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11. März | Max-Joseph-Platz
Lulu und Ida zwängten sich in die letzte Lücke auf den Treppen des Hoftheaters und machten sich so breit es irgendwie ging.
»Ich hoffe, die anderen kommen bald.«
»Elsa kann nicht weg. Gegen Mittag wurde ein Mädchen mit schlimmen Verbrennungen eingeliefert, erst knapp über ein Jahr alt. Dein Vater wollte, dass sie die Pflege übernimmt.« Die Schreie der kleinen Nelly hallten in Lulus Kopf nach. Schlimm. »Bis die Haut abgetragen und die Wunden mit Kochsalzlösung gereinigt waren, ist sie dreimal bewusstlos geworden. Zum Glück wurde in der Frauenklinik gerade eine Frau per Kaiserschnitt entbunden. Mit der steril entnommenen Eihaut als temporärer Hautersatz sind .«
»Stopp!« Ida hob die Hand. »Du weißt doch, dass mir von so was schlecht wird.«
»Aber es ist ein solches Glück! Der halbe Rücken des Kindes war verbr.«
»Herrje! Ich will das nicht hören«, unterbrach Ida sie erneut. »Mich wundert ja, dass du dich losreißen konntest.«
Wäre heute nicht Idas Geburtstag, hätte Lulu das ganz sicher nicht geschafft. Dass man Teile der Eihaut als sogenannte Übergangstherapie transplantierte, interessierte sie brennend. Sie wollte sehen, wie das gemacht wurde, wie sich alles entwickelte. Wenn Nelly die Nacht überlebte, dann .
Lulu bremste sich und kniff die Freundin in die Seite. »Um nichts in der Welt würde ich dich an deinem Geburtstag allein lassen. Das weißt du haargenau.«
»Gegen dein geliebtes Kinderspital ist schwer anzukommen, davon kann ich ein Lied singen. Aber lassen wir das. Wenn mein Vater Elsa zu dem unglückseligen Würmchen abkommandiert hat, heißt das, sie darf wieder auf Station aushelfen und bei Behandlungen und Operationen assistieren?«
»Sieht so aus. Wer oder was den Gesinnungswandel eingeleitet hat, weiß ich allerdings nicht.«
»Und wie geht es Elsas Prinz?«
»Adolf von Schenk meinst du?« Die Gerüchteküche im Spital brodelte, seit Elsa wochenlang Nacht für Nacht im Allgemeinen Krankenhaus verbracht hatte.
»Wen denn sonst?« Ida kräuselte die schön geschwungenen Lippen.
»Er ist wieder zu Hause.«
»Und?« Die Freundin wedelte mit der Hand vor ihrer Nase durch die Luft. »Wie schlimm ist es?«
»Auch das weiß ich nicht genau, aber da er aus der Psychiatrie entlassen wurde, muss sich sein Zustand gebessert haben.«
»Gut.«
Sehr gut sogar. Nach dem Überfall hatte Lulu nicht weiter wegen Tildas Verschwinden nachgeforscht. Es fühlte sich nicht richtig an, Frau von Schenk - und erst recht Adolf selbst - in einer solchen Krise damit zu behelligen. Nun konnte sie einen neuen Anlauf wagen. Endlich.
»Hat man den Angreifer inzwischen gefasst?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Eine Schande.« Ida schüttelte den Kopf und zupfte die Nähte ihrer neuen Handschuhe zurecht. »Hast du den Festschmuck am Seidenhaus Gerlach gesehen?«
Lulu lachte auf. Idas Themenwechsel waren legendär.
»Überaus glanzvoll, durchaus, nur leider haben sie sich wieder einmal mit dem Buchstaben und den Jahreszahlen vertan. Ein großes L mit Krone in Feuerschrift, statt einem I, und dazu 1821 bis 1903. Ein Skandal!«
»Definitiv«, pflichtete Lulu bei. »Aber die Arrangements am Café Luitpold und beim Speier'schen Schuhwarengeschäft machen es wett, wie ich gesehen habe.«
Ida gluckste. Sie hatte am 11. März Geburtstag, Prinzregent Luitpold am 12. Zwischen ihnen lag ein halbes Leben, da aber am Vorabend des Geburtstagsfestes des Reichsverwesers jedes Jahr die halbe Stadt in Aufruhr war und vor der Residenz stets ein rechtes Spektakel mit Serenade und großem Zapfenstreich veranstaltet wurde, war Idas Jahresfest seit sie denken konnte mit dem des Regenten verknüpft. An ihrem fünften Geburtstag, als die Stadt zum ersten Mal dem neuen Regenten huldigte, hatte sie geglaubt, die Münchner hätten all die Häuser, Straßen und Plätze nur für sie mit Girlanden und Blumen geschmückt. Seither stand für sie fest, dass sich die Stadt nicht zu Luitpolds, sondern zu ihren Ehren herausputzte. Über die falschen Buchstaben und Zahlen schimpfte sie stets ausgiebig. Es war zu einem schönen Ritual geworden.
»Ich bezweifle langsam, dass Fanny und Änny noch zu uns durchkommen.«
Das machte Lulu auch Sorgen. Auf dem Max-Joseph-Platz, der zur Residenz hin vollständig und zur anderen Seite hin weitläufig abgesperrt war, wuchs die Menschenmenge allmählich zu einer dichten schwarzen, zweigeteilten Masse an. Die besten Plätze auf den Treppen des Hoftheaters waren bei dem freundlichen Frühlingswetter längst besetzt, und auch drüben unter den Säulenbogen der Post standen die Reihen dicht gedrängt, obwohl es erst in einer halben Stunde losging.
