Was Bakterien für uns leisten
Nun kann man sich fragen: Warum brauchen wir Bakterien? Weshalb kann unser Organismus nicht alles, was er benötigt, einfach in seinen Zellen, Drüsen und Organen selbst herstellen? Ist er faul oder unfähig? Nein, unser Körper ist extrem klug! Er funktioniert da wie ein Unternehmen, das »Outsourcing« betreibt, also wichtige Aufgaben an externe Dienstleister auslagert und sich dadurch schnellere und bessere Ergebnisse bei gleichzeitiger Kostenersparnis erhofft. Unser cleverer Organismus ist offensichtlich ein ziemlich guter Geschäftsmann beziehungsweise eine ziemlich gute Geschäftsfrau. Er verfügt selbst über rund 22 000 Gene. Hört sich nach viel an, ist es aber nicht. Ein Wasserfloh kann auf 30 000 Gene zurückgreifen. Deshalb müssen wir uns an Erbanlagen bedienen, die sich außerhalb unserer Zellen befinden. Wie gut, dass uns da unser »Partnerunternehmen Darmflora« mit sage und schreibe 8 Millionen zusätzlichen Erbinformationen zur Seite steht. Dadurch können einzelne Aufgaben oder sogar ganze Prozesse durch das »Drittunternehmen« im Darm erledigt werden. Billionen von Bakterien stellen mehr als ein Drittel der Moleküle und Substanzen her, die sich in unserem Blut befinden. Sie produzieren für uns Eiweißstoffe und Enzyme, die wir für die Herstellung von Herzmuskelgewebe, Hautfasern oder Hormonen verwenden können. Das zeigt, wie groß das Stoffwechselpotenzial des Mikrobioms ist. Doch die Leistung dieser Bakterienmassen fällt uns normalerweise nicht auf. Erst wenn das sensible Gleichgewicht im Darm aus dem Lot gerät, merken wir, dass etwas nicht stimmt. Denn nur ein gesundes Mikrobioms ist in der Lage, alles zu produzieren, was wir Menschen brauchen, um fit, jung und gesund zu bleiben. Experten betrachten das Mikrobiom deshalb inzwischen als eigenständiges Organ.
Wichtig für unsere Gesundheit ist nicht nur, wie viele Mikroorganismen im Darm leben, sondern vor allem, wie viele verschiedene Keimstämme vorhanden sind. Etwas verallgemeinert lässt sich sagen: »Artenreichtum im Darm ist das A und O für unsere Gesundheit.« Mithilfe eines gesunden und vielfältigen Mikrobioms arbeitet der Organismus effizienter bei geringerem Energieeinsatz. Mit der Unterstützung durch das Mikrobiom erhöht unser Körper die Reaktionsgeschwindigkeit auf äußere Veränderungen, denn Darmbakterien können sich innerhalb von Stunden auf neue Situationen einstellen. Die Flexibilität der Bakteriengemeinschaft ermöglicht es dem Organismus, sich - bis zu einem gewissen Maß - veränderten Ernährungs-, Umwelt- und Lebensbedingungen anzupassen, ohne das Gesamtsystem aus dem Gleichgewicht zu bringen. Bakterien, die Algen abbauen können, zählen etwa zum »Standardmikrobiom« bei Japanern. Bei amerikanischen Staatsbürgern sucht man sie aber in der Regel vergeblich. Dieses Beispiel zeigt die enge Wechselbeziehung zwischen Umweltfaktoren wie unserer Ernährung und der Zusammensetzung der Darmkeime. Deshalb ist es auch verständlich, dass es nicht nur das eine perfekte Mikrobiom gibt, sondern dass man mit ganz unterschiedlichen Varianten gesund und glücklich leben kann.
Unser Mikrobiom ist mindestens so abwechslungsreich und vielfältig wie das Ökosystem eines Korallenriffs.
Artenvielfalt zum Schutz der Gesundheit
Wir unterstützen Fridays for Future, verzichten auf Plastiktüten und fördern Baumpflanzaktionen, um unsere Umwelt vor weiteren Schäden zu bewahren. Inzwischen ist den meisten Menschen die Bedeutung von Artenvielfalt bewusst. Wenn wir an ein funktionierendes Ökosystem denken, dann stellen wir uns vielleicht einen lichten Mischwald mit vielen Sträuchern und Moosen vor, einen schattigen tropischen Dschungel mit seiner vielfältigen Tier- und Pflanzenwelt oder ein sonnendurchflutetes Korallenriff mit glitzernden Fischen. Ein anderes, ebenso bedeutendes und vielfältiges Ökosystem kommt wahrscheinlich den wenigsten spontan in den Sinn. Wer denkt bei einer intakten Lebensgemeinschaft schon an einen dunklen Darm, in dem sich Billionen von Bakterien in übel riechenden Verdauungsrückständen tummeln? Doch die Bakteriengemeinschaft auf unserer Haut, den Schleimhäuten und im Darm ist das komplexeste Ökosystem, das wir kennen. Im Darm gibt es viele Ecken mit unterschiedlichen Lebensbedingungen. Sowohl Keime, die Sauerstoff benötigen (aerobe Bakterien), als auch solche, die nur in einer sauerstoffarmen Umgebung leben können (anaerobe Bakterien), finden hier ihre Nische. Das Nahrungsangebot ist im Idealfall vielfältig. Auf der großen Speisekarte findet jede Mikrobe etwas, das ihr mundet - egal, ob sie Eiweiß liebt, Fett bevorzugt, am besten mit Zucker wächst oder Ballaststoffe für ihr Überleben benötigt. Bei einseitiger Ernährung wachsen und gedeihen dann allerdings nur die Keime, die mit diesem Angebot gut zurechtkommen. Wie in einem natürlichen Lebensraum in unserer Umwelt sind auch beim darm- und hauteigenen Ökosystem Ausgewogenheit und Vielfalt wichtig. Sogar sprachlich gibt es Berührungspunkte: Botaniker bezeichnen die Pflanzengemeinschaft einer Region als »Flora«. Diesen Begriff hat man früher auch für die Gesamtheit aller Mikroorganismen in einzelnen Körperbezirken gewählt: Darmflora, Hautflora oder Schleimhautflora. Heute spricht man eher vom Mikrobiom.
