Schweitzer Fachinformationen
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»Bin ich das wirklich? Bin ich das nicht? Was bin ich?«
Raphael »Ray« Osheroff ging im Jahr 1979 jeden Tag acht Stunden lang spazieren. Schnaufend marschierte er durch die Flure der Chestnut Lodge, eines der exklusivsten Krankenhäuser im Land. »Wie viele Kilometer werden es heute, Ray?«, fragte ihn eine Krankenschwester.1 Nach eigener Einschätzung legte er täglich knapp dreißig Kilometer zurück, in Pantoffeln. Eine andere Krankenschwester notierte, er sei oft mit jemandem zusammengestoßen, aber nehme »die Berührung anscheinend nicht einmal wahr«.
Während seiner Spaziergänge erinnerte sich Ray, der einen Schnurrbart und dichtes, schwarzes Haar hatte, an die Luxusreisen mit seiner Frau, die ebenfalls Ärztin war. Sie lebten in Northern Virginia und gingen so häufig essen, dass man sie in ihren Stammlokalen auf Anhieb erkannte. Sie waren das beliebteste Medizinerpaar im Großraum Washington, befand Ray. Die ständige Bewegung seiner Beine wurde zur »Selbsthypnose-Strategie, bei der ich mich auf das Leben konzentrierte, das ich einst geführt hatte«, schreibt Ray in seinen unveröffentlichten Memoiren.2 Er bekam so viele Blasen, dass Pfleger der Lodge ihn zur Fußpflege brachten. Seine Zehen waren dunkel verfärbt vor Schwielen.
In Rays Krankenakte steht ein Eintrag seines Psychiaters Manuel Ross, dem zufolge Ray »an einer Art der Melancholie - nicht Trauer« litt, womit er sich auf Freuds 1917 veröffentlichten Aufsatz Trauer und Melancholie bezog. Darin vertritt Freud die These, Melancholie entstehe, wenn ein Patient etwas oder jemanden betrauere, aber er »nicht deutlich erkennen kann, was verloren wurde«. Der einundvierzigjährige Nephrologe Ray hatte ein florierendes Dialyseunternehmen gegründet, aber die Geschäfte waren ins Stocken geraten und seine Fehlentscheidungen ließen ihn nicht mehr los. Ross kam zu dem Schluss, dass Ray durch das obsessive Bereuen an einem Verlust festhielt, den er nicht zu benennen imstande war: die Vorstellung von einem alternativen Leben, in dem »er ein bedeutender Mann hätte sein können«. Ray grübelte viel über die Einzelheiten seines Ruins nach, weil er sich noch immer der Realität verschloss und sich an eine idealisierte Version von sich selbst klammerte.
Oft rief Ray von einem Telefon im Flur der Lodge aus seinen Kollegen Robert Greenspan an, der in Rays Abwesenheit dessen Unternehmen leitete, und sprach mit ihm über die Entscheidungen, wegen deren er sich Vorwürfe machte. Manchmal hörte Greenspan im Hintergrund andere Patient:innen in »sonderbaren Tönen« schreien. Ein junger Mann, der durch die Flure irrte, wiederholte: »Hyperraum, Hyperraum, Hyperraum.« Greenspan, der wissen wollte, warum sich Rays Zustand offenbar verschlechterte, rief eine Sozialarbeiterin in der Lodge an. Diese erklärte, Ray »werde es zunächst schlechter gehen und das gehöre zur Therapie dazu. Seine Persönlichkeit müsse umstrukturiert werden. Dafür sei es vonnöten, etwas einzureißen und neu aufzubauen.«
Nach einem halben Jahr in der Lodge besuchte Rays Mutter Julia ihn zum ersten Mal. Bei seinem Anblick erschrak sie. Die Haare reichten ihm bis zur Schulter. Seine Hose hielt er mit dem Gürtel seines Bademantels zusammen, da er über vierzig Pfund abgenommen hatte. Früher war Ray ein leidenschaftlicher Leser gewesen, aber inzwischen schlug er kein einziges Buch mehr auf. Außerdem war er Musiker - er war Mitglied in einer Jazzband und spielte Banjo, Trompete, Klarinette, Klavier, Schlagzeug und Posaune - und hatte zwar Notenblätter eingepackt, aber so gut wie nie einen Blick darauf geworfen. Als eine Krankenschwester ihn Dr. Osheroff nannte, korrigierte er sie: »Mr Osheroff.«
Julia bat die Psychiater:innen in der Lodge, ihrem Sohn Antidepressiva zu verschreiben. Damals war der Einsatz von Psychopharmaka noch so unüblich, dass die Prämisse dieser Behandlungsform - geheilt zu werden ohne Einsicht in das, was schiefgegangen war - als kontraintuitiv oder gar billig galt. Medikamente »mögen vielleicht die Symptome lindern«, räumte Rays Psychiater Ross ein, »aber das ist nichts Verlässliches, nichts, bei dem er sagen könnte: >Hey, ich bin ein besserer Mensch. Ich kann Gefühle zulassen.<« Ross war der Ansicht, Ray suche bloß ein Medikament, das ihm »seinen früheren Status zurückbrachte«, eine Errungenschaft, die Ross zufolge ohnehin immer eine Illusion gewesen war.
