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Als Corona die Zerbrechlichkeit der Lieferketten aufzeigte, war bald von »De-Globalisierung« die Rede. Aus dem Aufstieg Chinas werden protektionistische Forderungen abgeleitet. Und angesichts zunehmender internationaler Spannungen sprechen viele von einer Rückkehr der Geopolitik.
Daraus zu schließen, die neoliberale Globalisierung sei passé und der (National-)Staat wieder da, ist aus Sicht Milan Babics jedoch zu einfach. Staaten verabschieden sich nicht aus transnationalen Netzwerken. Stattdessen erleben wir eine Regionalisierung, die auch wirtschaftlichen Imperativen folgt. Und im Kampf um globale Infrastrukturen sind Unternehmen weiterhin zentrale Akteure. Wer die neu entstehende Weltordnung begreifen will, so Babic, muss sie daher aus der Perspektive der Geoökonomie betrachten.
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In seiner Kleinen Geschichte des Neoliberalismus beschreibt der marxistische Geograf David Harvey denselben als »Doktrin« oder auch als »Theorie«.1 Als mächtiges Gedankengebäude, das die Welt ab den 1980er Jahren erfasste, beeinflusste er laut Harvey beispielsweise die Zinspolitik der amerikanischen Zentralbank unter ihrem Präsidenten Paul Volcker, den erbitterten Kampf Margaret Thatchers gegen britische Gewerkschaften sowie die Öffnungspolitik Deng Xiaopings. Dieses Verständnis des Neoliberalismus setzte sich zu Beginn der 2000er Jahre in den Sozialwissenschaften durch. Viele begriffen ihn als ideologisch-theoretisches Gerüst, seine Verfechter würden im Namen von Freiheit und Marktwirtschaft die Errungenschaften moderner Sozialstaaten zurückzudrehen versuchen und dazu »Klassenkampf von oben« betreiben. Ein wichtiges Element dieses Diskurses war die Ausdehnung des Begriffs »neoliberal« auf zahlreiche Gesellschaftsbereiche. So setzte in den 2000er Jahren eine Aufwertung des Neoliberalismus ein, den viele Autoren als sämtliche gesellschaftliche Realität durchdringend verstanden.2 Irgendwann war nicht mehr nur die Wirtschaft 30oder die Politik »neoliberal«, sondern auch die Kultur, die Zivilgesellschaft, ja sogar der Sport.3
Um die globale Ordnung zu verstehen, die sich in den frühen 1980er Jahren herauszubilden begann, muss die Bezeichnung »neoliberal« präziser und enger gefasst werden, als es im allgemeinen Diskurs üblich ist. In den letzten Jahren ist in der politökonomischen und historischen Forschung eine etwas nuanciertere Diskussion in Gang gekommen. »Neoliberalismus« wird dort nicht als catch-all concept verwendet, sondern hat durch die Arbeiten von Thomas Biebricher, Quinn Slobodian oder Philipp Ther eine Revision als staats- und machtpolitisches Konzept erfahren.4 Diese Beiträge betonen die Rolle des Staates in der Durchsetzung neoliberaler Politikinhalte. Die Marktfreiheit, die in gängigen Beschreibungen des Neoliberalismus eine zentrale Rolle spielt, musste durch politische Kämpfe um die Macht im Staat errungen werden. Der Neoliberalismus ist aus dieser Sicht eher eine politische Theorie als ein rein ökonomisches Modell oder bare Ideologie. Diese Einsichten erhöhten die empirische Anwendbarkeit des Begriffs (sowohl als Substantiv als auch als Adjektiv) immens. »Neoliberale Globalisierung« verstehe ich hier als Transformationsprozess, der die internationale Nachkriegswirtschaft in eine transnationale Weltwirtschaft überführte und im Laufe dessen eine neoliberale Ordnung hervorbrachte.
