arbeit geleistet. Sehr geschmackvoll.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Erschrocken fuhr Anna herum. Sie hatte niemanden kommen hören. Im beständig plätschernden Regen hatte sie sich auf der Anlage allein gewähnt. Vor ihr stand jedoch ein junger Mann, dem der Regen das etwas längere Haupthaar an den Kopf geklatscht hatte. Sein vormals weißes Hemd war von der Nässe komplett durchweicht und klebte ihm wie nach einem Wet-Shirt-Contest am Oberkörper.
Anna registrierte nur am Rande, dass die darunter erahnbaren Muskeln sich durchaus sehen lassen konnten. Dann erst sah sie, dass der Mann nicht allein war. Er hatte die Hand in die Mähne des gesuchten Esels gekrallt. Don Quijote verstand die Aufregung, die er verursacht hatte, wie gewohnt nicht. Er blickte Anna aus großen treuen Augen an und senkte dann die Nase, um an den gleichmäßig gestutzten Grashalmen zu rupfen.
»Da bist du ja, du dummes Tier!«, entfuhr es Anna, bevor sie auf die Frage des jungen Mannes eingehen konnte.
Er sah zwischen dem Ausbrecher und ihr hin und her. »Gehören Sie zu dem Esel?«
Anna straffte den Rücken. »Nein. Also ja. In gewisser Weise schon.«
Er ließ die Mähne los und trat einen Schritt zurück. Anklagend sagte er: »Dann nehmen Sie das Vieh und sorgen Sie endlich dafür, dass es uns hier nicht mehr belästigt!«
Es war Anna zuwider, dass sie sich für den Ausreißer entschuldigen musste; eigentlich war sie derselben Ansicht. Es durfte nicht sein, dass der Esel ständig Reißaus nahm und die Leute gegen sich aufbrachte.
»Ich weiß, es tut mir leid«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Es muss doch wohl möglich sein, dass Sie den Esel so einsperren, dass er dortbleibt.« Er hatte offenbar nicht vor, sie so einfach davonkommen zu lassen.
»Es tut mir leid«, wiederholte Anna. In ihr stieg Ablehnung gegen den unbekannten Mann auf. Dann kam ihr erst der Gedanke, dass sie Halfter und Führstrick mitnehmen hätte sollen. Wie hatte sie sich sonst vorgestellt, dass sie Don Quijote durch das Waldstück zurück nach Hause bringen wollte?
Dem Unbekannten schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen, während sie alle drei im strömenden Regen standen. »Kommen Sie mit, ich gebe Ihnen ein Seil.«
Anna blieb nichts anderes übrig, als hinter ihm herzugehen. Wie er zuvor packte sie Don Quijote bei der Mähne und knurrte: »Hör auf zu fressen, du Untier! Komm mit.«
Don Quijote hob tatsächlich den Kopf und bewegte sich träge neben ihr her. Dass Esel keinen Regen mochten,...