Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Isaak Babels Tagebuch 1920 ist Zeugnis eines Krieges, der, obwohl sein Ausgang das Schicksal Europas entscheidend prägen sollte, in westlichen Geschichtsbüchern nur mehr als Fußnote behandelt wird. Heute hallt sein Echo lauter wider denn je.
»Wie wir die Freiheit bringen - schrecklich.«
1
Isaak Babel war fünfundzwanzig und als Schriftsteller den wenigsten bekannt, als er sich im Frühjahr 1920 aus Odessa als Kriegsberichterstatter an die Front des Russisch-Polnischen Krieges begab. Von diesem Krieg wüssten wir heute kaum mehr etwas, hätte Babel ihn nicht in Erzählungen geschildert, die ihn, als sie 1926 unter dem Titel Die Reiterarmee gesammelt erschienen, mit einem Schlage weltberühmt machten.
Der Russisch-Polnische Krieg, in westlichen Geschichtswerken eine Fußnote, wird auch in den sowjetischen Annalen nur am Rande behandelt, meist peinlich umgangen - sehr im Gegensatz zu seinem historischen Stellenwert, bedeutete er doch nach dem Scheitern der deutschen Novemberrevolution das Ende der Doktrin der Weltrevolution wie auch das der großpolnischen Träume Marschall Pilsudskis.
Dieser Krieg, offiziell nie erklärt, sondern den Russen von Pilsudski aufgezwungen, begann als klassischer Eroberungsfeldzug - am 8. Mai 1920 rückten polnische Truppen in Kiew ein - und fand zu einem Zeitpunkt statt, der günstig schien, Gebietsansprüche Polens auf die Ukraine und damit Großpolen »von Meer zu Meer« militärisch durchzusetzen. In Russland hatte die Rote Armee unter Trockijs Oberkommando Ende 1919 zwar alle wesentlichen Kräfte der Konterrevolution zerschlagen, doch das Land war zerstört, die Wirtschaft lag darnieder, und nicht nur die Bevölkerung war der Kriege müde. Kriegsmüde war auch die 1. Rote Reiterarmee des Kosakengenerals Budënnyj, die noch Anfang 1920 die Weißen Truppen unter General Denikin bis an den Kaukasus verfolgt hatte und nun, im Frühjahr 1920, nach einem Marsch von über 1000 Werst an die Südwestfront geworfen worden war, um den polnischen Angriff zurückzuschlagen.
Geführt wurde dieser Krieg mit der Erbarmungslosigkeit eines Glaubenskrieges. Verstand sich Pilsudski als östlichster Vorposten gegen den Bolschewismus, darin vom Westen, vor allem Frankreich, nach Kräften unterstützt, so war russischerseits der Gedanke der Weltrevolution noch jedem präsent. »Wir kommen«, zitiert Babel 1920 einen Armeebefehl, »nicht in ein erobertes Land, das Land gehört den Arbeitern und Bauern Galiziens und nur ihnen, wir kommen, um ihnen zu helfen, die Rätemacht zu errichten.« Dass es nicht dazu kam, hängt unmittelbar mit Verlauf und Ausgang jenes »Krieges mit den Weißpolen« zusammen; er endete trotz einer Reihe von Siegen - die Rote Armee vertrieb die Polen schon im Juni aus Kiew und stand zwei Monate später vor den Toren Warschaus - mit einer verheerenden Niederlage. Und verantwortlich für diese Niederlage war kein anderer als Iosif Stalin.
Stalin war 1920 Kriegskommissar, also der politisch ranghöchste Funktionär an der Südwestfront, und verfolgte das ehrgeizige Ziel, das schon im Ersten Weltkrieg heftig umkämpfte Lemberg einzunehmen - statt, wie vom Oberkommando befohlen, der Südflanke General Tuchacevskijs vor Warschau zu Hilfe zu kommen. Er führte, wie Trockij es später formulierte, seinen »Privatkrieg«. So attackierten Budënnyjs Kosaken Lemberg noch eine Woche, nachdem Pilsudski die Rote Armee bei Warschau bereits vernichtend geschlagen hatte. Im Westen sprach man damals vom »Wunder an der Weichsel«, Viscount d'Abernon gar von der »18. Entscheidungsschlacht der Weltgeschichte« - das Gespenst des Bolschewismus war gebannt.
Stalin wurde daraufhin seines Postens enthoben - und er hat diese persönliche Niederlage weder Trockij noch der roten Generalität noch dem polnischen Offizierscorps verziehen. Trockijs Entmachtung erfolgte 1927, zehn Jahre später begannen die Säuberungen auch in der Armee, angefangen mit General Tuchacevskij - sie alle nun »Trotzkisten«, Verräter, Verschwörer; 1939 kam es zum Bündnis Stalins mit Hitlerdeutschland und zur vierten Teilung Polens. Zwischen dem Russisch-Polnischen Krieg und den Morden von Katyn liegen nur zwanzig Jahre: Viele der heute aufbrechenden Fragen haben ihren Grund nicht im Jahr 1945, sondern in der Nachkriegsordnung von 1918.
Babel - auch er 1940 ein Opfer Stalins - hat den Polenfeldzug miterlebt, ohne die politischen Hintergründe zu kennen. Er hat mit der 1. Reiterarmee vor Lemberg gestanden, ohne zu wissen, dass die Entscheidung im Norden längst gefallen war, aber er hat sich - als es hieß, Lemberg aufzugeben - gefragt: »Ist das Wahnsinn - oder die Unmöglichkeit, eine Stadt mit Kavallerie zu nehmen?«
2
Babel hat während des gesamten Feldzugs Tagebuch geführt: Tag für Tag, wann immer Gelegenheit war, hat er in eigenen, seismografisch genauen Beobachtungen den Krieg in allen seinen Phasen festgehalten - den Vormarsch, die Kämpfe um Brody, die vergeblichen Belagerungen, den Rückzug, »den Anfang vom Ende der Reiterarmee« bis hin zur panikartigen, heillosen Flucht.