Die Eckpfeiler dieses Prozesses waren, erstens, die Ausdehnung und Transnationalisierung von Finanz31märkten und -logiken bis in weite Teile industrialisierter Gesellschaften hinein.5 Das globale Finanzwesen spielte zwar auch in vorherigen Phasen wirtschaftlicher Integration während der niederländischen und britischen Vorherrschaft im 17. bzw. 19. Jahrhundert eine Rolle. Im 20. Jahrhundert wurde es dann aber zur treibenden Kraft der neoliberalen Globalisierung. Neben dem neuen Leitprinzip des Shareholder-Value für die Unternehmensführung und dem Anwachsen von Großbanken und institutionellen Anlegern zu systemrelevanten Akteuren war die fiskalische Disziplinierung von Bürgern und Staaten ein Kernelement. Für viele Bevölkerungen bedeutete dies vor allem: Der Arbeitsmarkt und der Wohlfahrtsstaat wurden nach den Imperativen der »Wettbewerbsfähigkeit« ganzer Ökonomien umgestaltet.6
Begründet wurden diese Maßnahmen insbesondere mit der »Scheu« und der Mobilität des Kapitals. In einer globalisierten Welt konnten Anleger und andere Finanzmarktakteure relativ einfach und günstig ihre Investitionen in die profitabelsten Unternehmen und Länder verschieben. Daraus ergab sich eine disziplinierende Wirkung auf Staaten und Regierungen: Wirtschaftspolitik wurde zu Angebots- und Standortpolitik. Staatsschulden reduzieren, Lohnzurückhaltung üben, die Staatsquote senken und Unternehmen möglichst gering besteuern, all das diente der Anpassung an die neoliberale Globalisierung.7 Noch während der sogenannten Euro- und Staatsschuldenkrise von 2010 bis 322015 trieb das Schreckgespenst des »Vertrauensentzugs« durch die Finanzmärkte und einer negativen Beurteilung durch die führenden Ratingagenturen die Politik vor sich her. Mit dem Verweis auf die Herabstufung der Kreditwürdigkeit von »Krisenländern« wie etwa Griechenland wurden drastische Sparprogramme oft als notwendig und »alternativlos« gerechtfertigt.8 Wie mächtig einzelne Finanzmarktakteure geworden waren, zeigte sich unter anderem auch daran, dass führende europäische Politiker die amerikanischen Ratingagenturen heftig für ihren Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in der EU kritisierten, sich ihren Bewertungslogiken letztlich aber beugten.9
Diese hervorgehobene Rolle von Finanzmärkten wurde darüber hinaus durch den zweiten Eckpfeiler der neoliberalen Globalisierung bestärkt: die Deregulierung und Flexibilisierung weiter Teile des wirtschaftlichen Lebens. Um der Stagnation der späten 1960er und 1970er Jahre Herr zu werden, trieben neoliberal gesinnte Politiker die Entfesselung von Marktkräften in vielen Bereichen voran. So wurden etwa Schranken für den Kapitalverkehr nach und nach abgebaut und die Macht multinationaler Finanzunternehmen somit schrittweise erhöht. Die finanzgetriebene Deregulierungsagenda fand in der Aufhebung des Glass-Steagall Act in den Vereinigten Staaten durch Präsident Clinton ihren Höhepunkt. Das 1933 während der Großen Depression erlassene Gesetz sah eine strikte Trennung zwischen privaten Kreditgeschäften und spekulativem 33Investmentbanking vor, um die Ersparnisse der Kunden zu schützen. Seit 1999 ist es US-Banken nun wieder erlaubt, beides unter demselben Dach zu betreiben. Diese Entscheidung war eine der Ursachen für die Weltfinanzkrise ab 2008.
Die Deregulierungsagenda betraf aber auch andere Teile der Wirtschaft wie etwa die Arbeits-, Handels- und Investitionspolitik. Flexibilisierung spielte hierbei eine wichtige ergänzende Rolle. So profitierten Unternehmen von deregulierten Arbeitsmärkten, da sie flexibler auf Nachfrageschwankungen und andere wirtschaftliche Dynamiken reagieren konnten. Auf Seiten der Politik wurden Konzepte zur Flexibilisierung von Arbeitsmärkten und dem Sozialstaat entwickelt. Man denke an die von der rot-grünen Bundesregierung 2003 beschlossene Agenda 2010 und den Umbau des Arbeitslosengeldes sowie der sozialen Sicherungssysteme durch die sogenannten Hartz-Reformen 2005. Auch der »Flexicurity«-Ansatz, der 2007 zum offiziellen Programm der Europäischen Union wurde, folgte diesem Trend.10 Dieser Aspekt der neoliberalen Globalisierung betraf also sowohl die nationalstaatliche als auch die inter- und transnationale Ebene globaler Politikgestaltung.
Ein dritter Eckpfeiler, der für unsere heutige Situation von zentraler Bedeutung ist, sind genuin transnationale ökonomische Verflechtungen und Opportunitätsräume - also neue Möglichkeiten zur Kapitalverwertung. Mit dem Aufkommen neoliberaler und monetaristischer 34Politiken Anfang der 1980er Jahre wurden die Schranken für den internationalen Kapital- und Warenverkehr gelockert. Diese Reduktion von z.??B. Einfuhrzöllen oder Kapitalkontrollen wurde begleitet vom Aufbau inter- und transnationaler Institutionen und Regeln, die den steigenden grenzüberschreitenden Kapitalverkehr erleichtern sollten. In den fünf Jahren zwischen 1976 und 1981 verdreifachte sich das Volumen ausländischer Direktinvestitionen. Im selben Zeitraum verdreizehnfachten sich die Kapitalzuflüsse aus Portfolioinvestitionen auf zwischenzeitlich 15 Milliarden US-Dollar (siehe Abbildung 1). Andere Indikatoren wie Handelsvolumina zeigten in dieselbe Richtung.
Abbildung 1: Ausländische Direktinvestitionen und Portfolioinvestitionen 1970-1982 (in Milliarden US-Dollar).
Quelle:...
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