Multikulti braucht soziale Kontakte
Je nach Ernährungs- und Lebensweise beherbergt jeder von uns so zwischen 150 und 450 unterschiedliche Keime. Sehr ursprünglich lebende Indianerstämme weisen in ihrem Darm noch eine Artenvielfalt auf, die sich in unseren Breiten bei niemandem mehr finden lässt. Doch im Darm der meisten Menschen lassen sich derzeit ähnliche Entwicklungen feststellen wie auf dem Globus: In allen westlichen Gesellschaften wird das Mikrobiom artenärmer. Zurückführen lässt sich das unter anderem auf moderne Ernährungsgewohnheiten, medizinischen Fortschritt und unseren westlichen Lebensstil. Der Artenverlust ist inzwischen so deutlich, dass Wissenschaftler Alarm schlagen und eine Art »Arche Noah« für Mikroorganismen bauen. Es besteht nämlich tatsächlich die Gefahr, dass einige Bakterienstämme unwiederbringlich ausgerottet werden - mit derzeit noch nicht absehbaren Folgen für unsere Gesundheit. Die mehrfach erwähnte Vielfalt ist eine wichtige Eigenschaft einer gesunden Darmflora. Multikulti bereichert also nicht nur unseren Alltag, sondern tut auch dem Darm gut. Für diesen Artenreichtum braucht es aber regelmäßig Bakterienkontakte, die uns immer wieder neue Keime zuführen, und einen Lebensstil, der die Vielfalt fördert.
Unsere moderne Lebensführung ist jedoch eher geeignet, unser Mikrobiom zu schädigen und verarmen zu lassen. Wir führen ein stressiges Leben und dank sozialer Medien werden unsere realen sozialen Kontakte, bei denen die Chance zum »Bakterientausch« bestehen würde, immer weniger - und damit geht auch der Artenreichtum im Darm zurück. Wir verbringen weniger Zeit in der Natur, kommen mit Erde, Laub und Schmutz kaum noch in Kontakt. Dafür sind unsere Wohn- und Arbeitsräume hygienisch sauber und Antibiotikabehandlungen an der Tagesordnung. Auch unsere Ernährung ist in der Regel einseitiger und vor allem ballaststoffärmer und im Gegenzug zusatzstoffreicher als in früheren Zeiten.
Der Mangel an bestimmten Bakterienstämmen und die insgesamt geringere Artenvielfalt im Darm nimmt auf viele Bereiche unseres Körpers Einfluss, etwa auf das Nerven-, Hormon- oder Immunsystem. Und die moderne mikrobielle Zusammensetzung unserer Flora - egal ob auf der Haut, den Schleimhäuten oder im Darm - unterscheidet sich heute deutlich von dem, was unsere Abwehrkräfte im Laufe der Evolution kennengelernt haben und woran sie gewöhnt sind. Möglicherweise ist das ein Grund für die Zunahme von Krankheiten, die Folge von Entzündungen und einem fehlgeleiteten Immunsystem sind, was sich in Allergien, Autoimmunerkrankungen, psychischen Problemen oder auch Übergewicht und Diabetes äußert.
Über unseren Lebensstil lässt sich das Mikrobiom durchaus lenken. Welche der 1500 potenziellen Bewohner sich in und auf uns ansiedeln, hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Schon bei der Geburt werden - abhängig von der Art der Entbindung - die ersten Weichen für die zukünftige Bakteriengemeinschaft gestellt. Gestillte Babys entwickeln eine andere und gesündere Flora als Flaschenkinder. Lebt ein Hund im Haushalt, haben die Bewohner meistens ein vielfältigeres Mikrobiom. Auch das Leben auf einem Bauernhof oder in einer Großfamilie lässt unser körpereigenes Ökosystem aufblühen. Prinzipiell scheinen soziale Kontakte nicht nur unserer Psyche gutzutun, sondern Kontaktpflege ist auch gleichzeitig Mikrobiompflege. Das konnte man an Schimpansen nachweisen - es ist aber anzunehmen, dass das auch auf uns Menschen zutrifft. Denn jeder von uns verliert pro Stunde rund 1 Million Keimpartikel, die wir an unsere Mitmenschen weitergeben und so deren Mikrobiom bereichern, ebenso wie wir selbst neue, spannende Bakterien erhalten.
Auf dem ganz normalen Weg ans Licht der Welt erhält jedes Kind von seiner Mutter eine wichtige Portion hilfreicher Bakterien.
Spieler einer Sportmannschaft teilen sich sogar ein Team-Mikrobiom. Das fanden US-amerikanische Forscher von der University of Oregon heraus. Sie nahmen Keimproben von den Oberarmen verschiedener Roller-Derby-Spielerinnen. Roller Derby ist ein in den USA weitverbreiteter Sport, bei dem zwei Mannschaften auf Rollschuhen versuchen, auf einer Bahn ihren Läufer als Ersten durchs Ziel zu bringen. Körperkontakte, etwa durch Abdrängen und Anrempeln, sind ausdrücklich erlaubt. Dadurch besteht auch immer wieder die Möglichkeit des Keimaustauschs. Die...