Schweitzer Fachinformationen
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Meine Ohren warten auf das Geblubber und das Zischen. Ein Geräusch ist da, aber ich kann nicht sagen, ob es schon so weit ist oder noch kurz davor. Der Fernseher unserer Nachbarn singt so laut, als wäre die ganze Familie schwerhörig. Die Stimme der Nachrichtensprecherin aus unserem Wohnzimmer vermischt sich mit dem Sucuk-Lied von nebenan. Die Werbung kenne ich. Zwei Kinder kommen von der Schule und umarmen ihre Mutter. Sie sagen gleichzeitig: »Wir haben Hunger!« Die Mutter trägt eine himmelblaue Strickjacke. Sie streichelt über beide Köpfe und antwortet: »Ich habe eine Überraschung für euch!« Sie nimmt eine Packung Sucuk und zaubert eine rote Peperoni aus ihr heraus, lässt die Peperoni schweben und dann verschwinden, damit die Sucuk nicht mehr scharf ist. Sie schneidet die Wurst in Scheiben, brät sie in der Pfanne, und die Kinder hauen ordentlich rein. Die Werbung ist sowas von unsinnig. Ich meine, nie im Leben würde eine solche Frau in einer solchen Küche ihren Kindern zum Mittagessen eine Wurst braten. Da stehen Töpfe mit frischen Kräutern herum. Und da ist dieses Ding, von dem Defne, die Frau meines Onkels, seit Wochen träumt, und von dem sie mir Fotos auf ihrem iPhone zeigt unter »freistehende kücheninsel«. Eine Frau, die in einer solchen Küche kocht, bindet sich auf jeden Fall eine weiße Schürze um und arbeitet den ganzen Tag an übertrieben aufwendigen und gesunden Sachen, gefüllten Auberginen oder einer selbstgemachten Linsensuppe mit ein paar Tropfen Zitronensaft oder sowas. Vielleicht hätte ich eben beim Abendessen mit meinen Eltern doch etwas Reis nehmen sollen, mein Magen macht schon Faxen. Ich saß nur da und habe im Salat herumgestochert, damit es so aussah, als hätte ich keinen Appetit. Interessiert hat es aber sowieso keinen.
Ich stopfe mir einen halben Schokoriegel in den Mund, hebe die obere kleine Teekanne hoch und sehe, dass das Wasser in der unteren noch nicht blubbert. Als mein Handy auf der Arbeitsplatte vibriert, bebt die Teekanne kurz in meiner Hand. Ich bin so aufgeregt, dass ich nicht gleich nachschauen kann. Ich drehe das Display nach unten und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Was, wenn die Nachricht nicht von Mehmet ist? Ich fülle ein Glas, trinke es zur Hälfte aus und schütte den Rest hektisch ins Waschbecken. Sie ist von Mehmet.
hey wie gehts
Sonst nichts. Nicht einmal ein Satzzeichen.
Ich komme mir so unfassbar lächerlich vor. Den halben Tag habe ich damit verbracht, auf mein Handy zu starren, nur um diese nichtssagende Nachricht zu bekommen. Es gibt nichts, das ich mehr hasse, als warten zu müssen. Man malt sich so viele Dinge aus und weiß doch, dass man am Ende nur enttäuscht wird. Manchmal habe ich Angst, dass es mir auch so gehen wird, wenn ich Mehmet das erste Mal treffe, obwohl ich ihn ja ständig über Skype sehe und weiß, wie er aussieht. Aber in echt ist es doch immer anders. Da kommen Gerüche hinzu, Bewegungen und noch etwas, das sich nicht so leicht beschreiben lässt. Ein Funke, glaube ich.
Ich tippe: geht so. lass später reden wenn meine eltern pennen, und überlege, womit ich die Nachricht beenden soll. Gestern hat Mehmet mich gefragt, ob ich sein Baby sein will. Mich hatte noch nie jemand so etwas gefragt. Es klang oldschool und irgendwie schön: sein Baby. Wahrscheinlich hat man das so gesagt, als Mehmet jünger war und noch in Deutschland lebte. Jetzt ist er schon achtundzwanzig. »Ja, ich will dein Baby sein«, habe ich geantwortet und bin dabei ein bisschen rot geworden, weil das aus meinem Mund total gezwungen und uncool klang. Aber Mehmet hat das bei dem Licht nicht gesehen. Ich hatte nur meine Schreibtischlampe an, so wirkt meine Haut durch die Laptopkamera ganz hell, wie wenn ich mit der Fotoapp auf meinem Handy die Kontraste höher ziehe. Das mache ich eigentlich bei jedem Foto, das macht mich irgendwie schöner. ich liebe dich klingt scheiße. love you ist besser, aber dafür ist es zu früh. Ich frage mich, ab wann man das sagen darf, ohne peinlich zu sein. Ich muss einfach warten, bis er es zuerst sagt. Schon wieder warten. Scheiße. Ich hänge ein <3 an und schicke ab.
»Hazal, machst du Çay?«, ruft Mama aus dem Wohnzimmer.
»Bin dabei.«
Das Wasser blubbert jetzt ein bisschen, eigentlich müsste es große Blasen machen, aber darauf kann ich nicht auch noch warten. Ich gieße das fast kochende Wasser auf den Çay und lasse ihn ziehen. Das kleine Küchenfenster beschlägt, ich öffne es und ziehe die Plastikakkordeontür hinter mir zu. Ich schaue mich um, ob es in der Küche noch etwas zu putzen gibt, damit ich mich nicht zu denen ins Wohnzimmer setzen muss. Keine Lust auf türkische Nachrichten, Politik, tote Frauen, Gemüsepreise.
