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Dienstag, 7. November | Pathologisches Institut, Nussbaumstraße 26
Fanny atmete tief ein, bemerkte den Hauch von Alkohol, der vor der Tür zum Mikroskopiersaal in der Luft hing, und nahm das Kinn ein winziges Stück höher, ehe sie hinter Lulu und Elsa über die Schwelle trat.
Durch die hohen Glasfenster fiel ihnen die Helligkeit wie Bühnenlicht vor die Füße. An den umlaufenden Eichenholztischen, die kaskadenartig nach außen hin abfielen, standen die Studenten in Trauben beisammen. Wie Theaterbesucher, die auf die Glocke warteten. Tief ins Gespräch versunken, behielten sie dennoch ihr Revier im Auge und sahen zu den Neuankömmlingen hoch.
»Ihr hättet auf mich hören sollen«, raunte Fanny den Freundinnen zu. Obwohl sie nun seit zwei Jahren an der Ludwig-Maximilians-Universität studierten, hatten sich die Herren der Schöpfung beileibe nicht an sie gewöhnt. Spätes Erscheinen bei den Vorlesungen oder Übungen barg stets das Risiko, mit unnötig großer Aufmerksamkeit begrüßt zu werden. Besonders zu Beginn des Semesters, wenn alle noch damit beschäftigt waren, Duftmarken zu setzen und die Rangordnung auszufechten, irritierte das weibliche Geschlecht im Kampf um die besten Plätze offenbar erheblich. Oder es spornte an. Definitiv vernebelte es den Männern das Hirn. Einer zischte, pfiff, hofierte oder frotzelte immer, sobald sie den Raum betraten. Manchmal kam Fanny sich vor wie ein Kälbchen mit zwei Köpfen.
Lulu von Ranke hingegen störte sich kein bisschen an diesen Eigentümlichkeiten. Auch heute hielt sie ungeniert Ausschau, winkte bekannten Gesichtern zu und lächelte, als wäre die Erhöhung, auf der sie immer noch standen, allein ihretwegen errichtet worden. Mit den roten Haaren, den hellen Augen und der Armada an Sommersprossen, die wie Schmetterlingsflügel auf ihrer Nase saßen, flogen ihr seit jeher die Blicke zu. Als Tochter aus einem hoch angesehenen Münchner Elternhaus war sie außerdem daran gewöhnt, dass man von ihr Notiz nahm. Auch mochte eine Rolle spielen, dass ihr Vater, Heinrich Ritter von Ranke, Professor für Kinderheilkunde war und als Direktor der Universitätskinderklinik vorstand.
Trotzdem wunderte sich Fanny nicht zum ersten Mal über die Freundin. Übersah sie Spott und Missgunst? War ihr nicht klar, dass alle nur darauf warteten, dass sie, die ersten immatrikulierten Medizinstudentinnen des Königreichs Bayern, an der großen Aufgabe scheiterten?
Elsa drehte sich halb zu Fanny um und zeigte auf die beiden letzten freien nebeneinanderliegenden Plätze in der mittleren Tischreihe. »Stört es dich, wenn Lulu und ich die nehmen?«
»Kein bisschen.« Fanny saß sowieso lieber etwas abseits, also ging sie die wenigen Stufen linker Hand hinunter und sicherte sich ihren ehemaligen Stammplatz am äußersten Rand des Hufeisens. Sie hatte schon einmal hier gesessen, zu Zeiten, als sie sich noch für ihren Zwillingsbruder Anton ausgeben musste, um die Universität besuchen zu können. Weil sie, die blitzgescheite Tochter eines einfachen Postbeamten aus Unteriglbach, im Gegensatz zu ihrem weit weniger begabten Bruder, den die Medizin ohnehin nicht interessierte, kein Reifezeugnis vorweisen konnte.
Das Abitur hatte Fanny inzwischen nachgeholt, sie war eingeschriebene Studentin, ihr Traum hatte sich erfüllt. Und doch wünschte sie an manchen Tagen, sie könnte die Uhr zurückdrehen.
Sie zog den Hocker unter dem Tisch hervor, setzte ihr Sprich-mich-bloß-nicht-an-Gesicht auf und beobachtete mit vor der Brust verschränkten Armen, wie sich die Freundinnen durch die dicht stehenden Kommilitonen kämpften. Lulus Wangen glühten, Elsa fasste sich immer wieder an den Kragen ihrer Bluse. Man sah ihnen die Aufregung an.
Kein Wunder. In den vier vorklinischen Semestern ihres Studiums hatte sich bislang alles um den menschlichen Körper im Normalzustand gedreht, wie er funktionierte und aufgebaut war. Ab sofort ging es endlich um Krankheit und Heilung. Fanny war einst ebenso beseelt von dieser Aussicht gewesen, hatte sich wie berauscht in alles gestürzt und als Klassenprimus Anton Paintner die Bewunderung von Mitstudenten und Professoren genossen. Einmal Gesehenes konnte sie wie eine Fotografie immer wieder aus dem Gedächtnis abrufen. Sie war ein wandelndes Nachschlagewerk und verfügte in allen Lehrfächern über ein enormes Wissen. Schließlich hatte sie das Staatsexamen als ihr Bruder schon absolviert. Doch seit sie die Universität auf eigene Rechnung besuchte, legte man ihr alles, was sie sagte, als Arroganz und Besserwisserei aus. Vielen männlichen Kollegen - und erst recht den Professoren - gefiel es nicht, dass sie auf jede Frage die richtige Antwort kannte. Bei Gelegenheiten, da man Anton Paintners Genie gepriesen hätte, eckte sie als Frau an. Anfangs dachte Fanny noch, das lege sich mit der Zeit, aber mittlerweile hatte sie die Hoffnung aufgegeben.
