Schweitzer Fachinformationen
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gegen zehn Uhr am Abend | Wohnung der Geschwister Paintner, Amalienstraße 13/II
Fanny stand in ihrer Kammer am Fenster und sah auf die Straße hinunter. Vis à vis im Cafè Stefanie drängten sich die Gäste dicht an dicht. Studenten, Maler, Schriftsteller. Auch aus dem Ausland. Russen, Ungarn, Balkanslawen. Ein Haufen Schlawiner, würde Fannys Vater sagen. Pass bloß auf!
Langsam fuhr sie sich mit dem Daumen über die Lippen. Dieser Gendarm ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ob Pechmarie in ein paar Tagen wieder mit ihm auf Patrouille gehen durfte? Fanny hoffte es, denn die Sorge Schiffers um sein Dienstpferd hatte sie sehr berührt. Sie hätte gerne gewusst, wie es um die Stute stand, und hielt deshalb seit dieser unglückseligen Begegnung an Heiligabend ständig Ausschau nach Ferdl, wie sie Schiffer insgeheim nannte. Mit ihren Einkäufen war sie vom Viktualienmarkt sogar ein paarmal vor seinem Dienstlokal im Tal auf und ab gelaufen, bis ihr das Stolzieren auf der Maximilianstraße und die peinlichen Missverständnisse danach wieder in den Sinn gekommen waren.
»Ich dumme Gans.«
Sie öffnete einen Flügel des Fensters. Kalte Winterluft strömte herein, mit ihr Stimmen und Heiterkeit, denn allmählich verlegte sich das Treiben im Café Größenwahn, wie die Leute das Stefanie auch nannten, hinaus auf die Straße. Die Schwabinger Bohème gab sich wieder einmal die Klinke in die Hand. Niemand wollte etwas verpassen, alle mussten sie mittendrin sein. Da unten pulsierte das Leben.
Heute, an Silvester, störte Fanny sich nicht groß daran - im Gegenteil -, aber wenn die notorischen Trunkenbolde sie mehrmals pro Woche zu fortgeschrittener Stunde aus dem Schlaf grölten, hätte sie ihnen liebend gerne sämtliche Nachttöpfe der Stadt vor die Füße geschleudert.
Wieso hatte ihr Bruder ausgerechnet an der Ecke Amalien-/Theresienstraße eine Wohnung anmieten müssen? In direkter Nachbarschaft zu einem der wenigen Lokale in München, die bis drei Uhr morgens geöffnet sein durften. Fanny brauchte ihren Schlaf dringend, denn sie arbeitete von früh bis spät, kochte, putzte, nähte, übersetzte. Manchmal bis ihr die Augen zufielen.
Die Klänge einer Handharmonika ertönten, eine helle Frauenstimme setzte ein. Fanny lehnte sich über das Sims, stützte das Gesicht in die Hände und beobachtete, wie die ersten Paare zusammenfanden.
Der Rhythmus der Musik und das Klacken der Absätze auf dem Pflaster steckten an, Fanny wiegte den Kopf im Takt. Bald würden die Glocken läuten und die Gläser klingen. Sollte sie hinuntergehen und mitfeiern? Sie kannte zwar niemanden, aber .
Ferner Hufschlag drang an ihr Ohr, versetzte ihr Herz sofort in helle Aufregung. Konnte das Ferdl Schiffer sein? Ihre Adresse hatte er aufgeschrieben. Direkt nach ihrer Festnahme vor dem Haunerschen Kinderspital. Und nach dem Abstecher in die Schwere-Reiter-Kaserne hatte er sie angelächelt. Eindeutig.
Der Hufschlag kam näher.
Nein. Es war unmöglich.
Fanny stellte sich auf die Zehenspitzen, beugte sich so weit hinaus, wie es ging, hörte ein zweites Pferd und das Rumpeln von Rädern. Nur ein Fiaker. Die Enttäuschung ließ sie auf die Fersen zurückkippen. Das Gespann hielt direkt vor dem Café, und ein stattlicher, gut gekleideter Mann sprang heraus. Ihr Bruder Anton!
Er verbeugte sich vor der feiernden Meute, verteilte reihum - wie ein König Almosen an die Armen - einige grüßende Worte, entriss eine junge Frau den Händen ihres Tanzpartners, wirbelte sie ein paarmal im Kreis herum und ging dann zum Kutscher, um ihn zu bezahlen.
Jetzt hätte Fanny am liebsten wirklich einen Nachttopf auf die Straße geschleudert. Für die Fahrt zahlte der Bruder, wenn er direkt vom Bahnhof kam, zwei Mark, plus zwanzig Pfennige Wartegeld. Die Beleuchtung kostete nachts zehn Pfennige extra, ab zehn Uhr sogar die doppelte Taxe. Die Tram am Tage oder wenigstens ein Einspänner hätte es auch getan.
Fanny biss die Zähne zusammen. Anton warf das Geld zum Fenster hinaus. So war es immer. Womöglich hatte er mit Änny, die noch im Sitz verharrte, irgendwo fürstlich zu Abend gespeist, wohingegen sie sich über die Feiertage von Buchweizengrütze und Brot ernährt hatte, um die Haushaltskasse zu schonen.
Am liebsten hätte sie den Bruder auf der Stelle erwürgt. Erst recht als sie die vielen Koffer sah, die er gerade abstellte. Noch mal zwanzig Pfennige pro Stück! Formvollendet verbeugte er sich, öffnete den Schlag und bot Fräulein Geissler-Lee, die sich graziös aus ihrem Sitz erhob und nun ihrerseits - als wäre sie die Königin von Pisa - winkte und Luftküsschen verteilte, die Hand.
