Schweitzer Fachinformationen
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Anfang Sommer 1968 wollte meine einzige Hose endgültig nicht mehr bis zu den Knöcheln reichen und ließ meine bloßen Waden sehen. Zudem war der Hosenboden so abgewetzt, dass ich mich vorsichtig hinsetzen musste und beim Aufstehen immer prüfend darüberfuhr, ob er noch ganz war. Geld für ein neue Hose hatte ich nicht. Mein Vater hatte mir trotz meiner Bitte keins gegeben, die Hose würde es noch tun, ich solle eben pfleglich damit umgehen. Ich hatte also keine Wahl und auch keine Zeit zu verlieren. Ich musste mir selbst was einfallen lassen.
Spätnachts nahm ich die Straßenbahn über die Woronzow-Brücke und stieg an der katholischen Kirche aus. Von dort bis zum Siebten Krankenhaus ließ ich keinen einzigen Innenhof aus: Ich ging überall rein und wo immer Wäsche hing, musterte ich sie aufmerksam, aber eine Hose konnte ich nirgends entdecken.
Das wunderte mich. Was ist nur los? Wo sind die Männer alle hin? Oder brauchen die keine Hosen mehr?
So weit von zuhause weg auf die Suche war ich deshalb gegangen, weil es zu riskant gewesen wäre, in meinem Viertel eine Hose zu stehlen. Denn was hätte ich machen sollen, wenn ihr Besitzer sie erkannt hätte? Ich hätte nur wieder ohne Hosen dagestanden.
Beim Krankenhaus ruhte ich mich ein wenig aus. In meiner Hemdtasche hatte ich noch zwei schöne Kippen; ich rauchte beide auf. Dann ging ich rechts den Hang hinauf und trat durch einen hohen Bogengang in einen kleinen Innenhof. Dort stand ein fünfstöckiges altes Backsteingebäude. In keinem der Fenster brannte Licht, nur über dem Eingang flackerte eine schmutzige Lampe.
Auf einem Balkon des obersten Stocks machte ich in der Dunkelheit die Konturen einer Hose an einer Wäscheleine aus und freute mich. Hinaufzukommen wäre nicht einfach, aber ich überlegte nicht mehr lange, zog die Schuhe aus, ließ sie unten an der Mauer und begann vorsichtig das Regenrohr hochzuklettern, versuchte keinen Lärm dabei zu machen.
Ich war beim zweiten Stockwerk angelangt, als mein zerschlissener Hosenboden platzte und in Fetzen ging. Unterwäsche trug ich nicht und die ohnehin kühle Nacht machte sich empfindlich bemerkbar. Zum Glück, dachte ich, ist mir so was nicht bei Tag passiert.
Endlich auf der Höhe des Balkons der obersten Etage angekommen, stockte mir der Atem: Aus der Nähe war klar erkennbar, dass an der Leine eine Jeans trocknete. Die waren damals in Tbilissi eine große Seltenheit; Jeansträger waren nur vereinzelt anzutreffen. Und erst seit kurzem waren Jeans im jüdischen Viertel für teures Geld zu haben.
Ich langte nach dem Fenstersims, suchte zwischen den Backsteinen nach einem festen Griff für meine Finger und einer Stelle, wo ich mich auf Zehenspitzen halten konnte, und erreichte so, mich an der Mauer entlanghangelnd, den Balkon. Ich schwang mich über das Geländer und kauerte mich einen Moment hin.
Es gibt Augenblicke, in denen Stille mit nichts zu vergleichen ist.
Vorsichtig löste ich die noch feuchte Jeans von der Leine, dachte aber gar nicht daran sie anzuziehen, sondern knotete sie mir um die Taille und machte mich auf den Rückweg. Ich kam sicher unten an, schlüpfte wieder in meine Schuhe, verließ den Hof durch den Bogengang und spurtete die Straße entlang. Straßenlampen mied ich und hielt mich an die dunklen Stellen.
Es dämmerte schon fast, als ich unser Viertel hochging und am Eingang des Parks ein wenig verschnaufte. Die Nacht war nicht schlecht gelaufen. Ich fühlte mich bereits als reicher Mann. Wen ich jetzt unbedingt sehen musste, war Chaim. Ich hoffte inständig, dass er zuhause war.
Wir wohnten in benachbarten Häusern. Beide vierstöckig und mit dem gleichen dicken Blech gedeckt. Wir hatten einen großen Gemeinschaftsinnenhof, in dem wir als Kinder Fußball spielten und wo die Welt für mich ihren eigentlichen Anfang hatte.
Im Unterschied zu Chaims Haus hatte das unsere vom Innenhof bis zum Dachboden eine Wendeltreppe. Diese Treppe ging ich hoch, durchquerte den Dachboden, stieg aufs Dach und schaute über die Stadt. Am Horizont gegen das Tbilisser Meer färbte sich der sonst noch dunkle Himmel rosig. Am Fuß des Arsenalbergs rollte ein langer Güterzug in Richtung Aserbaidschan. Das Räderrattern war bis zu uns herüber zu hören.