Elsa trat weniger unbekümmert auf als Lulu, obwohl ihr Vater gleichfalls ein angesehener Medizinalrat gewesen war. Allerdings hatte ihr das Leben schon ein paar dicke Stöcke zwischen die Beine geworfen. Wenn Fanny daran dachte, was Elsa alles durchgemacht hatte, zog sich ihr das Herz zusammen. Doch ganz anders als sie selbst, blühte Elsa mit jedem Semester ein kleines bisschen mehr auf, denn endlich konnte sie das tun, wofür sie geboren war. Besonders seit sie als Erste der drei Freundinnen das Physikum bestanden hatte, loderten die hellbraunen Kränze in ihren sonst blassblauen riesigen Augen an manchen Tagen wie Flammen. Dann wirkte Elsa mit ihrer zierlichen Figur nicht mehr zerbrechlich wie hauchdünnes Glas. Dann hüpften ihre braunen Locken wie Sprungfedern um das schmale Gesicht und verwandelten sie in einen anderen Menschen. Das mochte Fanny sehr.
Der Hocker quietschte, als sie sich zum Fenster umdrehte. Aus purer Gewohnheit öffnete sie die Schublade direkt unterhalb der Tischplatte und zog sie heraus. Alles war wie üblich fein säuberlich einsortiert. Jedes Stück lag in seinem durch Leisten abgetrennten Viertel. Das Mikroskop, das Zeichnungsheft und die Stifte ebenso wie das mikroskopische Besteck mit Objekt- und Deckgläsern und die Leinenlappen für die Reinigung. In der Pathologie herrschte penible Ordnung.
Wenig später enterte Institutsleiter Otto von Bollinger den Saal, dicht gefolgt vom dritten Assistenten für pathologische Anatomie, Doktor Brieseck. Das übliche Prozedere zu Semesterbeginn nahm seinen Lauf. Akademisches Getrampel und Begrüßung. Erläuterungen und Ermahnungen. Vehementes Einfordern von Fleiß und Akribie. Blablabla und Pipapo. Fanny hatte das alles schon gehört. Wenn sie nicht durchs Physikum gerasselt wäre, weil der Examinator im Fach Botanik ihr ein »Ungenügend« attestierte, obwohl er entgegen der geltenden Prüfungsordnung - und nur bei ihr - auch Pflanzen abgefragt hatte, die für die Medizin nicht relevant waren, hätte sie längst keine Vorlesungen mehr besucht. So aber trieb sie die Angst um, den Unmut der Professoren mit ihrer Abwesenheit noch mehr auf sich zu ziehen.
Sicherheitshalber bemühte sie sich deshalb um einen Gesichtsausdruck, der brennendes Interesse suggerierte. Fanny hatte von Bollinger zu ihren Anton-Zeiten zwar als angenehmen akademischen Lehrer mit feinem Humor und auch als wohlwollenden Prüfer erlebt, aber man konnte nie wissen. Gerade erläuterte er anhand der Schautafeln zwischen den beiden Eingangstüren krankhafte Veränderungen des Gehirns.
Oha, was tat Doktor Brieseck denn da? Fanny lehnte sich nach vorn. Der Assistent legte einen Objektträger in das Mikroskop, das sich auf einer Schiene von Platz zu Platz schieben ließ. So konnte jeder Student reihum ein besonders interessantes oder lehrreiches Präparat begutachten, und wer sich im Stande sah, eine Einschätzung abzugeben, womit sie es zu tun hatten, war dazu herzlich eingeladen.
Fannys Alter Ego Anton Paintner hatte sich stets im Stande und eingeladen gefühlt. Trotzdem nahm sie sich fest vor, den Mund zu halten, sollte sie das Geheimnis entschlüsseln.
Von Bollinger dozierte indes frisch drauflos, was Fanny nicht weiter interessierte, weil sie alles schon einmal gehört hatte. Stattdessen verfolgte sie die Vorgänge an den Tischen und versuchte an der Körperhaltung zu erraten, ob jemand etwas mit der Gewebescheibe anfangen konnte. Noch tat sich niemand hervor, auch Elsa und Lulu schoben das Mikroskop kopfschüttelnd weiter. Erst Elsas Nebenmann wandte sich nach einem ausgiebigen Blick durch alle vier am Revolver beweglichen Objektive und recht willkürlichem Herumdrehen an den Fein- und Grobtriebrädern nach vorn und hob die Hand.
»Ah!« Von Bollinger klatschte in die Hände. »Ein Sehender unter den Blinden. Ich bin hocherfreut. Name?«
Der mittelgroße, unter dem offenen Laborkittel auffällig gut gekleidete junge Mann sprang von seinem Hocker auf und salutierte. »Schneiderbauer. Gottfried Schneiderbauer«, rief er auch schon zackig.
»Ein Kadettenschüler, soso.« Von Bollinger schmunzelte. »Rühren!«
Alle lachten. Schneiderbauer lief rot an, und seine noch immer an der rechten Schläfe ruhende Hand fiel wie eine Guillotine. Fanny kannte den jungen Mann flüchtig, er gehörte zu jenen Studenten, die ihren Schwerpunkt eher in den Gasthäusern der Stadt sahen als in den Vorlesungssälen. Ein Luftikus und Aufschneider.
»Na schön, dann erlösen Sie uns. Wir sind aufs Äußerste gespannt. Was ist Ihnen aufgefallen?«
Der Adamsapfel unter dem eingeknüpften blütenweißen Hemdkragen fuhr auf und ab. Studiosus Schneiderbauer zauderte, denn sogar die Mutigsten und von sich Eingenommenen wurden ab und an blass, wenn sich das Auge eines Professors erstmals auf sie allein richtete. Doch das...
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