Es gab eine Zeit, da hatte die Lodge das Flair einer Südstaaten-Plantage gehabt. Das Hauptgebäude, ein herrschaftliches Backsteinhaus, war das ehemalige Woodlawn Hotel, das schickste Resort in Rockville, Maryland, das gut betuchte Gäste aus dem dreißig Kilometer entfernten Washington, D. C., empfing. Das im French-Revival-Stil erbaute Haus hatte ein schiefergedecktes Mansarddach, sechs Schornsteine und etwa achtzig weiß gerahmte Fenster. Um das Gebäude herum verteilt standen auf rund vierzig Hektar Grund im Schatten von zwanzig Meter hohen Bäumen Bungalows im Kolonialstil.
Die Lodge wurde 1910 von einem Arzt namens Ernest Bullard gegründet3, zwanzig Jahre später übernahm sein Sohn Dexter das Familienunternehmen und machte daraus eine Einrichtung, in der Ärzt:innen meinten, endlich die Geheimnisse der Seele entschlüsseln zu können. Dexter war im ersten Stock des Krankenhauses aufgewachsen und hatte mit den Patient:innen Krocket und Baseball gespielt. »Den Psychotiker kannte ich als Menschen, lange bevor mir das Wort >Patient< überhaupt ein Begriff war«4, sagte er. Die Vorstellung, dass man Patient:innen nicht mit Empathie begegnen könne, »wurde einfach nie Teil unserer Erfahrung«. Er empfand es als frustrierend, wenn man sie »mit Etiketten versah und ins Regal einsortierte«.
Nachdem Dexter in der väterlichen Bibliothek Freud gelesen hatte, fasste er den Entschluss, die Chestnut Lodge werde etwas leisten, das bislang kein anderes amerikanisches Krankenhaus geleistet hatte: alle Patient:innen zu psychoanalysieren, egal wie weit sie der Realität entrückt waren (vorausgesetzt, sie konnten sich die Behandlung leisten). Die Lodge werde »alle therapeutischen Hebel in Bewegung setzen«5. Sein Ziel war es, eine Einrichtung nach dem Vorbild einer Psychoanalysepraxis zu schaffen.6 »Noch wissen wir nicht genug, um sagen zu können, warum Patienten krank bleiben«7, sagte er 1954 zu einem Kollegen. »Solange wir das nicht wissen, steht es uns nicht zu, sie als chronisch krank zu bezeichnen.«
Sämtliche Gespräche und Aktivitäten der Lodge hatten dasselbe Ziel: Verstehen. »Kein in der Klinik verwendetes Wort ist stärker mit emotionaler Bedeutung aufgeladen oder hat eine schwerer greifbare, kognitive Tragweite«8, schreiben der Psychiater Alfred Stanton und der Soziologe Morris Schwartz in The Mental Hospital, einer 1954 veröffentlichten Studie über die Lodge. Die Hoffnung, durch Einsicht in zwischenmenschliche Beziehungen »wieder gesund zu werden«9, wurde beinahe zu einer eigenen Religion erhoben. »Was in der Klinik stattfand«, so die Autoren, »war eine Art kollektive Evaluation, der zufolge eine Neurose oder Krankheit das Böse und geistige Gesundheit das ultimative Gute war.«10
In anderen Krankenhäusern wurden Patient:innen mit Barbituraten, also Beruhigungsmitteln, sowie Elektrokonvulsionstherapien und Lobotomien behandelt. Dexter hingegen war der Ansicht, dass »Pharmakologie in der Psychiatrie nichts zu suchen hat«.11 Als einer von Dexters Kolleg:innen auf einem Ärztekongress berichtete, er habe an einer Patientin eine Lobotomie vorgenommen und sie innerhalb von zehn Tagen geheilt, erhob Dexter Einspruch gegen diesen Behandlungsansatz, für den keinerlei Selbsterkenntnis nötig war. »Das können Sie so nicht behaupten!«12, rief er.
Die »Königin der Chestnut Lodge«13, wie sie genannt wurde, war Frieda Fromm-Reichmann, Mitgründerin des Frankfurter Instituts für Psychoanalyse, die auf dem Gelände der Lodge in einem eigens für sie gebauten Cottage lebte. Manchmal lud sie ihre Patient:innen zum Mittagessen in einen Landgasthof ein oder besuchte mit ihnen eine Kunstgalerie oder ein Konzert. Häufig ahmte sie ihre Körperhaltung nach, um sich besser in ihre Perspektive hineinzuversetzen. Die Sätze »Das wissen wir« und »Ich bin hier« - zum richtigen Zeitpunkt und in einem ...
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