Ich wechselte auf Chaims Hausdach und blieb beim Taubenhaus stehen. Die Vögel begannen zu gurren und zu rucken. Der Taubenschlag mit den insgesamt dreißig Tauben gehörte Chaim und mir gemeinsam. Es war ein wirklich schöner Anblick, wenn sie alle auf einmal in den Himmel stiegen und über dem Viertel kreisten.
Innegehalten hatte ich deshalb, weil ich im obersten Stockwerk des gegenüberliegenden Hauses hinter einem sonst dunklen Fenster in sekundenlang schwach aufglimmendem Licht Tscharlika erkannte, der sich eine Zigarette anzündete. Er war nicht allein: Neben ihm hielt ein kahlköpfiger Mann einen Fotoapparat auf Chaims Fenster gerichtet. Scheißspitzel!, dachte ich. Sicherheitshalber duckte ich mich hinter den Taubenschlag und zog mich auf die Hofseite zurück.
Dieser Tscharlika war neu zugezogen und kaum zwei Monate in unserem Viertel; er gab sich als Eisenbahningenieur aus und setzte, noch bevor du ihm guten Tag sagen konntest, immer schon ein Lächeln auf. »Das ist mal ein anständiger Mann!«, hatte mein Vater gesagt, und zwar deswegen, weil er ihm fürs Stiefelflicken statt der fünf Rubel sieben bezahlt hatte.
Ich ging das Dach entlang und spähte in den Innenhof. Niemand zu sehen. Ein Fensterchen von Chaims Glasveranda stand offen. Ich hangelte mich an der Regenrinne zu dem Fenster, kroch hinein und ließ mich an der Fensterfront zu Boden, wo ich eine Weile still verharrte, bevor ich auf Zehenspitzen auf eine halboffene Tür zuging. Dahinter hörte ich Leute reden.
Ich lugte vorsichtig in die Wohnung. Am Tisch saßen Chaims Onkel zusammen mit einem älteren Mann und tranken Tee. Das war alles, sonst passierte nichts, und ich war ein wenig enttäuscht.
Warum hatten die beiden Scheißkerle mit dem Fotoapparat am Fenster gestanden?, fragte ich mich und blieb, für alle Fälle, weiter eine Weile lauschend stehen, aber ich hörte nichts Weltbewegendes. Sie redeten über die Preise von frisch eingetroffenem Gemüse.
Ich trat den Rückzug an, drehte mich um und schreckte zurück. Vor mir stand ein großgewachsener, bärtiger Mann und lächelte mich an. Wie ein so großer Mann sich so leise anschleichen konnte, war mir ein Rätsel.
Ich lächelte ihm ebenfalls zu und sagte augenzwinkernd: »Ich bin Chaims Kumpel.«
»Weiß ich. Du heißt Dschude und bist der Sohn von Gogia, dem Schuhmacher.«
Obwohl ich den Mann zum ersten Mal sah, wusste er nicht nur meinen Namen, sondern auch den meines Vaters und dessen Beruf dazu!
»Und wer sind Sie?«, fragte ich.
»Ein Verwandter von Chaim«, erwiderte er und deutete dann auf die Jeans. »Die lässt sich gut verkaufen.«
»Wollen Sie sie nehmen?«
»Nein, mit Verkauf hab ich nichts zu tun.«
Chaims jüngster Onkel kam an die Tür. Dieser mochte mich nicht; er hielt mich für einen Unglücksvogel und er machte ein grimmiges Gesicht, als er mich hinter dem Bärtigen erblickte.
»Wo kommt der denn her?«, fragte er.
»Er ist vor zwei Minuten durchs Fenster geklettert.«
Chaims Onkel wurde wütend. »In diesem Haus wohnt nicht nur Chaim allein.«
Ich zog den Kopf ein und steuerte auf Chaims Zimmertür zu.
»Verzieh dich!«, rief er mir nach.
Ich tat, als hätte ich nicht gehört. Ging die verglaste Veranda entlang und öffnete die massive Eichentür. Chaim schlief auf dem Rücken ausgestreckt in seinem Eisenbett; seine Füße schauten unter der dünnen Bettdecke hervor. Als ich ihn an den Sohlen kitzelte, erwachte er sofort und hob den Kopf.
»Ich bin's.« Ich machte Licht, knotete die Jeans um meine Taille auf und zeigte sie ihm.
»Prima«, sagte er anerkennend, um dann den Blick auf meine zerrissene Hose zu heften. »Brauchst du eine Hose?« Er hatte schon begriffen, warum ich da war.
»Ja«, sagte ich.
Er überlegte. »Also gut, nimm meine. Aber um drei Uhr musst du sie mir wiederbringen.«
Es war nämlich so, dass auch Chaim bloß eine einzige Hose besaß.
»Du hast sie eher wieder«, versprach ich.
Während ich die Hose wechselte, erzählte ich ihm, was ich vom Dach aus gesehen hatte. Er hörte mir aufmerksam zu, kniff dann die Augen zusammen und begann über Tscharlika herzuziehen.
»Was glaubst du, warum die dich ausspähen?«
»Frag meine Onkel, die werden's dir sagen. Sie haben nichts zu verheimlichen.«
Mir kam der Verdacht, dass das Ganze für ihn überhaupt nichts Neues war.
»Danke für die...
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