Klatschten die Leute wirklich Beifall? Für dieses Frauenzimmer? Wenn stimmte, was Schutzmann Schiffer behauptete, dann . Fanny hatte zwar ein Weilchen gebraucht, bis ihr aufgegangen war, was mit stadtbekannt gemeint war, aber . Sie sah heute wieder umwerfend aus.
»Schau nur, deine kleine Schwester!« Änny winkte herauf.
Fanny schlug sich den Ellbogen an der Kommode blutig und fiel über den Frisiertisch, als sie sich vom Fenster abstieß und zurückwich. Auf keinen Fall wollte sie den Jahreswechsel in Gesellschaft dieses Frauenzimmers begehen. Und auch nicht mit ihrem Bruder. Diesem verräterischen Scheusal.
zur selben Zeit | Kinderspital, Lindwurmstraße 4
Elsas Arme schmerzten. Seit den frühen Abendstunden trug sie die gut ein Jahr alte Clara durch das Isolierzimmer. Der Atem des Kindes ging pfeifend, es war unruhig und ängstlich, und der stetig austretende Dampf aus dem Bronchitiskessel verschaffte ihr kaum noch Linderung.
Behutsam befühlte Elsa die Stirn des Mädchens. Die Kleine war vollkommen erschöpft, der Kopf lag schwer an ihrer Schulter. Hoffentlich kam Schwester Rosalia bald zurück.
Vorsichtig setzte Elsa sich an den Tisch, rückte die Patientin auf dem Schoß zurecht und strich mit einem Löffel warmen Wassers ganz sacht an den verkrusteten Lippen entlang. Keine Reaktion. Nicht die geringste. Elsa ließ die Hand sinken, prüfte den Sitz des Halswickels. Anfänglich hatten die feuchten Umschläge dem Kind das Atmen noch erleichtert, aber jetzt kam es ihr vor, als würden die Tücher alles nur noch schlimmer machen. Sie nahm sie ab, versuchte Clara ein weiteres Mal etwas Flüssigkeit einzuflößen. Vergebens. Das Wasser lief nutzlos über Kinn und Hals abwärts.
Auch sie selbst war sich in den vergangenen Tagen nutzlos vorgekommen. Sie kannte die meisten medizinischen Begriffe, konnte wissenschaftliche Schriften - sogar in lateinischer und griechischer Sprache - lesen und verstehen, aber wenn es darum ging, die einfachsten Arbeiten in der Küche zu verrichten, kam sie schnell an ihre Grenzen.
Die Barmherzigen Schwestern, von denen sie als Hilfskraft ihre Anweisungen bekam, waren kompetent und gut ausgebildet. Sie wussten genauestens über Kinderkrankenpflege Bescheid, konnten Verbände anlegen, Medizin verabreichen, kochen und die Wäsche machen. Sie sorgten für Sauberkeit und Behaglichkeit und waren in all ihren Aufgaben schier unermüdlich. Elsa wusste oft am frühen Nachmittag schon nicht mehr, wie sie noch ein Bein vor das andere setzen sollte - und das lag nicht an ihrem Fuß, denn der schmerzte längst nicht mehr.
Dabei waren ihre Dienstzeiten viel kürzer als die der Schwestern, die fast rund um die Uhr im Einsatz waren und nur zum Schlafen und während der Gebetszeiten die Hände in den Schoß legten. Sogar Elsas Arbeit als Dienstmädchen war gegen die Schufterei im Spital ein Zuckerschlecken gewesen, und vermutlich lag es auch an der ständigen Überforderung, dass sie zu ungeschickt war, die Bettpfannen gründlich genug zu reinigen, die Laken zu glätten, die Betten ordentlich zu machen oder das Geschirr sauber zu spülen. Ihr fielen beim Abtrocknen Tassen aus der Hand, sie zerbrach Milchfläschchen, und wenn einer der Säuglinge weinte, bekam sie Schweißausbrüche und wusste nicht, wie sie ihn beruhigen sollte.
Dass man sie vor knapp zwei Stunden zu diesem Kind ins Separatzimmer zitiert hatte, lag einzig und allein daran, dass einige Schwestern sich im Laufe des Tages eine schlimme Bauchgrippe eingefangen hatten und die verbliebenen mit der Versorgung der Kranken nicht hinterherkamen. Außerdem waren die Vorkehrungen zum Betreten von Isolierstationen und -zimmern besonders zeitaufwendig. Elsa hatte die Kleine eigentlich nur auf den Arm nehmen und ein bisschen herumtragen sollen, um ihr das Atmen zu erleichtern, doch die Sache gefiel ihr ganz und gar nicht.
Die Tür ging auf, und endlich fädelte Schwester Rosalia ihre Flügelhaube durch den Türspalt. »Doktor Wittmann wird erst in zwei Stunden von seiner Silvestergesellschaft zurückerwartet, aber Doktor Wollenweber müsste jede Sekunde hier sein. Er kleidet sich nur noch schnell an«, flüsterte sie.
Es ging auf Mitternacht zu, trotzdem sollte der diensthabende Arzt jederzeit einsatzfähig sein - auch an Silvester. Das Mädchen wurde von Minute zu Minute schwächer, Elsa hatte kein gutes Gefühl, und die Stimme ihres Vaters drang mahnend an ihr Ohr: Wenn du zu der Überzeugung gelangst, dass die operative Behebung der Atemnot bei einer Kehlkopfdiphtherie unausweichlich wird, dann warte nicht bis zur völligen Erschöpfung. Tu es!
Elsa wusste bis heute nicht, ob die sonntäglichen Hausbesuche ihres Vaters bei den armen Leuten...
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