Ich kümmere mich gern um den Çay. Weil Çaykochen bedeutet, dass ich nach dem Abendessen allein sein kann. Ohne das Gefühl, jemand würde mir ständig auf die Finger schauen und nach Fehlern suchen. Ich mache immer dieselben Bewegungen, muss auf nichts achten und kann einfach der Stimme in meinem Kopf zuhören. Wenn ich bei meinen Eltern sitze, höre ich die Stimme nie. Weil ich dann ständig so tue, als wäre ich jemand anderes. Mein Blick bleibt an den Familienfotos hängen, die unter obstförmigen Magneten auf dem Kühlschrank kleben. Ich nehme das von Onurs Beschneidungsfeier und hänge es unter das von meinen Großeltern, damit ich es nicht mehr sehen muss. Mama hatte mich damals mit blauem Lidschatten geschminkt und in ein schreckliches Tüllkleid gesteckt, das mir viel zu eng war. Auf dem Bild sehe ich aus wie eine Minitranse. Ich glaube, es ist das letzte Foto, auf dem wir zu viert posiert haben. Danach gab es nie wieder einen Anlass.
Ich sprühe das Waschbecken mit zuviel Fettlöser ein, bis der ganze Stahl weiß ist, und schrubbe mit der kratzigen Seite des Schwamms die eingetrockneten Flecken aus den Ecken heraus. Ich sprühe noch mehr Fettlöser und drücke fester, schrubbe wie irre, als wären das da in der Spüle nicht Kalkflecken, sondern Gehirnflecken, die ich loswerden muss, damit mein Kopf klar wird und ich die Stimme besser hören kann. Damit sie mir sagt, wie ich an Geld komme und wie ich Mama dazu überrede, mich an meinem Geburtstag bei Elma pennen zu lassen, damit wir in den Club in der Fabrikhalle gehen können, von dem Leoni immer erzählt. Damit ich bis morgens um sieben tanzen und mich betrinken kann, ohne dass die beiden nebenan das mitbekommen.
»Siehst du, wie sie uns jetzt anbetteln! Siehst du, wie sie jetzt bei Erdogan angekrochen kommen!«, höre ich meinen Vater im Wohnzimmer schimpfen. Er sagt was von Flüchtlingen und Geld.
Meine Mutter antwortet irgendwas. Ich verstehe es nicht, aber ich bin sicher, sie stimmt ihm zu. Das macht sie eigentlich meistens.
»Das ist der erste Mann, der in der Türkei etwas bewegt hat. Und alle haben sie sich gegen ihn gewehrt«, sagt mein Vater. »Aber jetzt werden sie es aufgeben, jetzt, wo Merkel ihm die Hand schüttelt.«
Ich poliere das Waschbecken trocken, bis es glänzt. Das Thema Erdogan langweilt mich nur noch zu Tode. Erdogan hier, Erdogan da. Alle drehen immer total durch, wenn sie über den reden. Aber wen zur Hölle interessiert das eigentlich, was wir über den denken? Als hätten wir irgendwas zu melden hier im Wedding in unserer Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, können die nicht mal zur Abwechslung etwas anderes besprechen? Zum Beispiel, warum ich als fast Volljährige immer noch Ausreden suchen muss, um abends wegzugehen? Ich gieße erst ein bisschen Çay, dann heißes Wasser in die Çaygläser. In das eine kommt extra viel Wasser, das ist für Mama. Wenn der Tee zu dunkel ist, kann sie nicht einschlafen und geht mir eine Stunde länger auf die Nerven. Mein Vater kriegt den dunklen Çay, damit er fit ist und länger bei seinen Kumpels im Café abhängt. So habe ich vielleicht Zeit, um mit Mehmet zu skypen, ohne dass einer reinplatzt.
»Na endlich«, sagt Mama. »Ich dachte schon, heute gibt es keinen Çay mehr.«
Sie hängt im grauen Sessel und hat ihre Fernsehbrille auf, die sie zehn Jahre älter macht. Ihr Haar ist ordentlich zur Seite gekämmt. Mein Vater sitzt stocksteif in der Mitte des Dreier-Sofas. Er hält sich an der Fernbedienung fest, als würde sie für sein Gleichgewicht sorgen, als drohte er zur Seite zu kippen, sobald sie ihm aus der Hand rutscht. Ich beuge mich vor, um den dunklen Çay vor ihn auf den Couchtisch zu stellen. Meine Hand geht reflexartig zum Dekolleté, aber da ist es schon zu spät. Ich zucke wie eine Irre und verschütte ein bisschen Çay auf die Untertasse. Mein Vater starrt immer noch mit ausdruckslosem Gesicht an mir vorbei in Richtung Fernseher. Aber Mama hat es gesehen. Ich schaue sie nicht an, aber ich kann ihren Todesblick spüren. Er bohrt sich in meine Brust und ich weiß, wäre mein Vater nicht dabei, würde sie fragen: Warum trägst du so ein Shirt überhaupt, wenn du dich nicht darin bewegen kannst? Und wahrscheinlich würde ich nichts sagen, und denken: Es liegt nicht am Shirt, sondern an dir, verdammt.
Diese langweilige Serie mit dem Sultan und den vielen Frauen läuft wieder. Die gab es schon mal vor ein paar Jahren mit anderen Schauspielern und tieferen Dekolletés, das war viel spannender. Eigentlich ging es damals nur um Sex, es gab zwar keine richtigen Sexszenen, aber es wurde ständig davon gesprochen, wen der Sultan jetzt wieder gevögelt hatte. Darüber gab es ständig Stress zwischen den Frauen, und ab und zu rollten ein paar Köpfe. Meine Eltern standen voll darauf. Wenn die alte Sultan-Serie lief, vernichteten sie tütenweise...
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