Bei Babels Verhaftung 1939 sind alle schriftlichen Unterlagen beschlagnahmt worden, sie gelten heute als verloren. Das Kriegstagebuch von 1920, das Babel selbst schon verloren glaubte, hat in der Kiewer Wohnung einer Freundin Babels die gesamte Stalinzeit überstanden und liegt uns jetzt vor: einer der erregendsten Texte aus dem Jahre drei der russischen Revolution. Erregend nicht nur als Augenzeugenbericht eines kritischen Zivilisten, als Chronik eines Krieges aus der Perspektive nicht des einfachen Soldaten, sondern eines von Abscheu und Zweifeln geplagten Intellektuellen, der schon im Jahre drei voll Trauer »den Geschicken der Revolution« nachsinnt, sondern auch - und vor allem - als ein literarisches Dokument.
Babels Tagebuch ist das Tagebuch eines Schriftstellers, und wie man aus Äußerungen Babels weiß, hat es ihm bei der Konzeption wie bei der Niederschrift der Reiterarmee wichtige Dienste geleistet. Obwohl nie zur Veröffentlichung bestimmt, liest sich indes auch das Tagebuch als Literatur - und ist als private Chronik, als historisches Dokument mehr als nur Literatur. Unentwegt verweisen Babels Notate auf Sujets, auf Personen, Konflikte, auf Farben, »die Luft«, die zu Literatur werden könnten. »Mir merken«, »beschreiben« sind die Ausrufezeichen, die den Text fast bis zum Schluss durchziehen. Das Tagebuch hebt Babels Erzählkunst noch einmal in ein neues Licht, und es bestätigt den - seinerzeit heftig umstrittenen - Wahrheitsgehalt der Erzählungen der Reiterarmee eindrucksvoll.
Zugleich ist Babels Tagebuch ein biografisch einzigartiges Dokument. Es ist die längste zusammenhängende, auch die offenste Selbstäußerung, die wir von Babel besitzen, ein Stück Autobiografie, das so manche verzerrende Behauptung widerlegen, manche Legende über Babel wenn nicht zum Einsturz, so doch ins Wanken bringen dürfte. Im Tagebuch gibt Babel unbekümmert, rückhaltlos Auskunft über sein Denken, seine Sehweise - vor allem aber auch, noch von keiner Angst zensiert, über sein zwiespältiges Verhältnis zur Revolution, die er grundsätzlich wohl bejahte, deren Folgen ihn jedoch in unauflösliche Widersprüche stürzten. Und unmittelbare Folge der Revolution waren der Bürgerkrieg, die Verteidigung Russlands gegen ausländische Interventen - also auch der Russisch-Polnische Krieg.
Babels Tagebuch ist nicht zuletzt ein wichtiges Dokument jüdischer Kultur und jüdischer Geschichte. Es ist - unkünstlerisches Gegenstück zu Viktor Sklovskijs Sentimentaler Reise - die zuweilen wehmütige, doch weitgehend unsentimentale Beschreibung einer »Reise« durch ein Land, das es heute nicht mehr gibt, das jedoch jahrhundertelang eine eigene, besondere europäische Kulturlandschaft war: Galizien, mit den angrenzenden Gebieten Podoliens und Wolhyniens einst das größte und älteste Judenghetto Europas. Großdeutscher Rassenwahn hat dieses Land 1939 ausgelöscht, seine Bewohner in die Vernichtungslager deportiert, Stalins Russifizierungspolitik nach 1945 tat ein Übriges. Die Kultur, die Babel 1920 beschreibt, ist heute unwiederbringlich verloren.
Galizien war das Land der Kindheit Alexander Granachs, der »Wasserträger Gottes« (Manès Sperber), der »Wunderrabbis von Berditschew« (Martin Buber), der Romane und Erzählungen von Joseph Roth, der aus dem Städtchen Brody stammte, es ist das Land der unvergesslichen Zimtläden und des Sanatoriums zur Todesanzeige von Bruno Schulz - ein Land, wie Babel wusste, »gesättigt von der blutigen Geschichte des jüdisch-polnischen Ghettos« und der Pogrome an Juden, die hier, über alle staatlichen und in jeder Hinsicht willkürlichen politischen Grenzen hinweg, die Mehrheit der Bevölkerung bildeten.
»Der Friedhof von Gras überwuchert«, notiert Babel am 18.7.1920 zum Städtchen Malin, »er hat Chmelnickij gesehen, jetzt Budënnyj, die unglückliche jüdische Bevölkerung, alles wiederholt sich, jetzt diese Geschichte - die Polen - die Kosaken - die Juden - mit bestürzender Genauigkeit wiederholt sich alles, das Neue ist - der Kommunismus.«
Weder Babel noch irgendjemand in Europa konnte 1920 ahnen, was zwanzig Jahre später in Galizien geschehen würde - auch Auschwitz gehörte zu Galizien.* - Doch antisemitische Ressentiments, Babels Tagebuch belegt dies, waren auch im roten Russland weit verbreitet. Babels Pseudonym in der Armee (Kirill Vasiljevic Ljutov - der Grimmige, Grausame) war eine wohl begründete Schutzmaßnahme, keine Verleugnung seiner selbst. Während Babel sich unter Budënnyjs Kosaken, mit denen ihn nichts verband, einsam und als Fremder fühlte, suchte er »so gern das Gespräch mit den Unseren« - der jüdischen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.