»Sieh an, wer auch da ist.«
Lulu schielte nach links.
»Andere Seite«, korrigierte Ida.
Hardy! Keine zwei Meter entfernt. Lulu hätte sich am liebsten in die Hocke fallen lassen, um auf allen vieren durch die Schaulustigen davonzukriechen.
»Jetzt schau nicht, als wäre dir ein Geist erschienen. Hättest du damals auf mich gehört .«
. wären die Fronten längst geklärt. »Jaja, ist gut jetzt. Hoffentlich bemerkt er uns nicht oder hat wenigstens den Anstand, so zu tun.«
»Ida? Lulu?«
Natürlich! Lulu ballte die Fäuste und wandte sich um. Ida dagegen strahlte wie ein Honigkuchenpferdchen.
»Hardy«, flötete sie. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
Artig reichte Lulu ihm die Hand, als sie an der Reihe war, wagte dabei aber kaum, ihn anzusehen. Sie hatten in den letzten Jahren zwangsläufig bei den unterschiedlichsten Gelegenheiten einige höflich distanzierte Worte gewechselt, trotzdem wurden ihre Hände jedes Mal aufs Neue schwitzig, wenn sie ihm begegnete. Wofür hielt er sie? Für ein Flittchen oder eine Lügnerin? Wahrscheinlich beides.
Gott sei Dank plapperte Ida jede Peinlichkeit weg, machte auch den kürzesten Moment pikierten Schweigens, der wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebte, unmöglich. Lulu war ihrer Freundin unendlich dankbar, bis Ida zwei Reihen weiter eine Bekannte entdeckte und Lulu mit Hardy allein ließ. Hochverrat!
Wie zu erwarten, hielt das Rosshaar aus der Damokles-Sage nicht stand. Das Schwert sauste herab, und in Lulus Kopf wurde die Fähigkeit, Sätze zu formulieren, ausgelöscht. Am tiefblauen Abendhimmel funkelten die ersten Sterne am Firmament, leuchteten mit der Silberscheibe des Vollmondes und den zwischen den Kandelabern aufgestellten Bogenlampen um den bronzenen Max herum um die Wette. Kitsch pur. Plus peinliche Stille. Eine toxische Mischung. Lulu wurde ganz schlecht davon.
»Wie geht es dir?«
»Gut. Und dir?«
»Danke. Ich kann nicht klagen.«
Jetzt wagte sie doch einen schnellen Blick. Er sah gut aus. Das Milchbubihafte hatte sich im letzten Jahr fast komplett verwachsen. Sein Gesicht war kantiger geworden, der Händedruck kräftiger. Er wirkte auf eine erfrischende Art einnehmend. Fast meinte Lulu, es stehe ein völlig neuer Mensch neben ihr. Vor allem sein Hals kam ihr unheimlich massiv vor, und die wettergegerbte Haut im Gesicht verlieh ihm etwas Verwegenes.
»Das Leben als Oberleutnant bekommt dir«, rutschte ihr heraus.
Überrascht wandte er den Kopf. »Das tut es in der Tat. Im I. Schwere-Reiter-Regiment der Bayerischen Armee bin ich bestens aufgehoben, wenngleich ich ab und an überlege, mich in die Luftschifferabteilung versetzen zu lassen.«
»Wirklich?« Lulu musste an Thaddy denken. Wie euphorisch er ihr von der aeronautischen Ausstellung im Grand Palais in Paris erzählt hatte, obwohl er eigentlich nur wegen der Automobile und Fahrräder nach Frankreich gereist war. In einem fort hatte er ihr an Weihnachten von neuen Ballonkonstruktionen, Materialbelastungstests und Flugrekorden vorgeschwärmt, ehe er sich wieder Richtung Kanada aus dem Staub machte.
»Die Vorstellung, in die Luft emporzusteigen, finde ich überaus faszinierend.«
Soso. Auch das brave Grafensöhnchen lockte also die Gefahr. Vielleicht machte er dem Namen Wolf von Königsfeld demnächst doch noch alle Ehre.
»Was machen deine Ambitionen?«
Das nächste Stichwort, das Lulu die Laune verdarb. »Im Sommer werde ich hoffentlich am Max-Gymnasium als Externe das Absolutorium ablegen.«
»Hoffentlich?«
»Das Ministerium muss es erst noch genehmigen.«
»Ist das nicht reine Formsache?«
Lulu zuckte mit den Schultern. »Deshalb habe ich hoffentlich gesagt.« Dass sie sich weitaus mehr Sorgen darum machte, ob sie die Prüfung bestand, behielt sie für sich.
»Und dann?«
»Beantrage ich die Immatrikulation an der Medizinischen Fakultät hier in München. Wird das abgelehnt, gehe ich nach Freiburg, dort können sich Frauen ordentlich immatrikulieren, wie du vielleicht weißt. Mit einem gnädig zugestandenen Hörerinnenstatus an der hiesigen Universität werde ich mich jedenfalls nicht zufriedengeben.« Sie klang extrem schnippisch, so als hätte Hardy diese Ungerechtigkeiten höchstpersönlich zu verantworten, doch er überhörte es.
»Ich bin beeindruckt. Dir ist es wirklich ernst, oder?«
»Dachtest du etwa, ich wollte dich mit dem Gerede vom Medizinstudium bloß loswerden?«
Er lachte. »Ich war mir zumindest nicht hundertprozentig sicher.«
»Typisch. Niemand traut mir etwas zu, vor allem mein Vater nicht.«
»Ich schon.« Hardy wurde ernst. »An dem Heiligabend im Kinderspital vor ein...
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